Читать книгу Die Masken des Todes - Catherine Hunter - Страница 6
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ОглавлениеKelly träumte von James, als es an der Tür klingelte. Langsam löste er sich in Luft auf und zeigte dabei seinen vernarbten Körper. Sein Hals war nach hinten gebogen und die Arme baumelten schlaff herunter. Die Sonne strahlte herab, bleichte seine Haut, blendete Kelly. Sie sah, wie er den Kopf hob. Er bewegte die Lippen, sprach mit ihr.
»James!«, rief sie. »Was sagst du?«
Sie hörte ihre eigene Stimme. Sie war hellwach. Und doch bewegte James sich weiterhin, sein Körper wurde immer durchsichtiger, bis sie durch ihn hindurch sehen konnte. Dann war er fort. Sie starrte auf die Risse in der Zimmerdecke. Wieder ertönte die Hausglocke.
Wie in einem Nebel machte sie die Tür für Angel und Alex auf.
»Hi, Tante Kelly!« Alex warf die Arme um ihren Hals und küsste sie, erst auf die eine Wange, dann auf die andere. Ein Begrüßungsritual, das sie ihm beigebracht hatte, als er zwei gewesen war, und das er nie vergaß.
Alex setzte sich auf seinen Lieblingsplatz neben dem Regal mit den bunten Holztieren, die James geschnitzt hatte. Alex spielte gern mit ihnen, ließ sie essen, schlafen, Wettrennen und Kämpfe austragen.
Kelly und Angel gingen in die Küche, und Kelly setzte einen starken Kaffee auf. Sie musste die Traumfetzen verscheuchen, die sie noch immer vor Augen hatte. Als sie sich von Angel abwandte, hörte sie das Kratzen eines Streichholzes und roch dann den starken, unverkennbaren Geruch von Marihuana.
»Angel! Alex ist hier!«
»Dann blas ich den Rauch halt nach draußen«, erwiderte Angel. Sie zog das Fenster einen Spalt auf und lehnte sich mit der Stirn an das Glas. »Darl hat erzählt, in der Galerie sei eingebrochen worden?«
»Ja, armer Sam.«
»Aber ihr habt euch gut amüsiert?«
»Es war in Ordnung.«
Angel lächelte. »Es ist schön, dass ihr zusammen ausgeht. Endlich!«
»Nun, oft ist das nicht der Fall.« Kelly schenkte zwei Tassen ein und nahm gegenüber ihrer Schwester Platz. »Seitdem ich wieder zu arbeiten begonnen habe, sehe ich Darl – oder Alex – nicht mehr viel.«
Angel nahm einen letzten Zug und zerdrückte den Joint dann zwischen den Fingern. »Ihr zwei solltet euch zusammentun«, meinte sie.
Kelly seufzte. Das hörte sie nicht zum ersten Mal.
»Ich meine es wirklich so«, sagte Angel. »Worauf wartest du?«
»Angel, er ist mein Schwager!«
»Nicht mehr.«
»Es wäre nicht richtig.«
»In meinen Augen schon!« Angel zuckte mit den Achseln. »Das, was ihr beide durchgemacht habt, sollte euch zusammenschweißen. James würde es wollen.«
Was wusste Angel schon davon, was James wollen würde?, fragte sich Kelly. Angel wusste ja nicht mal, was sie selbst wollte. Wusste nicht mal, wie man was wollte, bloß, wie man etwas brauchte – einen Drink, eine Marihuanazigarette, einen Streit mit Paul.
Sie beobachtete, wie sich ihre Schwester an der trockenen Ellbogenhaut kratzte und mit den Händen durchs streichholzkurze Haar fuhr. Sie erinnerte sich an die Zeit, als Angels Haar lang und dicht gewesen war. Rotblond. Ein blasser Abklatsch des mütterlichen Haars, wie Angel überhaupt ein blasser Abklatsch ihrer Mutter gewesen war.
Maggie Quirk.
Kelly konnte sie noch immer genauestens beschreiben, obgleich sie sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Als Kind hatte Kelly vor Hotels gestanden und ihre Mutter immer und immer wieder beschrieben: den Brooklynakzent, das rötlich braune Haar, das flammengleich über die sommersprossige Stirn fiel, die etwas geröteten Wangen, als hätte sie Fieber. Haben Sie sie gesehen? Könnten Sie sie bitten, mal rauszukommen?
Wenn Maggie da war, kam sie gewöhnlich auch raus. Sie stand dann auf der Türschwelle, blinzelte, geblendet vom Sonnenlicht, und Kelly bat sie um einen Gefallen. Maggie gab ihr Geld für Lebensmittel oder unterschrieb eine Mitteilung der Schule und verschwand wieder in das kühle, dunkle Gefängnis des Pubs. Und Kelly ging in die Wohnung zurück, zum Saubermachen, zum Kochen. Zu Angel.
Arme, süße Angel. Kelly betrachtete ihre Schwester, die zum Fenster hinaus auf den ersten Schneefall des Jahres blickte. Die großen, weißen Flocken schwebten langsam durch die Luft. Als Kind hatte Angel den Schnee geliebt, hatte vor Entzücken in die Hände geklatscht, wenn es schneite. Aber nun war kein kindliches Staunen in ihrem Gesicht. Nun beobachtete sie die Schneeflocken mit einem trägen, hypnotisierten Ausdruck, einem leeren Blick.
Alex kam in die Küche und zerriss damit die Stille.
»Kelly, wo ist der Drache?«
»Der müsste bei den anderen sein.«
»Ist er aber nicht! Und dabei ist er meine Lieblingsfigur!«
Also sahen sie nach. Aber der kleine grüne Drache mit dem stacheligen Schwanz und den mit Schwimmhäuten versehenen Flügeln blieb verschwunden.
Kelly befragte Alex, vielleicht ein bisschen scharf. Hatte er ihn mit rausgenommen? Hatte er damit im Garten gespielt? Aber Alex blieb eisern. Er hatte den Drachen nie irgendwohin mitgenommen, sagte er. Es war Kelly schon aufgefallen, dass der Tiger fehlte, und auch das kleine gescheckte Pferd. Es schien, als seien bei jedem Abstauben der Menagerie weniger Tiere vorhanden. Nun der Drache. James’ Lieblingstier.
»Na, mach dir keine Sorgen. Er wird schon wieder auftauchen«, sagte sie.
»Er taucht dann wieder auf, wenn du es am wenigsten erwartest«, meinte Angel.
Alex fand sich damit ab, mit den weniger exotischen Tieren zu spielen, und die Schwestern gingen wieder in die Küche.
»Wie geht’s Paul?« Kelly versuchte, das Thema zu wechseln.
»Er ist verrückt«, erwiderte Angel. »Wird immer verrückter.«
Kelly dachte eine Weile darüber nach. »Gewalttätig?«
»Nein, bloß ... sonderbar.« Angel sah Kelly an. »Weißt du, was er gemacht hat?«
»Was denn?«
»Er hat eine Pistole gekauft.«
»O Gott! Wofür denn um Himmels willen?«
»Er sagt, er würde Eindringlinge hören. Nachts. Sagt, jemand habe es auf ihn abgesehen – oder auf mich.«
»Das ist gefährlich«, sagte Kelly. »Er könnte damit aus Versehen jemanden erschießen. Du meine Güte, er könnte dich erschießen!«
Angel lachte. »Er ist davon überzeugt, dass wir Schutz brauchen. Weißt du, was er gesagt hat?«
»Was denn?«
»Er hat gesagt, als er, na du weißt schon, als er selber noch Einbrecher war, hätte er nie eine Waffe benutzt. Aber heutzutage haben sie alle eine – Kids mit Messern, die durchs Fenster steigen. Dein Freund Sam hätte bei dem Einbruch umgebracht werden können!«
»Man muss sich schützen, das stimmt schon«, sagte Kelly. »Aber eine Pistole!«
»Weiß schon. Immer verrückter.« Angel zog einen roten Faden aus der Tischdecke und wickelte ihn so fest um den Finger, dass der Fingernagel weiß wurde. Kelly betrachtete die zerfransten Nagelhäute, die Niednägel, und ihr Anblick machte sie zornig.
»Tja«, sagte sie. »Ich muss jetzt los. Sam möchte, dass ich ihm in der Galerie beim Aufräumen helfe. Bringst du Alex nach Hause?«
»Japp. Darl ist um drei fertig. Macht’s dir was aus, wenn wir solange hier bleiben? Paul ist heute furchtbar mies drauf.«
»Nein, kein Problem«, sagte Kelly. »Natürlich.« Sie müsste mit Darl darüber sprechen, und zwar bald. Alex würde dann nicht mehr zu Angel gehen dürfen. Garantiert würde Darl es nicht erlauben, dass Alex auch nur in die Nähe einer Schusswaffe kam.
Beim Anlassen des Autos lächelte Kelly, als sie an Darls ernste Einstellung zur Vaterschaft dachte. »Mr. Verantwortungsvoll« hatte James ihn immer genannt. Und das passte. Darl hatte Alex allein großgezogen und seine Sache gut gemacht, obgleich er es nicht leicht gehabt hatte. Als Diane ihn verließ, hatte Darl notgedrungen das Medizinstudium abbrechen müssen. Nun sah er zu, wie er seinen Job in der Klinik, die Abendkurse in Pharmazie und, dachte sie schuldbewusst, Hunderte von kleinen Erledigungen für sie und Angel unter einen Hut brachte. Aber er hatte alles im Griff und trotzdem noch Zeit für seinen Sohn. Alex gedieh, er war gesund und glücklich. Und er war so brav, dass es fast schon nicht mehr normal war. Es gab nicht viele Männer, die liebende Vollzeitväter sein konnten. Oder falls doch, dann kannte Kelly sie nicht.
Ihren eigenen Vater kannte sie nicht, sah man von den Erzählungen Maggies ab, die sich einzig um sein blendendes Aussehen, die blauen Augen und das rabenschwarze Haar drehten, das Kelly geerbt hatte. Und die Erinnerung an Angels Vater verblasste auch immer mehr, verschwamm mit denen von Maggies anderen Freunden. Angels Vater hatte ihrem Leben seinen Stempel aufgedrückt, indem er mit ihnen von New York nach Winnipeg gezogen war – und dann verschwand.
Das einzig verlässliche männliche Wesen in ihrer Kindheit war Darl gewesen. Darl war Maggies einziger treuer Bewunderer. Vom ersten Augenblick an hatte er sie geliebt, als er mit elf auf dem Gehsteig vor ihrem Wohnblock einen Salto von seinem Fahrrad gemacht hatte. An diesem Tag war Maggie nüchtern und gut gelaunt gewesen. Ihr Haar schien rotgolden im Sommerlicht, als sie sich über den kleinen Jungen beugte, sein aufgeschürftes Knie mit ihrem Schal umwickelte und ihn für seine Tapferkeit bewunderte.
Von nun an war er häufig bei ihnen zu Gast, half Maggie beim Wäscheaufhängen, fegte im Winter den Schnee von den Stufen, begleitete die Mädchen zur Schule.
Als er in die Highschool ging, blieb er manchmal über Nacht bei ihnen, wenn Maggie abging. Kam sie dann betrunken heim, war es Darl, der mit ihr sprach, ihr ins Bett half, ihren unzusammenhängenden Leidensgeschichten lauschte. Durch die Wand ihres Zimmers, wo Kelly neben Angel lag und sie tröstete, konnte sie ihre Stimmen hören, Maggies scharfe, bittere Beschwerden und Darls sanfte Antworten. Morgens fand sie Darl dann schlafend auf dem Sofa, die sonst so makellosen Kleidungsstücke hoffnungslos zerknittert.
Schließlich hatte sich Darls Vernarrtheit in Maggie in Mitleid für sie verwandelt. Aber den Mädchen blieb er treu ergeben. Obgleich nur zwei Jahre älter als Kelly, wachte er mit väterlicher Besorgnis über sie und Angel, und dafür waren sie ihm dankbar. Er verbrachte fast genauso viel Zeit bei ihrer Familie wie bei seiner.
Kelly hatte das erst verstanden, als sie Darl zu Haus besuchte, in einem dunklen, kleinen Bungalow am Ende der Straße hinter der Kathedrale. Nun drosselte sie das Tempo, als sie auf dem Weg zur Brücke daran vorbeikam. Da war die windschiefe Veranda, auf der Adam gestanden und seine übel riechenden Zigarren geraucht hatte. Da war der Werkzeugschuppen, dessen verkohlte Wände noch immer standen.
Sie drückte aufs Gas. Darl hatte Recht. In der Vergangenheit zu leben hatte keinen Sinn. Aber sie konnte die Erinnerung an den einen Nachmittag, als sie in dem Garten zum ersten Mal ihren künftigen Mann erblickt hatte, nicht abschütteln. Es war ihr erster Schultag in der vierten Klasse, und sie wartete auf Darl. Sie musterte die Spinnweben, die über die Fensterscheiben des Werkzeugschuppens gesponnen waren. Davon schien es Hunderte zu geben, uralt und wolkig und so fest wie gesponnene Baumwolle. Inmitten der dichten Lagen lag ein mumifizierter Grashüpfer auf dem Rücken, als würde er sich in einer Hängematte ausruhen, die Beine über der Brust gefaltet. Fasziniert trat sie näher und stieß dann, durch eine plötzliche Bewegung hinter der Scheibe erschreckt, einen Schrei aus. Eine kleine Hand hob den Rupfenvorhang des Schuppenfensters. Hinter der schmutzigen Scheibe erschien ein dunkles Gesicht und verschwand wieder.
»Wer war das?«, wollte sie von Darl wissen, als er aus dem Bungalow trat.
»Das ist mein Bruder James«, sagte Darl, während sie sich vom Haus entfernten. Er warf einen Blick über die Schulter nach hinten, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte. »Er hat Hausarrest.«
Im Lagerraum der Galerie sah es schlimmer aus, als Kelly erwartet hatte. Sam, Lila und etliche ihrer Freunde, einschließlich Joe Delany, standen im Eingang und betrachteten die Bescherung. Kisten waren umgeworfen und aufgerissen, Gemälde aus den Regalen gezerrt und im Raum verstreut worden.
»Jesses, Maria und Josef!«, sagte Kelly, als sie eine Staffelei aufstellte und darunter eine ramponierte Madonna aus Pappmaschee zum Vorschein kam. »Wurde irgendwas mitgenommen?«
»Das wissen wir noch nicht«, seufzte Lila. »Nach dem Aufräumen kommt die Inventur. Bloß, wo anfangen?«
Einen Moment starrten alle auf das Durcheinander. Dann langte Sam hinüber und ergriff das andere Ende der Staffelei, die Kelly hielt.
»Wir können genauso gut damit anfangen«, sagte er.
Sie wandten sich der Pappmascheefigur zu. Ihr Kopf war eingedrückt, und eine Hand baumelte herab.
Eine Zeitlang arbeiteten alle stumm vor sich hin und stießen gelegentlich einen Fluch aus, wenn ihnen wieder etwas Zerstörtes in die Hände fiel.
»Wer macht so was bloß?«, wunderte Kelly sich laut.
»Irgendein neidischer Künstler?«, schlug Joe vor.
»Und wozu?«, fragte Sam. »Um zu versuchen, die Geheimnisse meines Erfolges zu ergründen? Ha!«
»Vermutlich irgendein Verrückter«, mutmaßte ein anderer. »Hat es ohne Grund getan – aus Wut auf die Welt.«
»Kids«, meinte Lila. »Kaum ist Halloween, schon schlagen sie alles kurz und klein.« Sie stöhnte. »Die viele Arbeit!«
Es war schon später Abend, als Sam die Liste der fehlenden Gegenstände schließlich fertig hatte, und sie war erstaunlich kurz. Es fehlten zwei Schmuckschatullen, die Kleingeldkasse und ein paar Zeichnungen. James’ Zeichnungen.
»Die Bilder, die er von dem schiefen Haus gemalt hat«, sagte Sam. »Weißt du noch, Lila? Diese Reihe, an der er gearbeitet hat, bevor er ...« Er verstummte, als er sich daran erinnerte, dass Kelly dabeistand.
Aber Kelly wusste, was für Zeichnungen er meinte. Ein windschiefes Haus, dessen Vorderseite wie bei einem Puppenhaus offen stand. Eine Dämonenhand schlängelte sich wie eine Flamme über das Dach und suchte zwischen den schiefen Möbeln herum. Zwei kleine, verzerrte Figuren kauerten unter der Treppe. Die besten Zeichnungen, die ihr Mann in seinem kurzen Leben gemacht hatte.
»Ich muss gehen«, meinte Kelly. »Bin müde.«
»Ich fahr dich«, bot Joe an.
»Danke«, sagte Kelly. »Aber ich bin mit dem Wagen da.«
»Ruf mich wegen Hamlet an«, erinnerte sie Lila.
»Mach ich«, versprach Kelly.
Sam brachte sie zum Auto. Vor dem Haus erkundigte er sich, wie es ihr gehe.
»Gut«, erwiderte sie, unsicher, ob das stimmte oder nicht.
»Es dauert lange.« Er berührte ihre Schulter. »Tut mir Leid wegen der Zeichnungen. Aber weißt du, es wird immer Dinge geben, die ihn dir wieder in Erinnerung rufen.«
Stimmt, dachte Kelly. Wie das Atmen.
»Wir vermissen ihn alle«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Die Heilung wird fortschreiten, Kelly. Glaub mir. Du kannst es dir nicht vorstellen, aber so wird es sein. Das Hirn ist eine wundersame Maschine.«
»Es ist eine gefährliche Maschine«, wandte sie ein. »Manchmal ...«
Er wartete. »Was?«
Eigentlich hätte Kelly sich gern ausgesprochen, doch etwas hielt sie zurück. Es war nicht nur, dass James nicht mehr da war, es war alles. Die Stille in der Telefonleitung, die Träume, die keine Träume waren, die Art, wie James’ Sachen sich in nichts auflösten, als würden alle Beweise seines irdischen Lebens verschwinden.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Das Hirn kann einem auch manchmal was vorgaukeln, weißt du?«
»Ich weiß. Du meinst James?«
»Nun, sein Hirn – aber mir meines bisweilen auch. Manchmal habe ich Angst.«
»Das geht uns doch allen so«, sagte Sam leise. Aber das war ein schwacher Trost.
»Danke, Sam. Bis bald!«
In gemächlichem Tempo fuhr sie nach Hause. Was in aller Welt ging vor sich? Waren James’ Zeichnungen so wertvoll, dass jemand sie stahl? Er war so jung gestorben. Bestimmt waren sie nicht besonders wertvoll. Wer würde sie schon wollen, außer Sam oder sie selbst?
Oder James.
Wenn sie Sam das erzählte, würde er denken, dass sie wieder durchdrehte.
Sie ging den dunklen Bürgersteig entlang und betrat das Haus, fühlte sich sehr allein. Es gab niemanden, mit dem sie reden konnte. Niemanden, dem sie davon erzählen konnte. Sie dachte an jenen mumifizierten Heuhüpfer, der in seinem transparenten Leichentuch schwang. Sie stellte sich vor, wie sie selbst dort schwebte, gelähmt, und sich das dichte, weiße Netz langsam um ihre Kehle schloss.
Es war schon lange her, dass er so vor ihrem Haus gestanden und hineingesehen hatte. Er sah, wie in der Diele das Licht anging, dann im Wohnzimmer, schließlich in der Küche. Sie hatte die Angewohnheit, in jedes Zimmer zu spähen, wenn sie heimkam, vor allem nachts. Vor allem, wenn sie in aufgelöstem Zustand war. Und in letzter Zeit war sie das ziemlich häufig.
Sie machte die Lampe im Schlafzimmer an, die einen sanften, roten Schein verbreitete. Er sah, wie sie auf den Schrank zuging, dass etwas auf ihrem Bett lag.
Wahrscheinlich ein Nachthemd. Sie ging ins Badezimmer, und er wartete.
Im Warten war er gut. Das sollte er auch. Inzwischen sollte er ein wahrer Experte darin sein. Ein Zenmeister. Er lachte in sich hinein. Meister des Nichts, Meister der Abwesenheiten. Der Stille und der Schatten. Des Verschwindens.
Das Badezimmerlicht erlosch, dann das Wohnzimmerlicht. Sie wanderte durchs Haus, schaltete ein Licht nach dem anderen aus. Nichts außer dem Schein der roten Nachttischlampe. Sie zog ihren Pulli aus und knöpfte ihre Bluse auf, hielt dann aber inne. Sie ging ans Fenster und zog die Vorhänge zu. Er konnte nichts mehr sehen.
Er wartete, bis auch ihr Schlafzimmerlicht ausging. Dann seufzte er. Er wünschte, er könnte heimgehen und schlafen, aber das ging nicht mehr. Er war zu einer Kreatur der Nacht geworden.
In dem Traum stand James groß und nackt in der Sonne. Sie konnte ihn deutlich erkennen, obgleich er weit über ihr auf einer Felsenklippe hoch über den Wolken stand. Die Sonne schien ihm auf die Schultern, und dann setzte er plötzlich zum Sprung an, und sie stürzte mit ihm hinab, und sie war wach, das Herz schlug ihr bis zum Hals, Blut rauschte ihr in den Ohren, sie setzte sich aufrecht und starrte in die Dunkelheit.
Ja, das Hirn war eine wundersame und gefährliche Maschine. Obgleich sie James nie an der Kante jener Klippe gesehen hatte, hatte sie das Bild so klar vor sich wie eine Fotografie. Den Wald, den Fluss, die Felsen.
James kompakter, muskulöser Körper.
Noch immer fühlte sie sich zu diesem Körper hingezogen. James hatte harte, drahtige Arme und starke Hände, die einen Baseball werfen oder anmutig auf einer Gitarre klimpern konnten. Sie hatte ihn wahnsinnig gern berührt, jeden Zentimeter seines Körpers erforscht, während er ihr die Geschichte jeder Kindheitsnarbe erzählte, die vier kleinen Kreise auf seinem Bauch, wo er auf einen Gartenrechen gefallen war, die Streifen auf seinem Rücken, wo die Äste ihn geschrammt hatten, als er vom Holzapfelbaum fiel. Sie berührte seine Augenlider, sein Schlüsselbein, die Knöchel, den hohen Rist seines Fußes ...
Kelly langte zur Nachttischlampe und knipste sie an. Warum ließ die Vergangenheit ihr keine Ruhe?
Weil James im Juni vor einem Jahr seinen Körper fortgeworfen hatte, als besäße er ihn, als gehöre er ihm und er könne sich seiner nach Wunsch entledigen.
Sie lag in ihrem leeren Bett und erinnerte sich an die schrecklichen Ereignisse der Zeit, als James sie verlassen hatte.