Читать книгу Ein undurchsichtiger Gentleman. - Catherine St.John - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеAnnabelle sah sich fasziniert um, als John seine Damen in eine Loge mit gutem Blick auf die Bühne geleitet hatte. „Wie riesig das alles ist! Und so viele Menschen! Und die Damen gegenüber, schaut doch nur!“
„Annabelle!“, zischte Lady Horbury. „Wehe, du zeigst noch mit dem Finger auf die Damen! Setz dich und kommentiere ihr Aussehen leise hinter deinem Fächer, wie es sich gehört!“
Ihre Tochter gehorchte und John klärte sie freundlicherweise auf: „Die Dame in Purpur ist eine Mrs. Templeton. Sie hat vor einigen Jahren ihren Gemahl verloren und ist nun eine recht wohlhabende Witwe.“
„Woher weißt du das alles?“, wollte Annabelle wissen.
„Auch im Club blühen Klatsch und Tratsch. Es dürfte einige Herren geben, die sich da Hoffnungen machen…“
Lady Horbury linste betont diskret über den Rand ihres Fächers. „Der Geschmack der Dame lässt allerdings zu wünschen übrig – und wie kann man zu so zarten Farben einen Purpurton wählen? Das macht doch totenblass!“
Annabelle warf ebenfalls einen vorsichtigen Blick auf die Dame, die sich mit einer silbergrau gekleideten Begleiterin unterhielt: goldblonde Locken, helle Augen, ein klassisch englischer Teint. Sie musste ihrer Mutter Recht geben.
„Ein nicht zu kräftiges Saphirblau wäre eine bessere Wahl gewesen“, schlug sie also vor und erntete ein Handtätscheln. „Meine Tochter! Du hast meinen unfehlbaren Blick für Farben geerbt.“
Annabelle kicherte. „Außer in diesem Paradies-Geschäft, nicht wahr?“
„Dieses unsägliche Rosa? Nun gut, das kann auch an den wirklich schmutzigen Fenstern gelegen haben…“
Dass ihre Mutter heute so großzügig war? Kein Tadel, keine hochgezogenen Augenbrauen – außer beim Betreten der Loge?
Die Saaldiener löschten langsam die Beleuchtung und Annabelle fixierte erwartungsvoll den Vorhang, ohne dass der Lärm im Parkett wesentlich leiser geworden wäre.
Dennoch waren die turbulenten Ereignisse auf der Bühne verständlich genug, um Annabelle gänzlich zu fesseln. Lady Horbury und ihr Sohn betrachteten ihr niedliches Profil mit dem aufgeregt geöffneten Mund gerührt und lächelten, als der Vorhang zur Pause fiel und Annabelle sich ihnen zuwandte: „Ob der Prinz erkennen wird, dass diese Frau böse ist? Ich bin ja schon so gespannt, wie es weitergeht!“
„Ich verrate es dir nicht“, schmunzelte ihre Mutter.
„Ja, weißt du es denn?“
„Natürlich – ich habe dieses Drama schon einmal gesehen. Komm, wir lassen uns Erfrischungen bringen!“
John stand schon in der Tür, um einen Lakaien herbeizurufen – zwei Gläser Champagner und ein Glas Mandelmilch.
Annabelle war kurz davor, zu schmollen, weil sie keinen Champagner bekam, aber als John sie breit angrinste, beschloss sie, es doch zu lassen. Wer wollte schon immer als Küken abgetan werden? Aber Stephen würde ihr sicher Champagner gestatten, wenn sie erst einmal verheiratet waren! Stephen würde ihr überhaupt alles gestatten, da war sie ganz sicher!
Nur noch wenige Wochen…
„Da ist dieser Mensch doch schon wieder!“, stellte ihre Mutter ohne Begeisterung fest.
„Welcher Mensch?“, fragte John mit mäßigem Interesse.
„Der junge Mann, den wir gestern Abend im Speisesaal kennengelernt haben. Heute ist er uns übrigens schon wieder in den Weg getreten.“
„Vielleicht verfolgt er uns“, schlug Annabelle vor und nahm ihr Glas Mandelmilch entgegen.
John lachte. „Und warum sollte er das tun? Aber vielleicht gefällst du ihm ja…“
„Wir haben doch gestern schon verkündet, dass wir wegen Belles Trousseau hier sind“, wandte Lady Horbury ein. „Ich denke, es war nur Zufall. Vielleicht wollte er sich auch nur bei Gunter´s erfrischen. Das hatten wir schließlich auch gerade getan.“
„Möglich“, murmelte John und trank einen Schluck Champagner. „Ich wüsste auch nicht, warum er euch verfolgen sollte, wenn Annabelle praktisch schon unter der Haube ist und er nicht versucht hat, euch zu berauben. Oh, es scheint weiter zu gehen!“
Tatsächlich wurden die Kerzen wieder gelöscht und Annabelle beugte sich wieder vor, um auch nichts zu verpassen. Atemlos verfolgte sie die turbulenten Aktionen auf der Bühne und erschrak bei jeder Verwicklung, die die Liebenden zu trennen drohte, bis sie schließlich glücklich aufseufzte, als sich die beiden in den Armen lagen, während der Vorhang langsam fiel.
„Jetzt ist alles gut!“, murmelte sie zufrieden. „Ein herrliches Stück!“
„Ja, aber eben nur ein Stück!“, kommentierte John, dem es an Empfindsamkeit doch sehr mangelte. „Vergieß keine Tränen über Leute, die es nur auf dem Papier gibt!“
„Aber das ist doch ein so schönes Gefühl“, wandte Lady Horbury ein. „Und ein Drama, das so zu rühren versteht, ist auf jeden Fall sehr gut geschrieben!“
John brummte und spähte ins Parkett. „Tatsächlich, da unten steht er, dieser Sir Ernest. Nun, das kann auch Zufall sein, schließlich ist das Theater heute sehr gut besucht. Warum sollte er nicht ebenfalls hier sein? Immerhin besser als eine Spielhölle aufzusuchen – auch wenn er es sich wohl leisten könnte, sein Vater soll ausgesprochen reich sein.“
„Wir werden ja sehen, ob wir ihn im Foyer treffen, wenn wir auf unseren Wagen warten“, meinte Lady Horbury friedlich.
Im Foyer unterhielten sie sich halblaut über Belanglosigkeiten und Annabelle hielt tatsächlich so diskret, wie sie vermochte, nach diesem Sir Ernest Ausschau. Schließlich entdeckte sie ihn, er kehrte ihr halb den Rücken zu, so dass sie sein wirklich hübsches Profil bewundern konnte, und unterhielt sich mit zwei anderen jungen Herren – Gentlemen? Der Kleidung nach gewiss. Hastig studierte sie die Besucher auf der anderen Seite – oh! Die Dame in Purpur, die im Licht der Lüster ganz besonders blass wirkte, aber wirklich wunderbar zarte Gesichtszüge hatte. Sie musste noch recht jung sein! Und die Dame in Silbergrau war wohl ihre Gesellschafterin?
Der Wagen der Horburys wurde aufgerufen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Annabelle noch, dass Sir Ernest sich nicht umwandte, obwohl er den Namen doch gehört haben musste. Eine merkwürdige Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung breitete sich in ihr aus, als sie Mutter und Bruder nach draußen folgte und im Licht der Gaslaternen in den Wagen stieg.
„Haben wir eigentlich noch viel in London zu erledigen?“, fragte sie also aus dieser Stimmung heraus und prompt runzelte ihre Mutter die Stirn. Annabelle konnte das im Dunkel des Wagens zwar nicht sehen, aber der eindeutig verschnupfte Ton verriet ihr genug: „Gefällt dir nicht, was wir dir hier bieten?“
„Doch, natürlich, sehr sogar“, beeilte sie sich sofort zu versichern, „auch das Theaterstück war ausgesprochen amüsant. Und heute haben wir doch wirklich wundervolle Dinge eingekauft.“
„Was stört dich denn, Belle?“, fragte John mit sanfter Stimme, die sie an die Zeiten erinnerte, als er sie noch wegen aufgeschlagener Knie oder weggelaufener Kätzchen getröstet hatte.
„Ich kann es nicht so recht sagen“, gab sie zu, „aber ich habe ein unheimliches Gefühl…“
Lady Horbury schnaubte auf unnachahmlich damenhafte Weise. „Unheimlich? Kind, das ist albern! Was soll hier unheimlich sein? Eins der vornehmsten Hotels Londons? Das Theater? Die noblen Geschäfte? Man könnte meinen, wir seien in ein halbverfallenes Gemäuer aus dem Mittelalter gereist!“
John lachte schallend. „Mama, ist so etwas deine bevorzugte Lektüre? Schauerromane aus den Neunziger Jahren, als du ein Küken wie Belle warst?“
„Sei nicht so frech zu deiner alten Mutter! Annabelle, was hat dir denn dieses unheimliche Gefühl gegeben?“
Ihre Tochter begann zu überlegen. „Das Hotel ist es nicht – obwohl, ein wenig vielleicht doch. Ja, und das Theater – und die Oxford Street? Ja, die auch – ein wenig. Ich weiß es doch selbst nicht!“
„Hm“, brummte John. „Ich werde logisch darüber nachdenken, was diese drei Örtlichkeiten gemeinsam haben könnten. Wart ihr nicht auch bei Gunter´s?“
Annabelle nickte. „Das gehört auch dazu, glaube ich.“
„Du bekommst kein Eis mehr“, verfügte ihre Mutter, immer noch pikiert, als der Wagen seine Fahrt verlangsamte. „Es scheint dir gar nicht gut zu bekommen! Morgen werden wir noch einige Tageskleider bestellen und einen Blick in den Pantheon Bazar werden – einen kurzen Blick! Danach können wir, wenn es dir Recht ist, John, auch wieder nach Hause fahren. So weit ist es ja glücklicherweise auch nicht.“