Читать книгу Ein undurchsichtiger Gentleman. - Catherine St.John - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеTatsächlich war Annabelle sehr erleichtert, als sie am späten Nachmittag des nächsten Tages wieder in ihrem eigenen Zimmer stand. Alles war so, wie sie es liebte – sicher, das Hotel hatte sie mit allem erdenklichen Luxus umgeben, aber dennoch…
Wenn sie nur wüsste, was sie so verunsichert hatte! Morgen konnte sie Susan besuchen und ihr erzählen, was ihr in London alles widerfahren war – vielleicht konnte Susan ihre Verwirrung aufklären?
Die Stadt war imposant – und stellenweise auch recht hübsch. Die Luft allerdings hatte sie fürchterlich gefunden! Bei diesem Gedanken öffnete sie das Fenster weit und atmete tief durch, während sie über den Garten hinweg die Felder und am Horizont die sanften Hügel betrachtete. Herrliche frische Luft, herrliche Landschaft, ein herrlicher Blick! Nein, in London wollte sie nicht leben.
Gut, einige Tage, um einzukaufen, ins Theater zu gehen und sich ein, zwei Mal im Park oder gar auf einem Ball sehen zu lassen – aber nicht mehr!
Nicht einmal dieser imaginäre Ball reizte sie so besonders: fremde Menschen, übertrieben aufgeputzt, die über jeden klatschten und Gerüchte verbreiteten, überhitzte Räume, ein furchtbares Gedränge… Sophia und Hester hatten da schon einiges zu erzählen gehabt.
Nein, mochten die Wentworth-Mädchen genauso wie Susan die wildesten Dinge über ihr Debut erzählen, sie bereute nicht, dass sie darauf verzichtet hatte. Wozu auch ein Debut, wenn sie doch mit achtzehn schon gewusst hatte, dass sie Stephen heiraten würde? Er allerdings hatte das noch nicht gewusst, musste sie vor sich selbst zugeben. Kein Wunder freilich, denn mit siebzehn und achtzehn war sie noch eine rechte Nervensäge gewesen. Nervtötendes Geplapper, hatte John mehr als einmal gesagt und ihr gedroht, ihr eigenhändig den Hals umzudrehen, wenn sie nicht endlich still sein wollte.
Dann hatte sie tatsächlich einmal darauf geachtet, weniger zu reden – und vor allem vorher nachzudenken. Prompt hatte John gefunden, sie sei eigentlich gar nicht so dumm und lästig, möglicherweise werde sie ja endlich erwachsen?
Und Stephen hatte überrascht geblinzelt, auf kleinen Parties in der Nachbarschaft immer öfter mit ihr getanzt und sie schließlich einmal im dunklen Garten von Norton House sehr aufregend geküsst…
Sie seufzte glücklich bei der Erinnerung. Ja, und dann hatte er sie gefragt, ob sie vielleicht gerne Mrs. Norton werden wollte.
Natürlich wollte sie!
Gut, Mama hatte zunächst Einwände vorgebracht – Annabelle sei doch so hübsch und auch nicht gerade mittellos, da müsste sich doch ein vornehmerer Gemahl finden lassen? Wenigstens ein Viscount? Vielleicht in London? Papa aber hatte das albern gefunden – Stephen sei genau der Richtige für seine Tochter, er verstehe etwas von der Landwirtschaft, habe einen guten Charakter und könne die liebe Annabelle gewiss glücklich machen. Darauf schließlich komme es doch wohl an? Außerdem werde Stephen doch nach seinem Vater auch der nächste Baron Norton!
Dem hatte Mama schlecht widersprechen können, also stimmte sie der Verlobung zu und hatte sich mittlerweile recht gut damit abgefunden. Und Stephen war ja ein so reizender Mann, der auch seiner künftigen Schwiegermutter so nett begegnete…
Wenn sich hier auf dem Land alles so gut gefügt hatte, warum dann also nach London fahren?
Und der entzückende Brief von Melinda, nun Lady Hertwood (und in Erwartung eines Erben!) hatte Annabelle in dieser Ansicht nur bestärkt. Nicht nur Melinda hatte ihren Sebastian auf dem Land gefunden – Cecilia Herrion hatte sich schließlich gerade erst mit Melindas Onkel, dem neuen Viscount Lynet verlobt, den sie doch auf Herrion in Berkshire schon kennengelernt hatte. Also wurde London ja wohl überschätzt!
Dieser neue Viscount Lynet war in der ganzen Gegend beliebt, weil er seinen Besitz mit dem gleichen Eifer wieder aufbaute wie sein wenig betrauerter Vorgänger ihn ruiniert hatte. Margaret, die Dowager Viscountess, und die lustige kleine Jane waren des Lobes voll und zeigten sich nun auch viel mehr in der Öffentlichkeit.
Wirklich, diese Ecke von Kent war das reinste Paradies und sie durfte hier leben, bald mit dem Mann, den sie liebte und der schließlich, wie Papa argumentiert hatte, um Mama zu beruhigen, eines hoffentlich fernen Tages auch Lord Norton sein würde und sie damit Lady Norton! Nein, sie war wirklich wunschlos glücklich, nur wusste sie immer noch nicht, was sie an London irritiert hatte. Und wenn sie John fragte? Er würde wenigstens nicht von mangelnder Dankbarkeit sprechen, wenn sie zugab, dass ihr an London etwas nicht gefallen hatte!
Sie eilte durch das ganze Haus, um ihn zu finden, und entdeckte ihn schließlich in den Stallungen, wo er zusammen mit dem Stallmeister den Hinterhuf eines Fuchsjährlings inspizierte. Als sie eintrat, sah er auf und Tom Brady verbeugte sich höflich. „Miss Horbury…“
„Mr. Brady, einen guten Tag“, antwortete sie recht förmlich. „John, wenn du hier fertig bist, hätte ich dich gerne kurz gesprochen.“
John ließ den Fuß des jungen Hengstes sinken. „Wir sind eigentlich schon fertig. Tom, versuch´s zunächst einmal mit einem passenden neuen Hufeisen, auf der Innenseite etwas stärker.“
„Gut, Sir. Ich spreche mit dem Hufschmied. Miss…“ Brady tippte sich an die Mütze und wandte sich dann ab.
„Nun, Belle, was gibt es denn so Dringendes?“
Annabelle trug ihm vor, was sie immer noch beschäftigte.
John lächelte, als sie etwas atemlos innehielt. „Vielleicht bist du einfach ein gesundes Landmädchen?“
„Ja, das bestimmt.“ Annabelle war nicht beleidigt. „Aber das erklärt zwar, warum mir die schlechte Luft und der Lärm missfallen haben, aber nicht, was mir an London so unheimlich erschienen ist!“
John führte sie zu einer Bank vor den Stallungen. „Setz dich doch! Der Sache sollten wir doch einmal auf den Grund gehen. Weißt du mittlerweile genauer, wann du dieses Gefühl gespürt hast?“
Annabelle überlegte. „Nicht, als wir eingekauft haben, da bin ich sicher.“
John lachte. „Das kann ich mir vorstellen, Schwesterchen! Da haben die schönen Gefühle wohl überwogen, nicht wahr?“
„Affe. Nicht unbedingt bei den Handtüchern, bei der Nachtwäsche vielleicht schon eher.“
John antwortete darauf nichts – ein doch etwas frivoles Thema wollte er nun wirklich nicht mit seiner kleinen Schwester erörtern. Ja, mit Hester Wentworth – sobald sie verheiratet wären, natürlich…
„Also bei anderer Gelegenheit? Bei Gunter´s? Im Theater? Oder hast du dich vielleicht im Hotel unwohl gefühlt? Ich hatte es ausgewählt, weil es den Ruf hat, sich auch für reisende Damen besonders gut zu eignen!“
Das klang tatsächlich wieder leicht gekränkt, fand Annabelle. Hastig bemühte sie sich also, ihren Bruder zu versöhnen: „Nein, das wollte ich nicht sagen, das Miller´s war wirklich sehr schön. Sehr luxuriös und wirklich sehr für – äh – weibliche Gäste geeignet. Ich weiß es doch auch nicht so recht! Eigentlich waren die Läden, das Theater und natürlich das Hotel alle sehr schön und wirklich eindrucksvolle Erfahrungen, aber es gab etwas, was mich daran gestört hat…“
„An allen dreien?“
Sie überlegte. „Ich glaube schon. Aber es war, scheint mir, nicht immer gleich. Mit der Zeit wurde es stärker.“
„Dann war es wohl eher nicht das Ungewohnte der Stadt“, folgerte John. „Das Theater hat dich also am meisten irritiert?“
„Ja, aber das Stück war es nicht. Die in Purpur gewandete Dame war es auch nicht.“
„Mrs. Templeton“, nickte John. „Ja, von dieser Frau droht dir keine Gefahr. Eher droht ihr Gefahr…“
„Oh, warum das?“ Annabelle sah ihn mit weit aufgerissenen Augen bettelnd an.
„Wollten wir nicht deine Sorgen besprechen, Belle?“
„Ach bitte, Johnny!“
„Sag nicht Johnny zu mir, ich bin kein Schuljunge mehr. Na gut – Mrs. Templeton ist eine sehr wohlhabende Witwe. Es könnte durchaus sein, dass jemand sie heiraten möchte, um sich in den Besitz dieses Vermögens zu setzen.“
„Ein Mitgiftjäger?“, hauchte Annabelle fasziniert.
„Gewiss. London ist voll davon, das muss man leider sagen.“
„Oh!“
„Was hast du, Belle?“
„Mitgiftjäger… nein. Wir haben doch niemand derartigen kennengelernt. Ich grüble immer noch…“
John klopfte ihr recht brüderlich-kräftig auf die Schulter. „Es wird dir schon wieder einfallen! Ich muss jetzt wirklich mit dem Verwalter sprechen.“
Ungetröstet schlenderte Annabelle zum Haus zurück, nicht einmal die graue Stallkatze, die ihr schmeichelnd um den Rocksaum strich, konnte sie lange ablenken. Sie kraulte sie zerstreut unter dem Kinn und ging dann weiter.
Im Haus kehrte sie sofort in ihr Zimmer zurück und sah wieder aus dem Fenster, wo sich ganz langsam Dämmerung über die Landschaft senkte. Immerhin konnte man auf der Straße hinter den Feldern gerade noch eine Kutsche erkennen. Wer das wohl war?
Ach, wen interessierte das denn! Irgendjemand aus der Umgebung fuhr eben irgendwohin. Eine Einladung, vermutlich. Nein, sie hatte vorläufig genug von Unternehmungen. Nach dem Dinner würde sie ein wenig Klavier spielen und dann früh schlafen gehen – wie die vornehmen Londoner diese langen Bälle überstanden, von denen Susan ihr erzählt hatte, verstand sie ohnehin nicht.
Beim Dinner aß sie mit gutem Appetit, obwohl die Speisen nicht halb so aufwendig waren wie in Miller´s Hotel. Aber hier kannte sie alles, hier störte niemand und Mama musste sie nicht kritisieren. Papa zwinkerte ihr zu: „Na, Belle, wie war´s in der großen Stadt?“
„Beeindruckend“, antwortete Annabelle vorsichtig, „und sehr aufregend. Aber ich fürchte, London ist nichts für mich. Hier ist es schöner. Immerhin bin ich jetzt für meinen künftigen Hausstand perfekt gerüstet, nicht wahr, Mama?“
Lady Horbury nickte, die Gabel zierlich erhoben. „Gewiss, mein Kind. Alles Nötige ist vorhanden, denn die Nortons sind ja schon selbst sehr gut ausgestattet.“
Sir Joshua war zufrieden und widmete sich wieder dem Rinderbraten. Annabelle versank erneut in Gedanken – eben hatte sie sich doch etwas überlegt? Etwas, das sie im Nachhinein auch wieder verwirrte?
Ach ja: Niemand störte sie beim Essen. Aber das war doch in London auch nicht geschehen?
Sie hatten stets ganz unbehelligt gespeist, sehr gut gespeist, das ließ sich nicht leugnen. Nur einmal war dieser Bekannte von John aufgetaucht, dieser Sir Ernest Wie-auch-immer, aber er hatte doch gar nicht gestört? Einige Minuten harmloses Geplauder, mehr nicht…
Aber war er nicht auch bei Gunter´s und im Theater gewesen?
Zufall, beschloss sie, dieser belanglose junge Mann konnte unmöglich der Grund für ihr diffuses Unbehagen sein. Nein, das war alles Unsinn – wahrscheinlich hatte London sie nur etwas überwältigt!