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Kapitel 7

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Am nächsten Vormittag spazierte sie tatsächlich zu den Nortons hinüber, wo zuerst Stephen sie ausgesprochen liebevoll begrüßte und ihr erklärte, wie sehr er sich auf die Hochzeit freute, bevor er sie durch das nahezu fertig ausgestattete Dower House führte.

„Vor fünf Jahren ist die alte Großtante Elizabeth gestorben. Seitdem stand das Haus leer, aber ich denke, wir werden es hier durchaus gemütlich haben, meinst du nicht?“

Annabelle betrachtete sich die freundlichen Räume, die schöne Holzböden und helle Wände in verschiedenfarbiger Seidenbespannung aufwiesen, außerdem die dazu passenden, bequem aussehenden Möbel und im oberen Stockwerk zwischen den beiden Schlafzimmern ein richtiges hochmodernes Badezimmer mit einer fest installierten Wanne – und sogar einem Wasserklosett in einem separaten Kämmerchen. Sogar für zwei Gästezimmer und im zweiten Stock für Kinderzimmer, Schulzimmer und ein Zimmer für die Nanny war gesorgt.

„Perfekt!“, hauchte Annabelle überwältigt. „Als hättet ihr das Haus ganz neu gebaut!“

„Papa war auch der Ansicht, dass Tante Lizzies Zeiten lange vorbei sind, deshalb wurde alles modernisiert. Die Möbel sind aber lediglich aufgearbeitet worden, neu sind sie nicht. Meinst du, du wirst es hier mit mir aushalten?“ Das klang direkt ängstlich, also umhalste Annabelle ihren Verlobten rasch und küsste ihn. „Natürlich! Mit dir würde ich es überall aushalten – und hier ganz besonders. Ach, bin ich froh, dass ich wieder hier bin!“

„Hat dir London denn nicht gefallen?“

„Nein – doch - nun, es war aufregend und Mama und John haben sich auch wirklich Mühe gegeben, wir waren bei Gunter´s zum Eisessen und im Theater und haben für meine Aussteuer eingekauft. Handtücher haben wir jetzt für die nächsten zehn Generationen, glaube ich. Aber die Stadt gefällt mir nicht. Sie ist schön anzusehen, das ja, aber es riecht dort schlecht, es ist furchtbar laut, es gibt zu viele Menschen und außer im Hyde Park keine Natur – und man muss sich so sehr darauf konzentrieren, auf keinen Fall etwas Verkehrtes zu tun oder zu sagen. Alle achten darauf, ob man sich auch angemessen beträgt, als sei das das einzig Wichtige. Nein, ich mag London nicht.“

„Dann werden wir nicht so oft dorthin fahren, mein Schatz, aber gelegentlich muss es schon sein. Immerhin müssen wir ja auch ab und zu nach unserem Stadthaus sehen.“

„Wenn du dabei bist, wird es mir bestimmt gefallen.“ Sie schmiegte sich kurz an ihn.

„Ach? Waren denn John und deine Mutter nicht nett zu dir?“

„Aber Stephen, wie kannst du denn nur – ach, du willst mich ja nur aufziehen!“

Er grinste breit; seine grünen Augen funkelten mutwillig, als er sagte: „Das ist auch etwas, das ich an dir liebe: Man kann dich so wunderbar auf den Arm nehmen.“

Sie zog eine Schmollmiene, dann musste sie aber lachen: „Nimm mich lieber in den Arm! Mama und John waren die Fürsorge selbst, aber das ist natürlich nicht dasselbe.“

Sie schlenderten noch einmal durch das Dower House und schmiedeten Pläne, was sie nach der Hochzeit – so bald schon! – unternehmen wollten. Stephen, der sich um den Besitz zu kümmern hatte, weil sein Vater in London zurzeit immer wieder unabkömmlich war, konnte nicht reisen, deshalb fiel die Hochzeitsreise aus, was Annabelle nicht weiter störte.

„Ich habe es schon mehrfach in den letzten Tagen gesagt – ich bin hier sehr zufrieden. Am liebsten würde ich mich hier ganz geruhsam eingewöhnen.“

„Genau die richtige Frau für mich, schließlich bin ich ein eingefleischter Bauer.“

„Dann will ich deine Bäuerin sein“, murmelte Annabelle und wurde dafür mit einem recht feurigen Kuss belohnt.

„Mama hat mich darum gebeten, dich nach deiner Verwandtschaft zu fragen“, sagte Stephen dann auf dem Weg zurück zum Gutshaus. „Sie möchte sichergehen, dass niemand bei den Einladungen zur Hochzeit vergessen wurde.“

„Oh! Ich bin sicher, Mama hat alle berücksichtigt – aber ich werde Mama und Papa noch einmal fragen – ich kenne mich da nicht so gut aus. Soweit ich weiß, hatte mein Großvater noch zwei Geschwister, aber ob die überhaupt noch am Leben sind, weiß ich gar nicht.“

„Hast du die beiden jemals gesehen?“

„Niemals. Freilich könnte es gewesen sein, dass sie bei meiner Taufe waren. Aber das weiß vermutlich nicht einmal John… Halt! Mir fällt da etwas ein – Großpapas Schwester soll eine recht gute Partie gemacht haben, einen Viscount, glaube ich.“

„Oh, wie nobel! Da bin ich ja beeindruckt, dass du mich bloßen Mr. Norton erwählt hast“, grinste Stephen.

„Du ziehst mich ja schon wieder auf! Vergiss nicht, dass du eines Tages der siebte Lord Norton sein wirst.“

„Ach, und deshalb hast du meinen Antrag angenommen?“

„Aber natürlich. Weshalb auch sonst?“ Sie sah so unschuldig und zugleich frech zu ihm auf, dass er sie sofort wieder küssen musste, was sie begeistert erwiderte.

„Wegen des Nortonschen Vermögens vielleicht?“

Sie schlug spielerisch nach ihm. „Wofür hältst du mich denn?“

„Das war ein Scherz! Es gab also in London nichts, das dir gefallen hätte? Und niemanden, der dir lieber wäre als ich?“

„Bist du etwa eifersüchtig? Natürlich war da niemand! John hat im Club einen jungen Mann kennengelernt, der uns noch einige Male über den Weg gelaufen ist, das war alles.“

„Ein netter junger Mann?“

Annabelle zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht recht, er hat uns einmal beim Essen im Hotel begrüßt, einmal seinen Hut auf der Straße gezogen und als wir im Theater waren, habe ich ihn im Parkett gesehen. Nett? Ich würde sagen, uninteressant. Gut erzogen, das ja – aber mehr nicht.“

„Nicht gut aussehend?“

„Nicht so wie du. Blond, mittelgroß, recht gut gekleidet. Ich finde, er wirkte unauffällig. Warum willst du das alles wissen?“

„Ich möchte eben nicht, dass du etwas Besseres findest!“

Annabelle musste lachen: „Etwas Besseres? Sehr unwahrscheinlich! Mein Liebster, du musst dir wirklich keine Sorgen machen.“

„Wie hieß denn dieser Gentleman? Ein Gentleman war er doch?“

„Vermutlich. Da kennen ja wohl nur die Herren die Feinheiten… Moment, Sir Ernest irgendwas. John zufolge ist der Vater ein reicher, geadelter Fabrikant im Norden. Lancashire vielleicht? Ich weiß es nicht.“

Stephen bedachte das. „Der Sohn eines frisch Geadelten… wie kann er dann ein Baronet sein? Kannst du da etwas missverstanden haben?“

„Gut möglich. Die Angelegenheit war mir wirklich nicht so wichtig. Wie gesagt, frag doch John, er hat sich mit diesem jungen Mann länger unterhalten. Und jetzt, mein Lieber, muss ich doch einmal nach Susan sehen!“

„Und ihr von London erzählen, ich verstehe schon!“

Er küsste sie noch einmal, bevor er sie losließ und sie ins Haus eilte.

Susan kam ihr schon entgegen: „Endlich! Und wie war es in London? Habt ihr schön eingekauft? Und viel besichtigt?“

Annabelle ließ sich einhaken und in einen freundlichen, vorwiegend in Gelb gehaltenen Salon ziehen. Dort setzte sich Susan mäßig elegant und klopfte auf den Platz neben sich. „Los, erzähl doch!“

Annabelle erzählte, von den Handtüchern, den Nachtgewändern (die Susan ein Seufzen entlockten), dem Theaterbesuch und dem vornehmen Hotel.

„Ich möchte auch endlich mal heiraten“, murrte Susan dann.

„Wegen der Nachtgewänder?“, spottete Annabelle.

„Vielleicht – ein wenig. Aber immerzu hier die kleine Schwester geben… Beschreib mir doch mal diese Nachtgewänder genauer!“

Annabelle stürzte sich in die verlockenden Details – Lochstickerei, mit Samtbändchen durchflochten, Brüsseler Spitze, mit silbernen Fäden durchwirkt, blaue Seide, lavendelfarbene Seide, doppelte Schulterträger, passende Negligés – und lediglich ein passendes Schlafhäubchen!

„Warum das?“, wollte Susan sofort wissen.

„Stephen schätzt solche Häubchen nicht sehr, er findet sie bieder.“

„Annabelle!“ Die scharfe Stimme bewirkte, dass Susan die Augen zum Plafond verdrehte.

„Wie kannst du über so indezente Details sprechen!“

„Oh, Charlotte! Dir auch einen schönen Tag“, entgegnete Annabelle mit falschem Lächeln. „Was bitte war jetzt indezent?“

„Nachtwäsche!“, spie Charlotte förmlich aus. „Und solch laszive Gewänder obendrein! Schämst du dich nicht?“

„Was heißt denn lasziv?“, wollte Susan sofort wissen, die Augen weit aufgerissen. Gleichzeitig fragte Annabelle: „Warum sollte ich mich schämen? Jeder trägt doch Nachtwäsche, wenn er des Nachts schläft! Ich meine, man kann doch nicht – äh.“

„Du bist wirklich ein verdorbenes Ding!“

„Aber Charlotte!“ Lady Norton war eingetreten und warf ihrer Ältesten einen strafenden Blick zu. „Warum bist du so unfreundlich zu Annabelle? Annabelle, wie war es in London?“

„Sehr schön, vielen Dank der Nachfrage, Lady Norton. Aber offenbar hätten Mama und ich entweder keine Wäsche kaufen oder das zumindest nicht erwähnen dürfen.“

„Warum? Jede junge Braut wird sich doch etwas Hübsches für ihre Hoch- ihren neuen Ehestand kaufen wollen.“

Lady Norton war etwas Farbe ins Gesicht gestiegen und Susans erneute Frage danach, was denn nun lasziv bedeute, vertiefte die Röte nur noch.

„Lasziv – nun… sagen wir es so: Wenn sich eine Frau lasziv benimmt, ist sie nicht ganz so sittenstreng, wie man es sich wünschen würde.“

Susan nickte nachdenklich, dann sah sie wieder auf: „Und was hat das mit modischen Nachthemden zu tun?“

Charlotte schnaubte empört.

„Eigentlich gar nichts“, versicherte Lady Norton. „Wo habt ihr denn so etwas eingekauft, Annabelle?“

Beide Mädchen erkannten dies sofort als Ablenkungsmanöver, aber Annabelle ging dennoch artig darauf ein: „Bei Madame Lacroix. Wundervolle Stoffe, Spitze, Stickereien – Mama und ich haben wirklich geschwelgt. Zuerst war ich ja etwas ängstlich, weil ich dachte, es gibt nur das übliche kratzige Leinen, aber dann – nichts ist so leicht und weich wie Seide!“

„Unanständig!“, schnaubte Charlotte.

Lady Norton blitzte sie streng an. „Charlotte, würdest du bitte aufhören, dich wie eine dieser schottischen Puritanerinnen zu benehmen! An Seide ist nichts Verwerfliches, sie eignet sich nur nicht für junge Mädchen. Annabelle wird in wenigen Wochen eine verheiratete Frau sein – Stephens Frau! – dann darf sie auch Seide tragen, so oft es ihr beliebt.“

„Heirate doch einen Pfarrer! Am besten in Schottland!“, legte Susan noch nach.

„Susan!“

„Ich bitte um Entschuldigung, Mama.“

„Bitte auch bei Charlotte!“

„Sie hat aber doch angefangen!“, stritt Susan sofort, als sei sie etwa zehn und nicht nahezu zwanzig.

„Deshalb musst du dich nicht genauso benehmen“, verfügte ihre Mutter also – in einem Ton, der Susan verdeutlichte, dass nichts mehr zu diesem Thema gewünscht wurde.

„Und du warst im Theater?“, wechselte sie also folgsam das Thema. Charlotte setzte wieder zu einem Schnauben an, fing den Blick ihrer Mutter auf und räusperte sich.

Annabelle sah betont nicht zu Charlotte, die wahrscheinlich auch das Theater für unmoralisch hielt – was bitte hieß denn eigentlich unmoralisch? – und berichtete artig von der Aufführung, nicht ohne hinzuzufügen, dass London wohl sehr aufregend sei, sie sich aber nur auf dem Lande – hier – wohlfühlen könne.

„Ach, Stephen wird sicher ab und zu mit dir nach London fahren“, vermutete Susan sofort.

Charlotte murmelte etwas, was wie Sündenbabel klang.

„Na, dich werden sie schon nicht mitnehmen, also kannst du ganz unbesorgt sein!“, konnte Susan sich nicht zurückhalten.

„Susan!“, tadelte Lady Norton routinemäßig.

„Ich entschuldige mich, aber dieses Gerede ist wirklich nicht auszuhalten!“

Annabelle räusperte sich und begann sich zu verabschieden, da ja die Reise nach London Charlottes düsterste Befürchtungen geweckt hatte. Was um des Himmels Willen stellte sie sich unter London nur vor? Sie hatte doch einst auch eine Saison gehabt? Was da wohl vorgefallen war? Vielleicht war es aber doch nur ihre natürliche Strenge?

Sie schlenderte den Weg zwischen Norton House und Beech House entlang und kam zu dem Ergebnis, Susans Idee, Charlotte solle doch einen schottischen Geistlichen heiraten, sei zwar rüde, aber doch in der Sache gar nicht so verkehrt.

Vielleicht gab es puritanisch denkende Geistliche ja auch hier in England, dann musste Charlotte nicht nach Schottland ziehen. War es dort nicht sehr kalt und einsam?

Sie wusste wirklich gar nichts! Richard war doch einmal in Schottland stationiert gewesen – sie würde ihn fragen, wenn er wieder einmal auf Urlaub nach Hause kam, aber das konnte noch länger dauern, und bis dahin war sie wahrscheinlich längst verheiratet.

Unsinn, tadelte sie sich, dann würde sie eben die gleichen paar Schritte wie jetzt tun und ihre Familie in Beech House besuchen. Sie sollte sich nicht so sinnlos den Kopf zerbrechen, sondern lieber den herrlichen Tag genießen!

Die Sonne schien, einige kleine weiße Wölkchen zogen über den Himmel, alles Grün wirkte saftig und gesund und auf einer der Wiesen, die noch zu Norton House gehörte, pflückte die alte Bess Simms Kräuter für ihre Medizinen.

Gut, dass sie in modernen Zeiten lebten! Früher hätte man Kräuter-Bessie dafür wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, dabei konnten ihre Rezepturen manchmal tatsächlich helfen, bei Prellungen und Verstauchungen etwa. Einnehmen wollte das Zeug freilich keiner…

Niemand war außer Bessie zu sehen.

Ach doch, dort hinten ritt jemand. Wer konnte das wohl sein? Stephen hatte schwarzes Haar, genauso wie Susan und Charlotte. John gefiel sich in einem braunen Tituskopf, aber der Mann dort hinten war blond. Nun, vielleicht hatten die Nachbarn Besuch. Der Herzog konnte es natürlich auch sein, Ashford war eher hellhaarig, aber er saß viel besser zu Pferd.

Ach, was ging es sie denn an?

Sie schlenderte weiter, aber ihre entspannte Stimmung hatte sich etwas getrübt, ohne dass sie sagen konnte, woher das rührte.

Beim Mittagessen war sie immer noch gedankenverloren, obwohl sie sich nun selbst eingeredet hatte, dass sie nur Ashford gesehen hatte. Zunächst unterhielten Lady Horbury und John sich angeregt über die Angelegenheiten des Besitzes, ab und zu durch kurze Einwürfe Seiner Lordschaft angereichert.

Schließlich fragte Annabelle dann doch nach dem Herzog.

„Ashford?“, brummte ihr Vater. „Der ist zu seiner Schwester gefahren, um seine Tochter zu besuchen. Ich verstehe gar nicht, warum diese Elaine nicht auf Lynham lebt, Simon und Victoria könnten doch sehr gut für sie sorgen.“

Seine Frau stimmte ihm zu. „Jetzt hätte Lady Elaine ja auch hier Spielkameraden. Ich meine, der kleine Justin ist ja schon da, und bald bekommen sie noch ein Kind…“

Annabelle verfolgte das Gespräch nicht weiter; Ashford war also gar nicht hier, sondern bei seiner Schwester… sie wusste zwar, dass diese Schwester Lady Mary hieß, aber nicht, mit wem sie verheiratet war und wo sie lebte. Wer war es denn dann gewesen, den sie gesehen hatte? Und warum beschäftigte sie diese Frage überhaupt?

„Annabelle? Annabelle!“

Sie schreckte hoch. „Ja? Verzeihung, ich war geistesabwesend.“

„Denkst wohl an deinen Stephen?“ John natürlich!

„So wie du an deine Hester“, gab sie sofort zurück.

„Touché“, grinste er.

Sie war froh, dass ihre Eltern nicht weiter nachfragten, und beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Dessert.

Als sie mit Stephen durch ihr künftiges Haus gewandert war, hatte sie sich nicht unbehaglich gefühlt, das stand einmal fest. Nur in London, vor allem nach dem Theaterbesuch. Und vorhin, auf dem Heimweg aus Norton. Warum bloß? Alles war doch völlig in Ordnung gewesen, herrliches Wetter, eine friedliche Atmosphäre – und außer Charlotte hatte sich auch niemand unangenehm verhalten. Von Charlotte war man das aber doch gewohnt?

„Wisst ihr eigentlich, warum Charlotte Norton so bissig ist?“, fragte sie also, was sie selbst nur logisch fand.

Drei erstaunte Augenpaare waren die Reaktion. „Wie kommst du gerade jetzt darauf?“

„Ach, wisst ihr, als ich vorhin bei Susan war, war Charlotte wieder einmal so giftig wie nur möglich – und ich verstehe nicht, warum sie so ist. Ich habe nur erzählt, dass wir bei Madame Lacroix schöne Wäsche gekauft haben. Susan und auch Lady Norton fanden das interessant, wir diskutierten verschiedene Stoffe, aber Charlotte benahm sich, als hätten wir uns irgendeinem Laster ergeben. Dabei weiß ich gar nicht, welches Laster das nun sein sollte!“

Ihre Eltern und ihr Bruder wechselten einen halb erheiterten, halb verlegenen Blick.

„Ja, dann kann ich verstehen, dass dich dieses Benehmen verwirrt hat“, rettete Lady Horbury sich wieder auf sicheren Boden. „Ich weiß es leider auch nicht, ich glaube, niemand kennt die Ursache, aber meiner Ansicht nach hat dieses mürrische und geradezu puritanische Verhalten nach ihrer Saison in London eingesetzt.“

„Vielleicht hat der Heiratsmarkt sie irritiert“, schlug John vor. „Dort geht es ja oft recht kaltschnäuzig zu, nicht wahr?“

Seine Eltern stimmten zu; Annabelle machte große Augen.

„Was bedeutet denn kaltschnäuzig, Mama, Papa?“

„In der Londoner Gesellschaft werden eheliche Verbindungen immer noch nach den Interessen der Familien geknüpft, nicht nach der Zuneigung der Betroffenen“, erklärte Sir Joshua.

„Da könnte eine Familie auch ihre junge Tochter mit einem fetten Siebzigjährigen verheiraten, wenn der einen hohen Rang und gute Verbindungen hat“, fügte John hinzu.

„John!“ Lady Horbury war entrüstet.

„Aber so ist es doch!“

„Das könnte man aber etwas weniger – äh – deutlich formulieren!“

John zwinkerte seiner Schwester zu. „Jetzt weiß Belle doch wenigstens, wie gut sie es hat, dass sie ihren Stephen hier gefunden hat und niemand etwas dagegen einzuwenden hat. Erinnert euch doch an Lynet!“

„Den neuen Viscount?“ Lady Horbury wirkte ratlos.

„Nein, seinen unangenehmen Bruder. Wisst ihr nicht mehr, wie er seine arme kleine Tochter Ashford in die Arme schubsen wollte? Als ob nicht jeder wüsste, dass Ashford nie mehr heiraten wird!“

Seine Eltern nickten.

„Aber was ist, wenn er sich verliebt?“, fragte Annabelle. „Das kann doch auch einem Herzog passieren?“

„Er soll seine erste Frau sehr geliebt haben“, erklärte Lady Horbury und winkte dem Diener, dass er abtragen und das Dessert servieren sollte. „Wirklich sehr rührend…“

Annabelle nickte. „Und man kann sich ja nur einmal verlieben, nicht wahr?“

„Woher hast du denn diese Weisheit?“, wollte John sofort wissen.

„Das steht doch in jedem Buch!“

„In jedem deiner rührseligen Romane, meinst du wohl?“

„Streitet euch nicht“, mahnte Sir Joshua, „dafür seid ihr mittlerweile wirklich zu alt.“

Ein undurchsichtiger Gentleman.

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