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KAPITEL 4 Der Lehrling
ОглавлениеEine totalitäre Diktatur bedeutet: Jeder Aspekt des täglichen Lebens, und sei er noch so geringfügig, wird von der Obrigkeit kontrolliert und überwacht; wer sich widersetzt, wird auf die eine oder andere Weise drangsaliert oder aus dem Verkehr gezogen. In Nazi-Deutschland geschah das ziemlich schnell, meistens über Nacht.
Als Berni, der nun Bernhard genannt wurde, im Dezember 1938 vom Landjahr zurückkehrte, musste er sich Arbeit suchen. Wie alles andere auch, wurden sämtliche Ausbildungsmaßnahmen von den Nazis gesteuert, in diesem Fall durch das Reichsarbeitsamt. Wer nicht Mitglied der HJ war, brauchte sich gar nicht erst zu bewerben. Über sieben Millionen Mitglieder, die entweder freiwillig oder wegen des gewaltigen politischen Drucks beigetreten waren, zählte die HJ inzwischen. Dass es immer noch 600.000 Jugendliche gab, die sich widersetzten, spricht für den Mut der Familien, die an ihren politischen Überzeugungen festhielten und bereit waren, die unvermeidlichen Repressalien in Kauf zu nehmen. Ab 1939 konnte die Mitgliedschaft in der HJ aber auch gegen den Willen der Jugendlichen und ihrer Eltern durch die Polizei erzwungen werden.
Bernhard und sein Vater fuhren mit der Straßenbahn zum Wilhelm-Decker-Haus in der Nordstraße, dem ehemaligen „Volkshaus“ der Gewerkschaften. Dort befand sich jetzt das Arbeitsamt. Vater Trautmann trug seinen Sonntagsanzug mit Hut, Bernhard seine HJ-Uniform. Er war erst seit drei Tagen wieder daheim. Sie kamen in ein großes Büro; an der Wand hinter dem Schreibtisch war eine Hakenkreuzfahne angebracht, links an der Wand hing das gerahmte Porträt von Adolf Hitler, rechts eine Landkarte des Großdeutschen Reichs. Beim Eintreten riefen Vater und Sohn „Heil Hitler!“. Einmal, bei einer Kundgebung in Bremen, hatte Carl Trautmann auf eine Art gegrüßt, die einem Mitglied der SS nicht gefallen hatte, und war prompt mit der Faust ins Gesicht geschlagen worden. Er hatte seine Lektion gelernt.
Ohne von seinem Schreibtisch aufzuschauen, bedeutete ihnen der Beamte, sich hinzusetzen und zu warten. Er war in Parteiuniform gekleidet und studierte eine Gestapo-Aktie über die Familie Trautmann, die alle wichtigen Informationen enthielt: Carl Trautmann arbeitete bei Kali-Chemie, das eine goldene Fahne für die vorbildliche Umsetzung der Arbeitsvorschriften sowie für die hohen Produktionsraten bei der Munitionsherstellung erhalten hatte. Herr Trautmann war Mitglied der NSDAP, der Junge schon seit seinem zehnten Lebensjahr bei der HJ. Die Zeugnisse seiner HJ-Führer waren ausgezeichnet und wiesen ihn genau als die Sorte eines Jungen aus, die das Reich im kommenden Krieg brauchen würde. Nun galt es also, ihm eine Lehrstelle zu verschaffen, die seine Begabungen und die Bedürfnisse des Reichs unter einen Hut brachten. Viele Jungen der HJ, vor allem aus dem Führerkorps, dem Streifendienst und dem Landdienst, wurden direkt der SS zugeführt, wenn sie das entsprechende Alter erreicht hatten. Die verdientesten HJ-Führer wurden in die Offiziersriege der SS oder Parteiämter der NSDAP übernommen. Der HJ-Streifendienst hatte für Disziplin innerhalb der HJ zu sorgen und oppositionelle Jugendgruppen aufzuspüren; er wurde zur Nachwuchsorganisation der SS, insbesondere von deren Totenkopfverbänden, die in den Konzentrationslagern Dienst taten. Das einfache Fußvolk der HJ wechselte meist in die SA.
Sie alle sollten als Soldaten auf den Krieg vorbereitet werden, deshalb gab es innerhalb der Hitlerjugend Sondereinheiten wie Flieger-, Marine-und Motor-HJ, oder auch die Nachrichten-HJ, in der die Jungen an Feldtelefon und Morsegerät ausgebildet wurden. Weil jede Armee schmissige Lieder braucht, um die Moral aufrechtzuerhalten, gab es außerdem die Musiker.
Bernhard Trautmann hatte lediglich die Volksschule absolviert und mit 14 Jahren die Schule verlassen, er brauchte also etwas Praktisches.
„Zunächst einmal möchte ich dir für deine herausragenden sportlichen Leistungen bei den Reichsjugendspielen gratulieren“, sagte der Beamte und schaute von der Akte auf.
Bernhard freute sich, anscheinend hatten sich seine Verdienste bis zur Obrigkeit herumgesprochen. Er war sicher, eine gute Lehrstelle zu bekommen.
„Wofür interessierst du dich?“
Bernhard antwortete: Sport, vor allem Leichtathletik. Sein Vater schwieg, den Hut im Schoß.
„Interessierst du dich für Kraftfahrzeuge und Mechanik?“
Bernhard bejahte, und Vater und Sohn verließen das Amt mit der Zusicherung, dass sich schon eine passende Lehrstelle finden würde.
Im September 1938 war das Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien unterzeichnet worden, womit das Sudetenland von der Tschechoslowakei abgetrennt und Deutschland angegliedert wurde; die tschechoslowakische Regierung war an dem Abkommen nicht beteiligt worden. Das Sudetenland war ein Grenzgebiet, in dem eine überwiegend deutschsprachige Mehrheit lebte, wie Bernhard während seiner Reisen im Landjahr gelernt hatte, weshalb die Nazis dieses Gebiet für sich forderten. Der britische Premierminister Neville Chamberlain hatte Hitler mehrere Male besucht, um ihn zu einem Einlenken zu bewegen. Nach dem dritten Treffen kehrte er mit dem unterzeichneten Abkommen und den berühmt gewordenen Worten „Peace for our time“ nach London zurück. Hitler indes trieb seine Pläne weiter voran. Am 1. Oktober 1938 besetzten deutsche Truppen das Sudetenland, sechs Monate später marschierten sie widerstandslos in das restliche Tschechien ein.
Das war eine Katastrophe für Europa und ebnete den Weg in den Zweiten Weltkrieg. Nun, da Hitler wusste, dass die englische Regierung eine Appeasement-Politik verfolgte, wandte er seinen Blick Richtung Polen, dem nächsten Land auf seiner Liste. Winston Churchill, der das Appeasement kritisiert hatte und dafür als Kriegstreiber beschimpft worden war, richtete sich im gleichen Monat in einer Radioübertragung an die USA: „Wäre der deutsche Diktator mit einer großen Zahl friedliebender Kräfte konfrontiert worden, wäre dies eine Gelegenheit für die friedliebenden und gemäßigten Kräfte gewesen, zusammen mit der Führung der deutschen Armee Anstrengungen zu unternehmen, so etwas wie vernünftige und zivilisierte Verhältnisse in ihrem Land wiederherzustellen.“ 1945, nach dem großen Gemetzel und vielen Millionen Toten, bekräftigte er seinen Standpunkt in der „Times“: „Wären die Alliierten Hitler frühzeitig entschiedener entgegengetreten […], hätte es den gemäßigten Kräften in Deutschland, die insbesondere im Oberkommando sehr mächtig waren, die Chance verschafft, ihr Land aus dem Würgegriff dieses wahnsinnigen Systems zu befreien.“ Er ergänzte: „Präsident Roosevelt hat mich einmal gefragt, wie man diesen Krieg nennen sollte. Meine Antwort lautete: ‚Der unnötige Krieg‘.“
Der unnötige Krieg: 1938 ahnten nur wenige Menschen in Deutschland, dass es tatsächlich Widerstand gegen Hitler und die Nazis gab. Auch nicht Bernhard und sein Vater, als sie mit der Straßenbahn vom Arbeitsamt heimkehrten. Eine der ersten Maßnahmen jeder Diktatur ist es, die Pressefreiheit einzuschränken; die einzigen Zeitungen, die die Trautmanns lasen, und die einzigen Radioübertragungen, die sie hörten, waren allesamt von Goebbels’ Ministerium für Propaganda und Volksaufklärung genehmigt worden. Radio und Zeitungen kündeten ohne Unterlass von einer Nation, die vereint sei in Liebe zu ihrem Führer, der sie aus wirtschaftlicher Not befreit, das Unrecht der Versailler Verträge rückgängig und Deutschland wieder groß gemacht habe. Wo immer der Führer auftauchte, jubelten ihm die Massen zu und skandierten: „Ein Reich! Ein Volk! Ein Führer!“
Die Wahrheit sah ganz anders aus. Bei den letzten halbwegs freien Reichstagswahlen im März 1933 hatten die Nazis, nach zwei Monaten Schreckensherrschaft, nur 43,9 Prozent der Stimmen erreicht. Anschließend wurde das Ermächtigungsgesetz erlassen, das Hitler die uneingeschränkte Macht verlieh und der Demokratie in Deutschland endgültig den Todesstoß versetzte. Seither war die politische Opposition gezwungen, im Verborgenen zu operieren. Doch es gab sie noch: unter den Generälen des Oberkommandos, unter Politikern und Diplomaten, aber auch unter allen anderen Teilen der Bevölkerung: unter Bankern und Industriellen, unter Lehrern und Studenten, unter den einfachen Menschen in Deutschland, die nie zu den acht Millionen Mitgliedern der NSDAP zählten – eine hohe Zahl, die andererseits nur zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte. Das Wunder ist, dass es überhaupt noch so etwas wie Opposition gab.
Zu den Mutigsten zählten viele Arbeiter in den Häfen von Hamburg und Kiel, die traditionelle Hochburgen der Kommunisten und Sozialdemokraten waren. Im März 1936 wurde 5.000 Arbeitern in der berühmten Werft von Blohm und Voss befohlen, sich im Hauptgebäude einzufinden, um einer Rede des Führers zuzuhören. Sie wandten sich mittendrin einfach ab. Bei der Germania-Werft wurde eine andere Rede von rund 6.000 Arbeitern offen verhöhnt und verspottet, obwohl sie wussten, dass die Sturmtruppen der SA am Eingangstor warteten und sie verprügeln und ihre Anführer verhaften würden.
„Wir werden in einem künftigen Kriege nicht nur die Front der Armee auf dem Lande, die Front der Marine zu Wasser, die Front der Luftwaffe in der Luftglocke über Deutschland haben, wie ich es nennen möchte, sondern wir werden einen vierten Kriegsschauplatz haben: Innerdeutschland.“ Mit diesen Worten wies Himmler vor dem Offizierskorps der Wehrmacht im Sommer 1937 auf „den inneren Feind“ hin, für dessen Bekämpfung weitere Konzentrationslager, Massenverhaftungen und Erschießungen politischer Häftlinge unabdingbar wären, da „die Vernachlässigung des Kriegsschauplatzes Innerdeutschland, das müssen wir uns auf jeden Fall und müssen wir uns für immer klar machen, zu einem Verlust des Krieges führen würde“.
1938 war die Unzufriedenheit mit dem Nazi-Regime durchaus weit verbreitet. „Unser genereller Eindruck ist: Unter der Mehrheit der Menschen wächst der Unmut über das Regime stetig, und wenngleich es sich wohl nicht in offener Opposition äußert, ist sich die NSDAP darüber bewusst, dass sie nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat“, berichtete ein englischer Angestellter der Hambros Bank in Berlin dem Auswärtigen Amt in London. Solche und ähnliche Berichte gab es aus ganz Deutschland; manche davon wurden, vorwiegend geheim und teilweise verschlüsselt, durch einen Staatssekretär im Auswärtigen Amt in Berlin, Ernst von Weizsäcker, nach England weitergeleitet. Woche für Woche, so berichtete von Weizsäcker nach dem Krieg, habe er Berichte an seine Partner in London weitergegeben und damit sein Leben riskiert. In seinen Erinnerungen erklärte er: „Solche Regime wie dieses können nur mit Hilfe von außen beseitigt werden.“
Anfangs hatte es noch Anlass zur Hoffnung gegeben. Sir Eric Phipps, seit 1933 britischer Botschafter in Berlin, warnte, es werde früher oder später Krieg geben, falls Hitler nicht in die Schranken verwiesen würde; zudem seien die Behauptungen von einem einigen Deutschland reine Propaganda, und noch sei es Zeit zu handeln. Seine Berichte gingen an Sir Robert Vansittart, dem ständigen Sekretär des Außenministers in London, der sie zusammen mit den Berichten von Ernst von Weizsäcker sowie seinen eigenen eindringlichen Warnungen an die Regierung weiterleitete. Die deutsche Opposition setzte große Hoffnungen in Vansittart. 1937 aber war Neville Chamberlain Premierminister und Phipps nach Paris versetzt worden. Sein Vertreter in Berlin war nun Sir Nevile Henderson, ein Mann, der sich strikt Chamberlains Appeasement-Politik verschrieben hatte. „Sir NH ist eine nationale Gefahr in Berlin“, warnte Vansittart, aber niemand wollte es hören. Die englische Regierung verlegte sich stattdessen darauf, alles zu vermeiden, was Hitler provozieren könnte. Als Chamberlain Premierminister wurde, ließ er den unbequemen Vansittart rasch durch Sir Alexander Cadogan ersetzen. „Ich fürchte, er schreibt eine weitere Abhandlung“, notierte Cadogan über seinen Vorgänger. „Ich kann nur hoffen, dass er nicht wieder über die deutsche Gefahr schwadroniert.“
Bernhard war 15, als er im Januar 1939 seine Lehrstelle antrat. Das Arbeitsamt hatte ihn ein paar einfache Eignungstests ablegen lassen und ihm eine Stelle bei Hanomag verschafft, einer Firma, die Lastwagen und Fahrzeuge für die Landwirtschaft herstellte und eine Niederlassung in Bremen betrieb. Seit Hitlers Machtübernahme allerdings wurden bei Hanomag immer mehr Fahrzeuge für die militärische Aufrüstung produziert. Der kommende Krieg würde mit Kraftfahrzeugen geführt werden statt mit Pferden, und Diesel war der neue Treibstoff, der den Sieg bringen würde. Überall im Reich wurden Hunderttausende von Hitlerjungen in Fabriken und Handwerksbetrieben ausgebildet, alles mit Blick auf den Krieg.
An den Wochentagen stand Bernhard um 5.30 Uhr auf, aß sein Frühstück aus Kaffee, Brot und Marmelade und fuhr dann mit dem Fahrrad oder bei schlechtem Wetter mit der Straßenbahn zur Arbeit. Die Haltestelle lag zu Fuß drei Minuten entfernt in der Gröpelinger Heerstraße, und die Fahrt dauerte nur 20 Minuten, danach waren es noch einmal fünf Minuten zu Fuß zum Hanomag-Werk, so dass er um 6.30 Uhr seinen Overall übergezogen hatte und bereit für die Schicht war. Im ersten Jahr war Bernhard der einzige Lehrling unter 15 ausgebildeten Mechanikern. Der Vorarbeiter im Betrieb war ein übellauniger Mann namens Budde, ein begeisterter Anhänger der Partei, der von jedem mit „Meister“ angesprochen wurde. Zum Glück war er nicht für Bernhards tägliche Ausbildung zuständig; diese Aufgabe fiel einem Mann namens Karl Wegener zu, der sein Handwerk in Lingen erlernt hatte, der Heimatstadt des berühmten Rennfahrers Bernd Rosemeyer aus der Werksmannschaft von Auto Union, die so viele Weltrekorde gebrochen hatte. Wegener war ein freundlicher Mann, der sein Handwerk verstand und dem Jungen ein guter Ausbilder war. Sie kamen von Anfang an prima miteinander zurecht.
Mit Dieselgeräten zu arbeiten war eine schmutzige, stinkende Angelegenheit, vor allem im Winter, wenn die Lastwagenmotoren demontiert und mit einer beißenden Benzinlösung gereinigt werden mussten. Oft musste Bernhard in einer Grube unter den Fahrzeugen arbeiten. Am Ende der Schicht waren seine Hände rissig und die Nägel schwarz vor Dreck und Öl. Seine Overalls waren am Ende einer Arbeitswoche vor lauter Schmiere und Fett so starr und steif, dass sie von alleine aufrecht standen. Es gab zwei Pausen am Tag, eine von 9.45 bis 10 Uhr und eine weitere von 12 bis 12.30 Uhr. Dann aß Bernhard das Mittagessen, das seine Mutter am Abend vorher zubereitet hatte. Feierabend war um fünf, außer samstags, dann war die Schicht um 12.45 Uhr zu Ende, und die Belegschaft musste die komplette Werkstatt gründlich schrubben – die Fenstersimse, die Werkbänke, die Gruben und den Boden, der so dreckig war, dass dem Schmutz nur mit einem speziellen Reinigungsmittel von Henkel namens P3 beizukommen war. Zuallererst aber musste die ganze dicke Dieselschmiere heruntergekratzt werden. Dem Meister schien es zu gefallen, an den Samstagnachmittagen herumzustehen, seinen Untergebenen bei der Arbeit in den Gruben zuzusehen und darauf zu achten, dass alles sauber war.
Als Lohn bekam Bernhard zwei Reichsmark die Woche, plus eine weitere für die Reinigung seiner Overalls. Falls der Meister am Montagmorgen feststellte, dass der Overall nicht in einer Spezialreinigung, sondern daheim gewaschen worden war, wurde die Mark wieder abgezogen. Zum Glück konnte sich Bernhard etwas zu seinem mageren Gehalt dazuverdienen: Es waren ständig und überall Kraftfahrzeuge aller Art zu reparieren und zu warten, viel mehr, als die Werkstatt in einer Woche bewältigen konnte. Bernhards Ausbilder Wegener schob sonntags Überstunden und machte dazu ein paar private Arbeiten. Bernhard half ihm oft dabei, und sie teilten den Verdienst.
In jenen Jahren vor dem Krieg war das Leben noch überschaubarer, unbeschwerter und unschuldiger. Seine Freizeit verbrachte Bernhard mit Sport oder ging, sofern er das Geld übrig hatte, ins Kino. An solchen Abenden wartete seine Mutter darauf, dass er heimkehrte und ihr den ganzen Film von Anfang bis Ende erzählte. Wenn es ein schöner, rührender Film war, schaute sie ihn sich später allein oder mit einer der Tanten an, um tüchtig zu weinen. Mädchen spielten für Bernhard damals keine Rolle; er schien es gar nicht zu bemerken, wenn sie ihn auf der Straße anlächelten. Die einzige Frau in seinem Leben war seine Mutter, und seine einzige Leidenschaft war der Sport.
Nachdem er seine Lehre bei Hanomag angefangen hatte, blieb Bernhard nur noch wenig Zeit für den Sport, also beschränkte er sich weitgehend auf den Fußball, den er sonntagmorgens auf den Plätzen in der Umgebung spielte. Vor den Spielen halfen die Spieler dabei, die Kreidelinien auf dem Platz zu ziehen, dann zogen sie sich ihre Mannschaftstrikots an. Bernhard spielte Mittelstürmer und setzte sich energisch gegen jeden durch, der sich ihm in den Weg stellte – er wusste selber nicht, woher er diesen unbedingten Siegeswillen hatte. Das sportliche Talent hatte er vom Vater geerbt, aber die Angriffslust und das Temperament waren ihm eigen. Bernhard konnte ziemlich unausstehlich werden, wenn einer seiner Kameraden beispielsweise einen schlechten Pass spielte. Zwar lernte er im Laufe der Jahre, mit Anstand zu verlieren, doch war er während des Spiels immer so aufs Gewinnen fixiert, als hinge sein Leben davon ab. Auf jeden Fall war er immer der Star, derjenige, der alle anderen in den Schatten stellte.
Nach dem Spiel ging es unter die Dusche, danach heim zum Mittagessen. Oft wurde Bernhard schon sehnsüchtig von seiner Mutter erwartet, die ihm vom Küchenfenster aus zurief: „Geh und hol Vati aus der Gaststätte.“ Manchmal kam sein Vater so spät heim, dass seine Mutter den Tränen nahe war, und einmal verlor Bernhard die Beherrschung und hob den Arm, um ihn zu schlagen. „Schlage niemals deine Eltern!“, warnte sein Vater, und Bernhard hielt sich zurück. Aber war genau das nicht das Problem? Sein Vater machte, was er wollte, und alle anderen hatten zu spuren.
„Warum hast du Vati geheiratet?“, fragte er seine Mutter eines Abends. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, sie strickte im Licht der Stehlampe, er blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. In der Nacht hatte es wieder einen Streit zwischen den Eltern gegeben, sein Vater hatte die Mutter angeschrien, während Berni, Karl Heinz und Helga in ihren Betten lagen und so taten, als schliefen sie.
Die Mutter schaute ihren Sohn überrascht, fast geschockt, an. Anscheinend hatte er den Streit mitbekommen, aber sie wusste nicht recht, was sie ihm antworten sollte.
„Du bist zu jung, um das zu verstehen“, wich sie aus.
„Bin ich nicht. Sag mir einfach, warum du dir das antust?“
Sein Vater arbeitete an dem Tag eine Doppelschicht und kam erst um halb neun nach Hause. Im Bremer Hafen wurde nun rund um die Uhr geschuftet, in den Werften entstanden U-Boote für die deutsche Kriegsmarine, dafür wurden Arbeitskräfte gebraucht, die anderswo fehlten. Draußen wurde es bereits dunkel, Helga lag im Bett, Karl Heinz saß am Radio. Seine Mutter sagte etwas von der Zeit, die sein Vater im Weltkrieg in den Schützengräben verbracht hatte, und von den anstrengenden Doppelschichten und der ständigen Sorge, seine Arbeit zu verlieren. Bernhard ließ sich damit nicht abspeisen. Er verachtete seinen Vater dafür, dass er seine Mutter bedauern musste; ständig tat sie ihm leid, aber er konnte nichts daran ändern.
„Weißt du, er sah einmal sehr gut aus “, fügte sie etwas verlegen noch hinzu.
Als der Vater heimkam, sprang seine Mutter auf und stellte das Essen auf den Tisch. Herr Trautmann kaute fast wortlos seine Mahlzeit hinunter. Er habe noch mit den Offizieren von einem der Schiffe den einen oder anderen Whisky getrunken, erzählte er, aber das war ohnehin kaum zu übersehen. Nach dem Essen schlief er auf dem Stuhl neben dem Herd ein, die ungelesenen „Bremer Nachrichten“ auf den Knien.
An diesem Abend fand Bernhard heraus, wie viel sein Vater in der Woche verdiente. Seine Mutter wusste es nicht und hätte auch nicht gefragt, so war es damals. Frauen wie seine Mutter waren Sklaven, dachte Bernhard, nichts als Sklaven. Nun nahm er sie in die Diele mit, wo Herrn Trautmanns Lederwams am Haken hing. Seine Mutter hatte eine Heidenangst, denn sie ahnte, was er im Schilde führte. Der Lohnstreifen befand sich in der Innentasche. Bernhard schielte im fahlen Schein der Deckenlampe auf das Papierstück, dann gab er es an seine Mutter weiter. Sie schaute gar nicht hin, also sagte er es ihr: über 40 Reichsmark die Woche und das, wo der Durchschnitt bei kaum 25 lag.
„Aber doch nur, weil er eine Doppelschicht arbeitet“, flüsterte sie. „Steck es zurück, um Himmels willen.“
Am 1. September 1939 fielen die Deutschen in Polen ein. Der Teil der Bevölkerung, der die Nazis unterstützte, brach in grenzenlosen Jubel aus, und Hitler und Goebbels schwangen im Radio siegestrunkene Reden über neuen Lebensraum und die „Unterwerfung der minderwertigen Völker durch die Herrenrasse“. Auf den Straßen gab es Aufmärsche und Kundgebungen und nächtliche Fackelmärsche, bei denen alle Uniform trugen, Militärkapellen spielten und die hysterischen Massen „Sieg Heil! Sieg Heil!“ riefen. Die andere Hälfte der Bevölkerung verhielt sich still. In Arbeitslagern und Konzentrationslagern im ganzen Reichsgebiet waren zahllose Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Oppositionelle wie Bernhards Onkel Mencken inhaftiert, und wer bei Verstand war, wollte ihnen keinesfalls dorthin folgen. „[Es herrscht eine] schlechte Stimmung in der Bevölkerung“, notierte General Ritter von Leeb, der später als Oberbefehlshaber die Heeresgruppe Nord nach Russland führte, am 3. Oktober 1939 in seinem Tagebuch. „Keinerlei Begeisterung, keine Beflaggung der Häuser, alles erwartet den Frieden. Das Volk fühlt das Unnötige des Krieges.“
Innerhalb der Familie Trautmann war man geteilter Ansicht. Bernhard und Karl Heinz waren begeistert und käuten die halbverdauten Theorien wieder, die ihnen von der Hitlerjugend eingetrichtert worden waren. Frieda Trautmann sagte nicht viel; der Vater meinte, dass ein Krieg mit Großbritannien nun unvermeidlich wäre. „Und auch den werden wir verlieren“, ergänzte er. Für diese Bemerkung hätte ihn Bernhard beinahe geschlagen. Das war genau die Art von defätistischer Haltung, die sie bei der HJ verachteten – schwach und feige, es war die Art von Gesinnung, die einen ins Gefängnis brachte. Die erst neunjährige Helga saß nur da und fragte sich, was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte.
Am 3. September erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Für die schweigende deutsche Opposition kam die Kriegserklärung zu spät. Ein Jahr zuvor, als das Reich sich auf den Einmarsch in die Tschechoslowakei vorbereitete, hätte eine Intervention vielleicht etwas bewirken können. Hätten die Alliierten Hitler damals Paroli geboten, wäre er vielleicht noch aufzuhalten gewesen.
Bernhard, den Kopf voller Hirngespinste, verschwendete keinen Gedanken daran, was die Kriegserklärung bedeutete. Für ihn stellte sich ohnehin nur die Frage, wie lange Deutschland brauchen würde, um Frankreich und Großbritannien zu besiegen – vielleicht ein Jahr, vielleicht auch nur ein halbes. Polen war im Nu erobert worden, und das war ja auch kein Wunder: Die Polen verkörperten eine unterlegene Rasse, schmutzig, dumm, unzivilisiert, wie Dr. Goebbels im Film „Feldzug in Polen“ erläutert hatte. Aber was seltsam war: Die Russen waren doch auch Untermenschen, und trotzdem hatte der Führer mit Stalin einen Nichtangriffspakt ausgehandelt, und die beiden Länder hatten Polen unter sich aufgeteilt: Das Deutsche Reich erhielt den Westen und die Sowjetunion den Osten.
„Gehst du für deine Mutti zu Schmidt?“, lauerte Frau Mrozinzsky ihm wieder einmal im Hausflur auf. Sie hatte ein Tuch um den Kopf gebunden und trug wie immer eine große Schürze, die nicht besonders sauber aussah. Sie strahlte, lächelte ihn an und gab ihm ein wenig Geld, das sie in Zeitungspapier eingewickelt hatte. „Bring mir ein halbes Brot mit, Berni.“ Sie nannte ihn immer noch Berni. Es machte ihm nichts aus, er mochte Frau Mrozinzsky.
So wie er es sah, lebten die Mrozinzskys inzwischen so lange in Deutschland, dass sie gar keine richtigen Polen mehr waren. Aber er wunderte sich, dass die Nachbarin so fröhlich war, wo doch ihr Land gerade erobert worden war – das war nicht normal. Und was war mit Herrn Mrozinzsky? Wie fühlte er sich? Dieser Tage sah man Herrn Mrozinzsky kaum noch, weil er eine Arbeit in einer Munitionsfabrik vor den Toren der Stadt hatte. Er verließ früh das Haus und kehrte spät heim. Seine Frau musste nicht mehr Brot auf Pump kaufen – also profitierten wohl auch die Polen vom Tausendjährigen Reich des Führers.
Hitler war der größte Führer, den Deutschland jemals gehabt hatte, größer noch als Kaiser Wilhelm und sogar Bismarck. Hitler wusste über alles Bescheid, was im Reich vor sich ging – das jedenfalls war Bernhard immer wieder eingeimpft worden, und er glaubte es gerne.
Was Hitler allerdings nicht wusste, war, dass Winston Churchill, damals Erster Lord der Admiralität, eigene Pläne hatte. Am 5. September, zwei Tage nachdem Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatten, verkündete Präsident Roosevelt die Neutralität seiner USA. Sechs Tage später nahmen Churchill und Roosevelt eine geheime Korrespondenz auf, die sie den gesamten Krieg hindurch aufrechterhielten. „Ich möchte, dass Sie und der Premierminister wissen“, schrieb Roosevelt, „dass ich es allzeit begrüße, wenn Sie mich persönlich über alles, was Sie für wichtig erachten, auf dem Laufenden halten. Sie können mir jederzeit versiegelte Briefe per Diplomatenpost schicken.“
Von da an wusste Churchill, dass Amerika früher oder später auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintreten würde.