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KAPITEL 3 Nach Schlesien

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Im August 1936 fanden die Olympischen Spiele in Berlin statt. Berni saß am Küchentisch vor dem Volksempfänger, einem einfachen Radiogerät für alle, die sich nichts Besseres leisten konnten.

Ludwig Stubbendorf hatte soeben auf seinem Pferd Nurmi Gold für Deutschland im Vielseitigkeitsreiten gewonnen, vor dem Amerikaner Earl Foster Thomson auf Jenny Camp, und das Leben war schön. Berni langte über den Küchentisch und wuschelte durch das Haar seiner dreieinhalbjährigen Cousine Helga, die ein Marmeladenbrot aß, bevor es für sie Schlafenszeit war. Herr und Frau Trautmann hatten sie zwei Jahre zuvor ganz offiziell adoptiert. Sie war die Tochter von Friedas Schwester, aber wer der Vater war, wusste niemand so genau. Im Kinderzimmer stand nun ein zusätzliches kleines Bett, so dass man sich dort kaum noch bewegen konnte, aber Berni machte das nichts aus; er liebte Helga mit ihren weichen, blonden Locken und ihrem sonnigen Lächeln. Er fand sie wunderschön, unternahm Spaziergänge mit ihr und gab mit ihr bei seinen Freunden an.

„Komm schon! Komm schon!“, rief Berni über die knisternde Stimme des Kommentators hinweg, der fieberhaft die letzte Runde des 1.500-Meter-Laufs begleitete. Der Neuseeländer Jack Lovelock setzte soeben zu einem unwiderstehlichen Schlussspurt an und überholte Friedrich Schaumburg, eine der wenigen Medaillenhoffnungen des Reichs in den Laufwettbewerben, der aber auf der letzten Runde stark zurückfiel. Berni sprang erwartungsvoll auf, dann sank er enttäuscht in sich zusammen, den Kopf in den Händen. Was im Himmel war mit Schaumburg los? Warum hatte er nicht alles gegeben? Wie hatte er den Neuseeländer gewinnen lassen können?

Seine Mutter blickte lachend von ihrem Kochtopf auf.

„Das ist nicht komisch“, beschwerte sich Berni. Als Sportler wusste er, dass man ein guter Verlierer sein musste oder zumindest den Anschein erwecken sollte. Aber dies hier war wirklich schlimm. Dem Himmel sei Dank für Alfred Schwarzmann und Konrad Frey, die in den Turnwettbewerben am Seitpferd, den Ringen, am Sprung und am Barren die Konkurrenz in die Schranken wiesen. Zwei Gold- und drei Silbermedaillen hatten sie bereits gewonnen, und jedes Mal, wenn sie mit zum Hitlergruß gestrecktem Arm und zu den Klängen von „Deutschland, Deutschland über alles“ auf dem Podium standen, um ihre Medaillen entgegenzunehmen, liefen Berni wohlige Schauer über den Rücken.

Dennoch war es für Berni erstaunlich, mit welcher Überlegenheit die USamerikanischen Schwarzen sämtliche Laufwettbewerbe für sich entschieden. Sein Vater hatte am 24. Juli zugesehen, wie die SS Manhattan mit dem amerikanischen Olympiateam an Bord in Bremerhaven einlief. Insgesamt waren es 381 Athleten, darunter 18 Schwarze, alle in weißen Hosen, blauen Jacken und Strohhüten gekleidet. Vom Bremer Hauptbahnhof ging es mit dem Zug weiter nach Berlin. Die Strecke durch Bremen war mit hunderten, vielleicht sogar tausenden Hakenkreuzfahnen geschmückt, genug jedenfalls, um einen großartigen Anblick zu bieten und einen Jungen wie Berni stolz darauf zu machen, Deutscher zu sein.

Dem US-Team blieb vor dem Beginn der Spiele nur eine Woche, um sich von der neuntägigen Überfahrt zu erholen. Die meisten Laufwettbewerbe fanden bereits in der ersten Woche statt, aber davon ließen sie sich nicht beeindrucken: Die 18 Athleten errangen insgesamt 14 Medaillen, darunter acht goldene, vier allein durch Jesse Owens. Er siegte über die 100 Meter in der olympischen Rekordzeit von 10,3 Sekunden; sein schwarzer Mannschaftskamerad Ralph Metcalfe setzte sich gegen den Holländer Martinus Osendarp im Kampf um den zweiten Platz durch. Owens gewann außerdem Gold über 200 Meter, wobei er mit unglaublichen 20,7 Sekunden einen neuen Weltrekord aufstellte, sowie im Weitsprung, wo er 8,06 Metern erreichte und damit als erster Mensch bei Olympischen Spielen über acht Meter sprang. Darüber hinaus gewannen die beiden farbigen Amerikaner Archie Williams die 400 Meter und John Woodruff den 800-Meter-Lauf, außerdem die Mannschaft mit Owens und Metcalfe in der fabelhaften Weltrekordzeit von 39,8 Sekunden die 4 × 100-Meter-Staffel. Berni war hin- und hergerissen: Der Sportsmann in ihm war voller Bewunderung, aber der Hitlerjunge war geschockt. Warum waren „diese Neger“ so gut im Laufen und Springen, in eben jenen Disziplinen, die gerade er, Berni Trautmann, so gut beherrschte? Das war verwirrend und entsprach ganz und gar nicht den Lehren von der „Überlegenheit der arischen Rasse“, die ihm in der Hitlerjugend eingetrichtert wurden.

Die Übertragung wurde für eine von Hitlers Ansprachen unterbrochen. Diese Reden waren immer gleich, ausschweifend und langweilig. Berni stand auf und schaltete den Empfänger aus. Zwar wusste er, dass er das nicht tun sollte, aber er schenkte den Reden selten seine Aufmerksamkeit. Jedenfalls, sofern er nicht in der Schule war, wo sämtliche Schüler in der Aula antreten mussten, um gemeinsam mit den Lehrern, die auf einem Podium neben dem in voller Nazi-Montur gekleideten Rektor Schweers saßen, der Radioübertragung zu lauschen.

Als sein Vater nach Hause kam, setzten sie sich zusammen an den Küchentisch und studierten in den „Bremer Nachrichten“ die Ergebnisse der Spiele.

„Diese Neger“, sagte Herr Trautmann. „Wir können sie einfach nicht schlagen.“

„Warte nur, bis ich dabei bin“, entgegnete Berni großspurig; er glaubte wirklich, es schaffen zu können.

Ein paar Wochen später nahm Herr Trautmann Berni mit ins Alhambra-Kino in der Bremer Innenstadt, um sich die Wochenschauberichte von den Spielen anzusehen. Es war fabelhaft, allein das Olympiastadion war ein Meisterwerk, das 100.000 Zuschauern Platz bot, die „Heil! Heil!“ riefen und den Hitlergruß entboten, als der Führer hoch oben von seinem Podium aus die Spiele für eröffnet erklärte. 3.422 Athleten hatten das olympische Feuer von Athen nach Berlin getragen, jeder jeweils einen Kilometer. Der olympische Fackellauf wurde 1936 zum ersten Mal durchgeführt und war eine Idee der deutschen Organisatoren. Jedes Mal, wenn die Fanfaren die Medaillenzeremonien ankündigten und es einen deutschen Sieg zu feiern gab, skandierten die Zuschauer: „Heil! Heil!“ Für Berni, der mit großen Augen in der ersten Reihe des Kinosaals saß, war das ein erhebendes Gefühl. Am Ende der Vorführung standen alle zu den Klängen von „Deutschland, Deutschland über alles“ auf und hoben vor der leeren Leinwand den rechten Arm zum Hitlergruß, bevor sie sich wieder hinaus ins wirkliche Leben begaben.

Zwei Jahre später, als Leni Riefenstahls Film „Olympia“ in die Kinos kam, blickten Vater und Sohn erneut gebannt auf die Leinwand, fasziniert von den imposanten Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Heldentaten arischer Athleten und der schieren Schönheit der Herrenrasse. Unter anderem sahen sie Siegfried Eifrig, der die olympische Fackel vom Brandenburger Tor ins Stadion und eine gewaltige Treppe hinauftrug, um die hoch oben gelegene Feuerschale zu entzünden. Hatte es jemals einen perfekteren Menschen als Eifrig gegeben, in seiner makellos weißen Weste und Hose und seinen blonden, an den Seiten kurz geschorenen Haaren? Prinz Siegfried nannten sie ihn, und er lief mit natürlicher Leichtigkeit und Anmut, in gleichmäßigem Tempo, nie zagend, nie zögernd, die Augen nach vorn gerichtet, ganz auf die große Aufgabe konzentriert. Berni wusste nicht, dass Eifrig nur aufgrund seines Aussehens ausgewählt worden war und nicht etwa wegen seiner sportlichen Leistungen, die nicht ausreichten, um an den Spielen selbst teilzunehmen.

Die ganze Welt schaute im August 1936 auf Nazi-Deutschland. Für das Reich war es ein Propagandacoup erster Güte. Einige wenige Länder hatten zunächst Vorbehalte, durch ihre Teilnahme ein Regime zu legitimieren, das wegen seines Umgangs mit politischen Gegnern und insbesondere den Juden in Verruf geraten war. Vor allem in den USA hatte es große Diskussionen gegeben, aber letztendlich setzten sich auch dort die Befürworter durch. Die Nazis wiederum fanden es ziemlich amüsant, dass es vor allem die Schwarzen aus den USA waren, die Medaillen für ein Land gewannen, in dem sie selbst diskriminiert waren. Die Nazis verhielten sich da konsequenter: Sie nahmen die Juden gar nicht erst in ihre Olympiamannschaft auf, abgesehen von der Fechterin Helene Mayer, deren Teilnahme als Alibi gedacht war.

Der Mann, der das triumphale Spektakel der Olympischen Spiele ausgeheckt hatte, war Joseph Goebbels, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. 20 Übertragungswagen mit 300 Mikrofonen standen den Heerscharen ausländischer Kommentatoren, die in 28 verschiedenen Sprachen in der ganzen Welt über die Spiele berichteten, zur Verfügung. Für die Einheimischen gab es sogar noch etwas Besseres: Liveübertragungen in öffentliche Fernsehstuben in ganz Berlin und Potsdam. Die Welt sollte sehen, dass Nazi-Deutschland an der Spitze nicht nur der sportlichen, sondern auch der technologischen Entwicklung stand. Die Wochenschauen, wie sie Berni und sein Vater im Alhambra sahen, wurden von Millionen von Menschen verfolgt.

Leni Riefenstahls „Olympia“ war ebenso erfolgreich wie ihr zwei Jahre zuvor entstandener, ebenfalls von Goebbels in Auftrag gegebener Film „Triumph des Willens“, der die „Überlegenheit der arischen Rasse“ veranschaulichen sollte. Für „Triumph des Willens“, einen der bemerkenswertesten Propagandafilme, die jemals gedreht wurden, kamen Dutzende Kameras zum Einsatz, um in dramatisch ausgeleuchteten Perspektiven den NS-Parteitag von 1934 in Nürnberg zu dokumentieren. In ungewöhnlichen Bildern zeigt er die endlosen Reihen der Sturmtruppen und der SS, die in ihren schwarzen Uniformen und Stahlhelmen im Stechschritt – und kaum wie menschliche Wesen wirkend – stundenlang an Hitler vorbeimarschierten. Der Film macht von Beginn an keinen Hehl aus seinen Absichten. Die Anfangssequenz zeigt, untermalt von den Klängen Richard Wagners, einen langsamen Schwenk vom Reichsadler hinunter zu dem in Fraktur gehaltenen Schriftzug „Triumph des Willens“, dann folgen einigen Einblendungen:

„20 Jahre nach Ausbruch des Weltkrieges

16 Jahre nach dem Anfang deutschen Leidens

19 Monate nach dem Beginn der deutschen Wiedergeburt

flog Adolf Hitler wiederum nach Nürnberg, um Heerschau abzuhalten über seine Getreuen.“

Anschließend sieht man faszinierende Luftaufnahmen von Hitlers Flugzeug über den Wolken von Nürnberg, begleitet von einer orchestralen Fassung der NSDAP-Parteihymne, des „Horst-Wessel-Lieds“. Und weit, weit darunter marschieren in den mittelalterlichen Gassen von Nürnberg die endlosen Kolonnen auf dem Weg zum riesigen Stadion, wo die Parteimitglieder sich versammeln, um den prophetischen Worten des Führers zu lauschen.

Bernis Lieblingsstelle in „Triumph des Willens“ war die Sequenz über die Hitlerjugend, in der 60.000 seiner Kameraden mit Hitlergruß und „Heil! Heil!“-Rufen ins Stadion einmarschieren und dem Führer die Ehre erweisen. Riefenstahl filmte zahlreiche kunstvolle Aufnahmen dieser Jungen, von denen manche gerade zehn Jahre alt waren, aber alle blond, alle arisch, alle wie Berni. Manche trugen Fahnen, andere Banner, alles war mit Hakenkreuzen geschmückt; aber die wirklich Glücklichen, dachte Berni, waren diejenigen in den Kapellen, die die Trommel schlugen und die Trompeten oder Fanfaren bliesen und die Märsche spielten.

Dann betrat Baldur von Schirach das Podium, um Hitler für seine Rede vor der Jugend anzukündigen, die er „Fleisch von unserem Fleisch“ und „Blut von unserem Blut“ nannte. „Nach einem Jahr kann ich euch hier wieder begrüßen“, deklamierte Hitler, warf sich in Pose und wartete, dass die „Heil!“-Rufe verklangen. „Wir wollen, dass dieses Volk einst nicht verweichlicht wird, sondern dass es hart sein kann, und ihr müsst eure Jugend dafür stählen.“ Begeisterte Heil-Rufe hallten durchs Stadionrund, und alle standen auf, den Arm steif zum Hitlergruß gestreckt. „Ihr müsst lernen, Entbehrungen auf euch zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen!“. Mit sich überschlagender Stimme erreichte er den Höhepunkt: „Aber in euch wird Deutschland weiterleben. Und wenn von uns nichts mehr übrig sein wird, dann werdet ihr die Fahne, die wir einst aus dem Nichts hochgezogen haben, in euren Fäusten halten müssen!“ Harte Männer, Entbehrungen, die Fahne, eiserne Fäuste: Dies waren Schlagworte, die jedem Hitlerjungen eingebläut wurden und in deren Logik sie zu Millionen sterben sollten. Dann erhoben sich 60.000 Stimmen, um „Unsere Fahne flattert uns voran“ zu singen, das Lied der Hitlerjugend.

Goebbels wusste von vornherein, dass Deutschland bei den Olympischen Spielen in Berlin die meisten Medaillen gewinnen würde, 89 gegenüber 56 der USA, darunter auch die Goldmedaille im Handball, das erstmals bei Olympia dabei war. Herausragend waren die Deutschen außerdem in sämtlichen Turndisziplinen sowie bei den Reitwettbewerben, die sie dank ihrer langen militärischen Tradition dominierten. Aber für Goebbels war der Sport nur Mittel zum Zweck. „Der deutsche Sport hat nur eine Aufgabe“, verkündete er, „nämlich den Charakter des deutschen Volkes zu stärken und ihm den Kampfgeist und die standhafte Kameradschaft zu verleihen, die im Kampf um die Existenz des Reiches selbst notwendig ist.“ Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten sah es genauso: „Der Sport ist ein Weg, die Schwachen, die Juden und die anderen Unerwünschten auszumerzen“, sagte er. „Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt“, hieß es in einem der Marschlieder der HJ, das sich fröhlich ganz diesem Geist verpflichtete.

Von nun an wurde den Deutschen tagtäglich und bei jeder Gelegenheit in den Zeitungen, den Kinos und im Radio eingetrichtert, dass der Jude ein Parasit sei und verantwortlich für alles Ungemach, welches das Reich zu ertragen habe. Juden, so behaupteten die Nazis, waren es, die als maßgebliche Politiker und Diplomaten den harten und demütigenden Bedingungen des Versailler Vertrages zugestimmt hätten; sie waren es, die für die fürchterliche Weltwirtschaftskrise verantwortlich wären; sie waren es, die zu ungeheuerlichen Zinsen Geld an arme Teufel verliehen; sie waren die Kaufleute, die Bankiers, die Verleger, die Anwälte, die Doktoren und die Universitätsprofessoren, diejenigen, die die besten Berufe ausübten und das meiste Geld besäßen – aber damit würde es bald vorbei sein. Zur Zeit der Olympischen Spiele im August 1936 war es bereits an der Tagesordnung, dass jüdische Geschäfte und Betriebe mit dem Davidsstern beschmiert wurden und Schilder warnten: „Deutsche, kauft nicht beim Juden!“ Während der zwei Wochen der Spiele verschwanden die Schilder, aber als die Spiele vorbei und die Ausländer wieder abgereist waren, tauchten sie sofort wieder auf.

Natürlich wurden die Errungenschaften des Reichs bei jeder Gelegenheit hervorgehoben, vor allem die Tatsache, dass die Arbeitslosenzahl von fünf Millionen im Jahr 1933 inzwischen auf nur noch zwei Millionen gesunken war. Die Weltwirtschaftskrise war überwunden, und Hitlers Regierung nahm hohe Kredite auf, um das Heer der bisher Arbeitslosen für sein wichtigstes industrielles Projekt zu mobilisieren: die Wiederbewaffnung. Bereits 1935 hatten die Nazis unter Missachtung des Versailler Vertrages das „Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht“ erlassen, um die bisherige Reichswehr abzulösen, die laut Vertrag lediglich 100.000 Mann und nur leichte Waffen umfassen durfte. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs sollte die Wehrmacht nun auf drei Millionen Soldaten aufgestockt werden. Neben dem Heer gab es die Kriegsmarine, die ihren Zweck schon im Namen trug, und die von Feldmarschall Hermann Göring befehligte Luftwaffe. 1936 besetzten deutsche Truppen das Rheinland, das nach dem Versailler Friedensvertrag eine entmilitarisierte Zone bilden sollte, um Deutschland von Angriffen auf Frankreich abzuhalten.

Abgesehen von den Millionen für die Wehrmacht rekrutierten Männern, wurden zahllose Arbeitslose eingesetzt, um neue Militärflughäfen, Kasernen und Flottenstützpunkte zu errichten, in den Munitionsfabriken zu schuften und die Autobahnen zu bauen. Die Plackerei beim Autobahnbau bedeutete einen Zehn-Stunden-Tag, bei höchstens zehn Urlaubstagen im Jahr für 16 Reichsmark die Woche, wovon 15 Pfennige am Tag für die Strohmatten fällig wurden, auf denen die Arbeiter in Holzbaracken schliefen, sowie weitere 35 Pfennige für eine fast ungenießbare Mahlzeit. Nach Abzug von Steuern und anderen Beiträgen konnten die Arbeiter von Glück reden, wenn sie zwölf Reichsmark mit nach Hause nahmen, was weniger als dem halben Durchschnittseinkommen entsprach. Kaum verwunderlich, dass die meisten bald genug vom Autobahnbau hatten, aber viele Arbeiter waren zwangsverpflichtet worden und konnten nicht so einfach kündigen. Die Wiederbewaffnung des Deutschen Reiches fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Doch die Westmächte Frankreich, England und die USA ließen es geschehen, und das war weder der erste noch der letzte fatale Fehler ihrer Appeasement-Politik.

Berni war inzwischen 13 Jahre alt. Ab welchem Alter ist man für sein eigenes Denken und Handeln selbst verantwortlich und kann zur Rechenschaft gezogen werden? Schon seit 1933 hatte es in Bremen, so wie in jeder anderen deutschen Stadt, gezielte Terroraktionen der Gestapo und der SS gegeben. Plötzlich und unangekündigt tauchten Lastwagen in der Wischhusenstraße auf, Uniformierte sprangen heraus, feuerten in die Luft und schrien: „Rein! Alle rein! Schließen Sie die Fensterläden!“ Die Leute rannten panisch umher, sammelten ihre Kinder ein, liefen in ihre Wohnungen und schlossen Fenster und Türen. Solange diese Ausgangssperre galt, wagte niemand, auch nur aus dem Fenster zu schauen. Auch die Schule blieb geschlossen. Unter den Männern waren stets auch einige ältere Hitlerjungen, und während die Leute in ihren Häusern hockten, wurden Nachbarn aus ihren Wohnungen gezerrt und gewaltsam auf die Lastwagen verfrachtet. Im Bremer Hafen arbeiteten viele Kommunisten und Sozialdemokraten, also gab es, zumindest in den ersten Jahren, ziemlich viele solcher Aktionen. Erst wenn Lastwagen verschwunden waren, trauten sich die eingeschüchterten Anwohner wieder auf die Straße. Sie wagten kaum, miteinander zu sprechen, weil niemand wusste, wer diejenigen, die abtransportiert worden waren, denunziert hatte.

Viele Male verließ Berni die Wohnung und sah Blutlachen auf der Straße. Das war nun ein Teil seines alltäglichen Lebens, ebenso wie die Kundgebungen und die Aufmärsche. Aber was hätte er dagegen schon ausrichten können? Oder gegen das Verschwinden seiner jüdischen Mitschüler, die nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze 1935, vor allem dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, nach und nach von den staatlichen Schulen ausgeschlossen wurden? Wie für die meisten Menschen im Reich war auch für Berni die Antwort: nichts. Man lebte weiter sein Leben, und für Berni bedeutete das in erster Linie Sport.

Kaum eine Woche verging, in der nicht irgendein Sportturnier anstand: Leichtathletik, Völkerball, Handball oder Fußball. Egal ob lokale, regionale oder nationale Wettbewerbe, sämtliche Veranstaltungen wurden vom Reichsministerium für Sport organisiert und auf lokaler Ebene von den Nazis aus der Hitlerjugend begleitet. Lediglich der Fußball konnte sich anfangs noch ein wenig der staatlichen Einmischung entziehen. Bei seiner TuRa-Mannschaft spielte Berni Mittelläufer, manchmal auch linker Läufer, und fiel nicht nur durch sein Talent, sondern ebenso durch seine unbändige Angriffslust und seinen unbedingten Siegeswillen auf. Seine Eltern hätten diese Wesenszüge vielleicht dämpfen können, doch er gefiel sich darin, genau die Charaktereigenschaften zur Schau zu stellen, die von der HJ so sehr gepriesen wurden.

Berni glänzte bei fast jedem Auftritt und gewann zahllose Wettbewerbe. Wenn er nicht selbst Fußball spielte, war er ein begeisterter Zuschauer. Sonntags schlang er nach dem morgendlichen Training sein Mittagessen hinunter, bevor er sich mit seinen Kameraden auf den Weg zum Stadion von Werder Bremen jenseits der Innenstadt machte. Jeder von ihnen hatte zehn Pfennige für die Straßenbahn und zehn weitere für den Eintritt dabei. Manchmal nahmen sie die Bahn, meistens aber liefen sie die 40 Minuten zum Stadion und nach dem Spiel die 40 Minuten wieder zurück. Am Stadion angekommen, überlegten sie sich, ob sie den Eintritt bezahlen oder lieber versuchen sollten, unter dem Zaun hindurchzukriechen. Sie kannten sämtliche Lücken, aber so einfach war es nicht, denn mit den Sicherheitskräften war nicht gut Kirschen essen. Trotzdem kamen sie meistens irgendwie hinein und gaben das Geld lieber für Eis aus, ein Luxus, den sie sich sonst nicht erlauben konnten. Außerdem betrieb Bernis Onkel Karli in der Nähe des Stadions eine Gaststätte. Onkel Karli war ein nachsichtiger Mann, der immer herzlich lachen musste, wenn er die ganze Bande nach den Spielen auf der Straße herumlungern sah. „Kommt rein“, winkte er sie heran und spendierte ihnen etwas zu trinken und dazu manchmal ein belegtes Brot.

Berni fand, dass sein Leben immer besser wurde. 1937, mit 14 Jahren, verließ er die Schule, außerdem wechselte er zur eigentlichen Hitlerjugend. Inzwischen wurde dies von den Jugendlichen ohnehin erwartet. Im „Gesetz über die Hitler-Jugend“ hieß es: „Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefasst.“ Und weiter: „Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.“ Neue Mitglieder wurden meist am 20. April, Hitlers Geburtstag, eingeführt.

In diesem Jahr 1937 passierte etwas, das Bernis Schicksal stark beeinflussen sollte: Er wurde als einer vor nur 60 Jungen aus der Region Bremen ausgewählt, um ein Jahr fernab von zu Hause auf dem Land zu verbringen, als Teil einer nationalen Maßnahme der Hitlerjugend namens „Landjahr“. Sein außergewöhnliches sportliches Talent, gepaart mit seinem arischen Aussehen, hatte ihm diese Ehre beschert. Die Jungen lebten ein Jahr lang auf einem Schloss in Schlesien nahe der deutsch-tschechischen Grenze, um auf einem Bauernhof zu arbeiten.

Auch dies gehörte zu den Plänen der Nazis, neuen Lebensraum für das deutsche Volk zu erobern und in den Territorien, die die Deutschen im Ersten Weltkrieg eingebüßt hatten, die dort lebende deutsche Minderheit für ihre Sache zu gewinnen. Hitler hatte bereits 1923 in „Mein Kampf“ darüber geschrieben. Nun war er bereit, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Das Reich brauche Lebensraum als „Rohstoff- und Ernährungsbasis“, verkündete er bei einem geheimen Treffen in der Reichskanzlei am 5. November 1937 und offenbarte führenden Köpfen des Nazi-Regimes seine Kriegspläne. Reichswehrminister Werner von Blomberg war ebenso wenig überzeugt davon wie Außenminister Konstantin von Neurath und der Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch. Binnen weniger Monate waren sie, ebenso wie 16 weitere Generäle, die nicht den gewünschten Eifer an den Tag legten, ihrer Ämter enthoben. „Sie sollten Krieg, Krieg, Krieg wollen“, forderte Hitler.

Berni hatte unterdessen seine Einladung erhalten, lief freudig nach Hause und wedelte aufgeregt mit dem Formular, das von beiden Eltern und ihm selbst unterschrieben werden musste. Sein Vater war noch nicht daheim; seine Mutter las sich das Schreiben sorgfältig durch, dann setzte sie sich an den Küchentisch und kämpfte mit den Tränen.

„Was ist denn los?“

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Freust du dich nicht? Nur 60 von uns wurden ausgewählt. Das ist eine große Ehre, Mutti.“

„Du bist erst 14.“

„Fast 15.“

„Kommst du in den Ferien heim?“

„Nein“, antwortete er bockig.

Also warteten sie auf den Vater. Frieda Trautmann stand am Herd, blickte aber die ganze Zeit aus dem Küchenfenster und hielt Ausschau nach seinem Fahrrad, während Berni mit Helga am Tisch saß und ihr beim Malen zusah. Schließlich kam der Vater nach Hause. Sie hörten ihn die Treppe heraufsteigen, dann zog er sich in der Diele den Lederwams aus und setzte sich auf die Bank, um die Hausschuhe anzuziehen. Er sah müde aus, als er in die Küche kam.

„Was ist los?“ Er schaute von Berni zu seiner Frau und dann wieder zu Berni. Vater Trautmann las sich, langsam und schweigend, das Formular durch, dann bat er Berni, ihm Tinte und Federhalter zu holen, und unterschrieb, ohne ein Wort zu sagen, bevor er den Federhalter an seine Frau weitergab.

„Wir können nichts dagegen tun“, sagte er, stand auf und gab Berni einen Klaps auf den Rücken. „Gut gemacht, mein Junge“, fügte er hinzu, dann stellte er das Radio an, um die Abendnachrichten zu hören.

Typisch Vati, dachte Berni – es interessiert ihn eigentlich gar nicht. Die Unterschrift war eine reine Formalität, das wusste seine Mutter. Sie hatte keine Wahl, aber sie spürte, dass sie Berni nun verlieren würde, ihren Sohn, ihre Freude, das Licht ihres Lebens.

Schon zwei Wochen später war er fort. Die Eltern, Karl Heinz und Helga begleiteten ihn, im besten Sonntagsstaat, in der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, um ihn zu verabschieden. Als Berni aus dem Zugfenster zum Abschied winkte, sah er seine Mutter auf dem Bahnsteig weinen, während sein Vater unbeholfen versuchte, sie zu trösten. Der Junge aber verspürte nichts als Euphorie und Vorfreude.

Das Schloss hieß Schweibersdorf und lag direkt an der Grenze zur Tschechoslowakei. Die Nächte verbrachten die Jungen in Schlafsälen, der Tagesablauf war nahezu militärisch organisiert. Um 5.30 Uhr wurde geweckt und die Fahne gehisst, danach mussten die Jungen abwechselnd Wachdienst schieben, von sechs bis zwei und von zwei bis zehn Uhr abends. Es gab Inspektionen und Drill, und jeden Morgen nach dem Appell auf einem behelfsmäßigen Exerzierplatz marschierten die Jungen in Kolonne zur Arbeit auf einem Bauernhof im nächstgelegenen Dorf. Den Rudelführern, zu denen auch Berni gehörte, gelang es allerdings bald, ein Pferd mit Karren für sich zu organisieren. Auf den Feldern wurden hauptsächlich Kartoffeln und Weizen angebaut, und die Jungs halfen überall mit: Sie bedienten den von Pferden gezogenen Holzpflug, ernteten Kartoffeln, misteten den Schweinestall aus und melkten Kühe. Außerdem mussten sie Putz- und Küchendienst leisten, eine schmutzige Angelegenheit, die alle hassten. An jedem Samstagmorgen gab es Unterricht, in dem sie einer der Jugendführer in Nazi-Ideologie, Rassenkunde sowie deutscher Mythologie und Geschichte unterwies, die üblichen Themen also, denen kaum jemand große Beachtung schenkte. Inzwischen gab es über 78.000 HJ-Führer, die in der Reichsführerschule in Potsdam und Hunderten weiteren kleineren Schulungsstätten im ganzen Reich ausgebildet wurden. Die meisten von ihnen wurden aus der HJ selbst rekrutiert. Das waren diejenigen, die sich in der Organisation hervorgetan hatten, die harten Burschen, die Platzhirsche. Es waren diejenigen, die später auch bei der SS Karriere machen würden.

Außer für ideologische Schulung waren die HJ-Führer auch für Disziplin, militärisches Training und Unterhaltung zuständig. Einer der Salons auf Schloss Schweibersdorf war zu einem kleinen Theater umfunktioniert worden, wo die Einheimischen eingeladen waren, einen Abend lang den Lehren der Nazipartei zu lauschen oder den Jungen der HJ zuzuhören, die statt der Arbeitskleidung nun wieder ihre schicken Uniformen trugen und alte deutsche Volkslieder oder Nazi-Märsche zum Besten gaben.

Der Bauer, der für die Hilfe auf seinem Hof nur mit politischer Zuverlässigkeit bezahlte, hieß Henning. Schon nach zwei Monaten verlor er allerdings fast die Hälfte seiner jugendlichen Arbeitskräfte. Die besten Sportler der Gruppe, zu denen natürlich auch Berni zählte, wurden in Mannschaften eingeteilt und reisten in den folgenden Monaten durch die östlichen Regionen des Reichs, die an Polen, die Tschechoslowakei und Österreich grenzten. Dort traten sie zunächst auf lokaler und später auf regionaler Eben gegen andere von der HJ geförderte Mannschaften an. Bernis Mannschaft vertrat sowohl Bremen als auch Niederschlesien. Für Berni ging es einzig und allein um den Sport und es war die schönste Zeit seines bisherigen Lebens. Sie fuhren mit dem Bus umher und schauten über die Grenzbefestigungen hinüber zu den Ländern, die, wie sie in den Vorträgen gelernt hatten, schon bald Teile des Großdeutschen Reichs sein würden.

Und sie mussten nicht lange warten. Am 13. März 1938 sollten die Österreicher darüber abstimmen, ob ihr Land unabhängig bleiben oder sich Deutschland anschließen würde. Hitler hatte indes nicht vor, die Entscheidung abzuwarten, denn er befürchtete, dass die Mehrheit für die Unabhängigkeit votieren könnte. In der Nacht auf den 12. März wurden deutsche Truppen an der Grenze zusammengezogen und marschierten am Morgen im Triumphzug und unter dem Jubel großer Teile der Bevölkerung in Österreich ein. Goebbels hatte den „Anschluss“, wie die Nazis die Besetzung nannten, gewohnt clever inszeniert. „Ich glaube, dass es auch Gottes Wille war, von hier einen Knaben in das Reich zu schicken, ihn groß werden zu lassen, ihn zum Führer der Nation zu erheben, um es ihm zu ermöglichen, seine Heimat ins Reich zu überführen“, verkündete der gebürtige Österreicher Adolf Hitler in einer Radioansprache an das jetzt Großdeutsche Reich, die in jeder Schule, jedem Büro, jeder Fabrik, jedem HJ-Zeltlager und in jeder anderen öffentlichen Institution gehört wurde. Und nicht zum ersten Mal behauptete Hitler, er sei nichts weiter als ein „Werkzeug der Vorsehung“, ganz so, als habe er, ein einfacher Sterblicher, mit alledem nichts zu tun.

Am nächsten Tag wurden jüdische Bürger gezwungen, unter dem Gejohle und Gelächter tausender Schaulustiger und von den Wochenschauen genüsslich im ganzen Reich verbreitet, Plakate von den Wänden zu schrubben. Es waren Aufrufe, bei der Volksabstimmung, die die Nazis verhindert hatten, für die Unabhängigkeit zu stimmen. Andere Juden wurden genötigt, öffentliche Toiletten zu putzen, unter anderem diejenige des neuen SS-Hauptquartiers – eine weitere symbolische Geste, die deutlich machen sollte, wer nun das Sagen hatte. In den folgenden Wochen und Monaten wurden tausende Kommunisten, Sozialisten und Juden festgenommen und in Konzentrationslager deportiert; ihr Vermögen wurde vom neuen Staat konfisziert.

Das alte Radio im Schloss knisterte stark, so dass es nicht ganz einfach war, den Nachrichten und Ansprachen zu folgen. Auf jeden Fall aber ließen der Jubel der österreichischen Bevölkerung, die Klänge der mitreißenden Marschmusik und Goebbels flammende antisemitische Reden die dicken Mauern von Schloss Schweibersdorf erzittern. Gemäß den Weisungen der Partei hatten die HJ-Führer alle Jungen antreten lassen, um der Radiosendung zu lauschen und zu feiern.

Für Berni war das längst nicht so interessant wie die Übertragung, der sie drei Monate später zuhörten, im Juni 1938. Da nämlich fand der Rückkampf zwischen Max Schmeling und Joe Louis statt, der über den unumstrittenen Weltmeister im Schwergewicht entscheiden sollte. Schmeling war einer der Helden von Nazi-Deutschland. Seit seinem zwei Jahre zuvor im Yankee Stadium von New York errungenen K.o.- Sieg gegen den Schwarzamerikaner Louis wurde Schmelings Boxkunst als eines der besten Beispiele für die „Überlegenheit der arischen Rasse“ gefeiert. Dass Louis trotz dieser Niederlage den amtierenden Weltmeister Jim Braddock herausfordern durfte und gegen ihn den WM-Titel holte, hatte zu hitzigen Diskussionen geführt. Nach Ansicht der Deutschen war es eine abgekartete Sache gewesen.

Nun bekam Schmeling die Chance, die Frage ein für alle Mal zu klären. Mehrere Wochen lang bereiteten sich die beiden Kontrahenten intensiv auf den Kampf vor, Schmeling in Deutschland, Louis in seinem Trainingslager nördlich von New York. Über 70.000 Zuschauer waren am 22. Juni erneut im Yankee Stadium dabei, und der Kampf wurde in englischer, deutscher und spanischer Sprache übertragen. Das Radio im Schloss Schweibersdorf knackte und pfiff wie üblich, die Klangwellen kamen mehr schlecht als recht aus dem fernen Amerika herüber. Berni hämmerte an die Wand: „Seid still’“, rief er den anderen zu. Der Kampf dauerte nur zwei Minuten und 40 Sekunden. Louis bearbeitete Schmeling mit einer Serie fürchterlicher Schläge und schickte ihn frühzeitig in die Seile. Nach dem dritten Niederschlag warf Schmelings Trainer das Handtuch, und im Yankee Stadium brandete grenzenloser Jubel auf. Auf Schloss Schweibersdorf hingegen ließen Berni und seine Kameraden ungläubig und enttäuscht die Köpfe hängen. Das konnte unmöglich wahr sein, sicher war Schmeling erneut betrogen worden. Das Reich behauptete später, Louis hätte unfair gekämpft und mit einem Schlag in die Nieren gegen die Regeln verstoßen. Schmeling wusste, dass es nicht stimmte, sagte aber nichts, denn das hätte üble Konsequenzen für ihn gehabt. Nur die wenigsten Leute wussten, dass Schmeling nie Parteimitglied war. Jahre später, nach dem Krieg, wurden er und Louis sogar Freunde.

Berni wohnte noch immer im Schloss, als es am 9. November 1938 zur „Pogromnacht“ kam, auch „Kristallnacht“ genannt, in der im ganzen Reich Synagogen zerstört und Juden ermordet wurden. Die Pogrome waren keineswegs spontane Aktionen, wie von den Nazis behauptet. Die Vorbereitungen waren lange im Voraus getroffen worden, und man wartete nur noch auf die passende Gelegenheit. Diese ergab sich am 7. November, als Ernst von Rath, ein Angestellter der deutschen Botschaft in Paris, erschossen wurde, und zwar von Herschel Grynszpan, wie die Nazis behaupteten. Wer weiß, wer wirklich hinter dem Attentat steckte. Grynszpan war ein 17-jähriger Jude, dessen Eltern kurz zuvor aus Deutschland vertrieben worden waren. Der Leiter des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich sandte umgehend ein Fernschreiben an alle Hauptquartiere der Gestapo im ganzen Reich mit umfangreichen Anweisungen. „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z. B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist). Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden“, lauteten einige der Anordnungen. Weiterhin seien „so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde, männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen.“ Die Spezialeinheiten, die auf ihre Anweisungen gewartet hatten, bestanden aus Männern der SA und der SS, außerdem Mitgliedern der HJ. Über eintausend Synagogen wurden zerstört.

Wieder waren in Schweibersdorf alle um das Radio versammelt und lauschten gebannt. Bauer Henning nickte anerkennend, manche der Jungen jubelten. „Richtig! Gut! Geschieht ihnen recht!“ Berni fragte sich, was in Bremen geschehen war. Die Synagoge befand sich in der Gartenstraße. Sie war nicht besonders groß, und er erinnerte sich nicht, viele Juden gesehen zu haben, zumindest nicht solche mit Kappen und dergleichen, aber er erinnerte sich an einen Jungen namens Goldstein, der in die Klasse über ihm gegangen und mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert war. Und warum auch nicht? Amerika war bestimmt kein schlechter Ort zum Leben.

Im Sommer, nach zahlreichen Wettbewerben auf lokaler und regionaler Ebene, schaffte es Bernis Mannschaft zu den nationalen Meisterschaften bei der Jugendolympiade in Berlin, die im Olympiastadion ausgetragen wurde. Als sie ins Stadion einmarschierten, schaute Berni sich fasziniert im weiten Rund um: Er, Berni Trautmann, stand dort, wo Jesse Owens gestanden hatte, und er schlief in den Räumen, in denen Schwartzmann und Konrad Frey geschlafen hatten. In drei Einzeldisziplinen belegte Berni den zweiten Platz: im Weitsprung, beim 60-Meter-Lauf und im Granatenwerfen. Auch seine Mannschaft wurde insgesamt Zweiter, was eine großartige Leistung war. Reichssportminister von Tschammer und Osten überreichte die Medaillen. Für Berni war es der schönste Moment im schönsten Jahr seines Lebens. Als er nach Hause kam, war er ein paar Zentimeter gewachsen, gebräunt, gesund und arrogant. Von nun an wollte er Bernhard genannt werden.

Trautmanns Weg

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