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KAPITEL 2 In der Hitlerjugend

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Im Oktober 1933 feierte Berni seinen zehnten Geburtstag und war damit alt genug, den „Pimpfen“ beizutreten. Das war die jüngste Abteilung der „HJ“, der Hitlerjugend, die nach der Machtübernahme der Nazis rasch alle anderen Jugendorganisationen in Deutschland verdrängte. Seine herausragende athletische Begabung und seine blonden Locken machten Berni zu einem Musterbeispiel der „arischen Rasse“. Plötzlich wurde er von allen möglichen Leuten, die zuvor keine Notiz von ihm genommen hatten, gelobt und umschmeichelt. Er konnte nicht ahnen, dass die HJ von Anfang an, schon lange vor 1933, als Teil einer Kriegsmaschinerie gedacht war. Die Nazis sahen sie als Ausbildungsstätte, die aus den Jungs harte Männer und zähe Soldaten machen sollte. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die HJ dem Reich fast acht Millionen Soldaten zugeführt. Und viele von ihnen kämpften tatsächlich „bis zum letzten Atemzug“, ergaben sich niemals und opferten ihr Leben mit fanatischer Hingabe „für Führer und Vaterland“. Am schlimmsten erging es dem Jahrgang 1923, dem auch Berni angehörte; nur wenige Jungen, die in diesem Jahr zur Welt gekommen waren, würden den Krieg überleben. Ab dem Alter von zehn Jahren wurden sie darauf gedrillt, bis zum bitteren Ende zu kämpfen.

Aber 1933, lange vor Krieg und Zerstörung, konnte Berni es kaum erwarten, in die Hitlerjugend eintreten zu dürfen. Seine Mutter, die selbst eine gute Schulbildung genossen hatte, äußerte ihre Vorbehalte. Ihr kluger Junge, ihr Augenstern, kümmerte sich in jenen Tagen herzlich wenig um seine Schulbücher. Doch von Bernis Bitten und der Propaganda der Nazis weichgeklopft, kratzten seine Eltern schließlich das Geld für die Uniform zusammen: kurze schwarze Hosen, khakifarbenes Hemd, schwarzes Halstuch und Lederknopf, dazu ein Abzeichen mit dem Hakenkreuz der Nazis. Berni trug die Uniform voller Stolz, als er, das Haar hinten und an den Seiten kurz geschoren, vor der Hakenkreuzfahne zackig den Hitlergruß entbot und folgenden Eid ablegte: „Vor der Blutfahne schwöre ich, alle meine Kraft und Stärke dem Erretter unserer Nation, Adolf Hitler, zu weihen. Ich bin willens und bereit, mein Leben für ihn zu geben, so wahr mir Gott helfe.“ Offenbar wunderte sich in der HJ niemand darüber, dass ein kleiner Junge, der sich für Sport und andere Aktivitäten begeisterte, feierlich schwören sollte, sein Leben für den Führer zu geben.

1932 zählte die Hitlerjugend 107.950 Mitglieder. 1933, nach der Machtübernahme, stieg diese Zahl rasch auf 2,3 Millionen an, bei insgesamt 7,5 Millionen Jugendlichen im Reich. 1936 waren es bereits 5,4 von 8,8 Millionen Jugendlichen. 1939, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, waren es 8,7 von 8,8 Millionen Jugendlichen, also fast alle. Die Jungen, die in Wochenschauaufnahmen aus dem Frühjahr 1945, nur wenige Wochen vor Kriegsende, mit einem zitternden, von Krankheit gezeichneten Hitler zu sehen sind, waren kaum 14-jährige Jungen, die noch angesichts der sicheren Niederlage stolz ihren Führer grüßen. Sie waren die letzte Generation der Hitlerjugend, der finale Atemzug des Traums vom „Tausendjährigen Reich“.

Der große Mitgliederzuwachs im Jahr 1936 war kein Zufall. Bereits 1934 hatte die Partei an jeder Straßenecke die folgende Proklamation verlauten lassen:

„Die Hitlerjugend tritt heute mit der Frage an Dich heran: Warum stehst Du noch außerhalb der Reihen der Hitlerjugend? Wir nehmen doch an, dass Du Dich zu unserem Führer Adolf Hitler bekennst. Dies kannst Du jedoch nur, wenn Du Dich gleichzeitig zu der von ihr geschaffenen Hitlerjugend bekennst. Es ist nun an Dich eine Vertrauensfrage: Bist Du für den Führer und somit für die Hitlerjugend, dann unterschreibe die anliegende Aufnahmeerklärung. Bist Du aber nicht gewillt, der HJ beizutreten, dann schreibe uns dies auf der anliegenden Erklärung … Wir richten heute einen letzten Appell an Dich. Tue als junger Deutscher Deine Pflicht und reihe Dich bis zum 31. Mai. d. J. ein bei der Jungen Garde des Führers. Heil Hitler!“

Daneben standen Mitglieder der HJ und verteilten Aufnahmeformulare. Den Schulen wurde befohlen, in jedem Klassenraum Listen aufzuhängen, auf denen zu lesen war, welche Jungen Mitglieder waren und welche nicht. Diejenigen, die nicht auf der Liste standen, erhielten bald darauf einen Brief mit einem Aufnahmeformular. Vater und Sohn hatten zu unterschreiben.

1936 wurde die Mitgliedschaft mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ zur festen Norm und im März 1939 mit der „Jugenddienstverordnung“ zum Zwang. Alle deutschen Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 18 Jahren waren nun zum Beitritt verpflichtet, denn die Zeit wurde knapp: Der Krieg stand unmittelbar bevor. Wenn sich ein Jugendlicher oder seine Eltern weigerten, erhielten sie ein Bußgeld und eine Verwarnung. Weigerten sie sich weiterhin, drohte der Vater seine Arbeit zu verlieren. Wer dann immer noch nicht spurte, musste Schlimmeres befürchten. Auf diese Art wurden fast alle Eltern dazu gebracht, ihre Söhne in die Hitlerjugend und ihre Töchter in den Bund Deutscher Mädel zu schicken.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Nürnberger Gesetze bereits längst in Kraft. Das „Reichsbürgergesetz“ teilte die Bevölkerung in zwei Arten von Menschen ein: Bürger „von reinem deutschen Blut“ und andere, vor allem Juden, denen es bald verboten war, „Deutschblütige“ zu heiraten und öffentliche Ämter oder Berufe auszuüben. Als Nächstes wurden ihre Häuser beschlagnahmt und an zuverlässige Nazis weitergegeben, während jüdische Familien in Ghettos und Konzentrationslager deportiert wurden. Natürlich durfte kein Jude Mitglied der HJ sein.

Für den zehnjährigen Berni war die Hitlerjugend vor allem eine spannende Bereicherung seines Alltags. Jede Woche erschien er in seiner geschniegelten Uniform im HJ-Heim neben den Schrebergärten, nicht weit von seinem Zuhause. Abgesehen vielleicht von den Lektionen über rassische Biologie und deutsche Geschichte, fand er alles ganz fabelhaft: den Sport, die Paraden, das Singen, den Drill, das Marschieren und das Fahnenschwenken. Aber am besten waren die Wochenenden, an denen die Gruppe zum Zelten fuhr. „Was sind wir? Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!“, skandierten sie, während sie unter der heißen Sonne über die Landstraße marschierten und sich ganz bedeutend vorkamen. Sobald die Zelte aufgebaut waren, traten die Jungen auf dem Exerzierplatz zusammen, hissten zum Klang des Horns die Fahne, sangen ein mitreißendes Nazi-Lied und widmeten sich dann dem Sport und der Körperertüchtigung. Sie lernten Schießen, Granatenwerfen, Kartenlesen, Orientierungmärsche und das System von Befehl und Gehorsam. Als Granaten dienten Metallklumpen von passender Form und Größe, es gab Luftgewehre für die Pimpfe, aber richtige für die älteren Jungen. Schikane war an der Tagesordnung: Die Starken sollten die Schwachen beherrschen, das war Naturgesetz. Der Sport bestand hauptsächlich aus Mannschaftsspielen, die Kraft und Mut erforderten und die Jungs abhärten sollten: Eine Seite war die Heimmannschaft, die andere der Feind – Kriegsspiele eben.

Der Sport war das Wichtigste und wurde von den Nazis am meisten geschätzt und natürlich auch politisch reglementiert. Schon im Frühjahr 1933 wurden sämtliche Sportvereine aufgelöst, die sich der Arbeitersportbewegung von SPD oder KPD zurechneten, ebenso die Vereine der katholischen und evangelischen Sportbewegung. Alle Sportvereine mussten das „Führerprinzip“ befolgen; der Vorsitzende, der fast immer Parteimitglied war, besaß weitreichende Entscheidungsvollmachten. Von nun an herrschte Gleichschaltung, und sämtliche sportlichen Aktivitäten wurden dem Diktat durch die NSDAP unterstellt. Die oberste Entscheidungsgewalt hatte Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, ein altgedienter Nazi. Seine Hauptaufgabe war es, die Jugend des Reichs gemäß der nationalsozialistischen Doktrin zu erziehen. Natürlich wurden Juden in den Vereinen schon bald nicht mehr geduldet. Einige Jahre war es ihnen erlaubt, eigene Sportvereine zu unterhalten, die nur gegen andere jüdische Vereine antreten durften. Später wurde es Juden vollkommen verboten, Sport zu treiben.

Bald waren die Zeitungen und Kinos voll von idealisierten Darstellungen junger blonder Athleten in weißen Hemden und Hosen beim Kugelstoßen, Hürdenlaufen, Weitspringen, Speerwerfen und Turnen; ganze Heerscharen von ihnen, die bei Naziaufmärschen ihr turnerisches Können zur Schau stellten, Reihe um Reihe perfekter arischer Exemplare, die Muskeln stramm, die Augen leer und auf den Führer gerichtet, der von einem fernen, mit Lorbeer und Hakenkreuzen geschmückten Podium aus zuschaute, flankiert von Himmler, Göring, Goebbels und all den anderen.

In der Realität entsprachen die meisten Sportler keineswegs dem arischen Idealbild der Propagandafilme. Warum auch sollte sportliche Begabung Hand in Hand mit blonden Haaren und besonderer Schönheit einhergehen? Aber um die Realität scherte sich die rassistische Ideologie der Nazis ohnehin herzlich wenig – man sehe sich nur einmal die Führungsriege der Partei an. Fielen ausnahmsweise sportliches Talent und arisches Äußeres bei einem Jungen zusammen, wurde dieser Auserkorene gepriesen und wie ein junger Gott bewundert. Und eines dieser Musterbeispiele war Berni Trautmann.

Zum Glück wehte daheim ein etwas anderer Wind als in der Schule und bei den Pimpfen, ansonsten wäre Berni vielleicht vollkommen vereinnahmt worden. Familie Trautmann hatte es nach wie vor nicht leicht, doch die schlimmsten Zeiten, als seine Mutter ihn losschicken musste, sich an der Suppenküche am Ende der Wischhusenstraße anzustellen, waren vorbei. Aber sein Vater arbeitete noch immer eine Doppelschicht, und wenn sie zum Fleischer gingen, kauften sie nicht die Wurst selbst, sondern nur die Enden, die übrig blieben, wenn die Wurst aufgeschnitten wurde. „Kann ich bitte die mageren Wurstenden für meinen Hund haben? Mein Vater mag nämlich kein Fett“, witzelten die Leute, von denen viele in der gleichen Lage waren wie die Trautmanns. Lebensmittel mussten häufig auf Pump gekauft werden, zahlbar am Ende der Woche. Obst und Gemüse gab es aus dem eigenen Garten. Im Sommer verbrachte Frieda Trautmann viele Stunden in der Küche, das Haar unter einem Kopftuch zusammengebunden, und machte Gemüse und Marmelade ein, die in schweren Gläsern im Keller verwahrt wurden, dort, wo auch Kartoffeln, Kohle und Brennholz eingelagert waren. Einer von Bernis Klassenkameraden war der Sohn des Bäckers, und oft saßen sie nach einer Partie Völkerball oder Fußball am warmen Ofen in der Backstube und futterten Brotenden oder Kuchenreste, die entfernt worden waren, damit der Kuchen eine schönere Form hat.

Die härteste Zeit war der Winter, wenn die Tage kurz waren und die Nächte so kalt, dass sich sogar an den Innenwänden Eis bildete. Ständig wurde Berni von seiner Mutter in den Keller geschickt, um Kartoffeln oder ein paar Briketts für den Ofen zu holen. Karl Heinz zu fragen hatte keinen Sinn; der sagte einfach nein und malte weiter seine Flugzeuge oder Autos am Küchentisch. Ein Nein kam Karl Heinz so leicht über die Lippen wie Berni ein Ja. Vielleicht ahnte Karl Heinz schon früh, dass er nicht der Lieblingssohn war, also wurde er störrisch, oder vielleicht war er einfach so zur Welt gekommen. Wie auch immer, Karl Heinz sagte stets nein, also fragte ihn seine Mutter irgendwann nicht mehr.

„Berni, lauf zu Zwimmer und hol mir ein Pfund Zucker“, sagte sie eines Abends im Dezember 1934, ein paar Tage vor Weihnachten. Es war sechs Uhr und draußen bereits dunkel. Die Geschäfte schlossen erst um sieben, es war also noch reichlich Zeit, dachte Berni, der es sich mit dem Sportteil der Tageszeitung am Küchentisch gemütlich gemacht hatte. Die Küche war der einzige warme Raum in der Wohnung, und das Letzte, was Berni tun wollte, war, Stiefel, Mantel, Schal und Mütze anzuziehen und hinaus in die Kälte zu gehen.

„Das kann doch ausnahmsweise mal Karl Heinz machen.“

„Nein“, sagte Karl Heinz sofort.

„Berni!“

Frau Trautmann buk die traditionellen herz- und sternförmigen Weihnachtsplätzchen. Die Art, wie sie sich umdrehte und ihn ansah, die Hände in die Hüfte gestemmt, zeigte Berni deutlich, dass er besser gehorchen sollte. In der Küche stand ein eiserner Ofen mit vier Platten und einem Heißwasserbehälter in der Mitte, und das Gesicht seiner Mutter war ganz gerötet vor Hitze und Anstrengung. Später, als er weit weg von Zuhause war, würde er sich an den Geruch des Weihnachtsgebäcks erinnern, aber im Moment ärgerte er sich nur darüber, die warme Küche verlassen und in die Kälte hinaus zu müssen.

Er nahm das Geld aus der mehlbestäubten Hand seiner Mutter und ging in die Diele, um seine Wintersachen anzuziehen. Als er die Treppe hinunterstieg, steckte die Nachbarin, Frau Mrozinzsky, den Kopf zur Tür heraus. Es war erstaunlich, dass Frau Mrozinzsky anscheinend immer ganz genau wusste, wann er das Haus verließ, um Besorgungen zu erledigen.

„Berni“, rief sie. „Berni. Gehst du zu Zwimmer? Bring mir ein Kilo Mehl mit, mein Junge. Sag, ich bezahle Ende Woche.“

Warum um alles in der Welt konnte nicht eines der vier Mrozinzsky-Kinder gehen?, dachte Berni, aber andererseits waren die Mrozinzskys Polen, und man wusste ja, was man sich über die Polen erzählte. In letzter Zeit war eine Menge Propaganda über sie verbreitet worden, aber Berni war es nicht bewusst, dass es Propaganda war; er nahm es als Tatsachen hin. Die Polen waren ein schmutziges Volk, hatte er gelernt, faul und nicht besonders klug, eine minderwertige Rasse, und er glaubte, dass die Mrozinzskys diesem Bild entsprachen. Herr Mrozinzsky war ein einfacher Tagelöhner, der oft keine Arbeit hatte, und Frau Mrozinzsky taugte bestimmt nicht viel als Hausfrau. Ihre Wohnung war ständig in Unordnung, und Berni fand auch, dass sie seltsam roch. Die vier Kinder schliefen alle im selben Bett und waren immer die Schlechtesten in der Schule, und ihre Eltern sprachen schlechtes Deutsch mit einem starken polnischen Akzent. Der Unterschied zu den Trautmanns oder auch den Wittenburgs, die in der gleichen Etage wohnten wie die Trautmanns, hätte nicht größer sein können. Herr Wittenburg war Lehrer, der, wie so viele andere auch, eine schwere Zeit durchmachte. Trotzdem war die Wohnung der Wittenburgs stets sauber und ordentlich und die Kinder wohlgeraten. Andererseits, und das war komisch, waren die Mrozinzskys eine fröhliche Familie, und Berni spielte oft vergnügt mit den Kindern auf der Straße, wo es nicht um Rasseunterschiede ging, sondern nur darum, wer am besten eine Blechdose kicken konnte.

Draußen lag der Schnee schwer auf der Straße. Auf dem Weg zu Zwimmer traf Berni auf ein paar Schulfreunde, und sie schlitterten über die vereiste Straße und warfen Schneebälle. Auf halbem Weg entdeckten sie im Schein von Bernis Taschenlampe etwas Schwarzes im Schnee liegen. Es war eine Geldbörse, in der sie 25 Reichsmark entdeckten, ein kleines Vermögen. Sie schauten sich mit offenen Mündern an, stampften wegen der Kälte mit den Füßen auf und überlegten, was sie tun sollten. Niemand hatte sie gesehen, also nahm Berni, da er der Anführer war, drei Reichsmark heraus, stopfte sich die Börse in die Tasche, und dann liefen sie zu Zwimmer, wo sie mehr Süßigkeiten kauften, als sie sonst in einem ganzen Monat zu sehen bekamen.

Als er mit dem Mehl für Frau Mrozinzsky und dem Zucker für seine Mutter heimkam, überlegte Berni, wo er seinen Schatz verstecken könnte. Er murmelte etwas von Hausaufgaben, ging in sein Zimmer, um die Börse unter die Matratze zu schieben, und hoffte das Beste. Niemand hatte etwas bemerkt. Sein Vater kam an diesem Tag früher als sonst von der Arbeit zurück, aber er sagte nicht viel, sondern saß nur am Tisch und aß sein Abendessen, das aus Suppe, Brot und Käse bestand. Dann las er die Zeitung, die Mutter widmete sich wieder dem Backen, und Berni saß unterm Fenster auf der Couch, blätterte lustlos im „Das Beste“-Magazin seiner Mutter und dachte die ganze Zeit an die herrlichen Süßigkeiten. Karl Heinz beschäftigte sich immer noch mit seinen Buntstiften.

Ungefähr eine Stunde später gab es auf der Straße einen Tumult, man hörte einen Mann rufen und ein junges Mädchen weinen. Berni schaute hinaus, er ahnte bereits, um was es ging. Im Schein der Straßenlaterne konnte er drei Personen erkennen, Vater, Mutter und Tochter, die im Schnee nach etwas suchten. Herr Trautmann kam ans Fenster, um zu schauen, was es mit dem Aufruhr auf sich hatte, und ging dann hinaus, um bei der Suche zu helfen. Berni nahm er mit. Es war eine Familie aus einem der größeren Privathäuser die Straße hinauf. Das Mädchen war mit dem Geld losgeschickt worden, um Verwandten auszuhelfen, die in einem der grauen Häuserblöcke wohnten. Berni brauchte zwei Stunden, bis er endlich mit der Wahrheit herausrückte, aber schließlich ging er zu seiner Mutter und gestand ihr alles. Sie sah verängstigt aus, als sie sich an den Küchentisch setzte, um es ihrem Mann zu sagen, und es gab einen schlimmen Streit. Aber irgendwie schafften sie es, die fehlenden drei Reichsmark zusammenzukratzen und die Börse zurückzugeben. Berni erhielt die Abreibung seines Lebens.

Doch die Geschichte war bald vergessen. Carl Trautmann platzte schnell einmal der Kragen, aber wenn es vorbei war, dann war die Sache erledigt und das Leben ging weiter. Im Winter trieben sich Berni und Herbert Behrens mit ihren Kameraden auf den zugefrorenen Kanälen und auf den Feldern herum, die von einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Im Sommer rannten sie über die gleichen Felder zu den Windmühlen hinüber, um zu sehen, wer sich am längsten an den Flügeln festzuhalten wagte, wenn sie höher und höher drehten. Und jeden Tag, egal ob im Winter oder Sommer, spielten sie auf der Straße, in der Schule und bei der HJ Völkerball, Fußball oder Handball. Oftmals vergaß Berni die Zeit und kam erst heim, als es bereits dunkel wurde, und verpasste das Abendessen; dann wartete seine Mutter hinter der Küchentür mit ihrem Holzlöffel bewaffnet, um ihm eine tüchtige Tracht Prügel zu verpassen. Wie oft sie ihn auch ermahnte, nicht zu spät zu kommen, er vergaß es einfach oder scherte sich nicht darum. Normalerweise war sie eine gutmütige Mutter, manchmal sogar etwas zu nachgiebig, aber riss ihr einmal der Geduldfaden, dann musste Berni sich vorsehen. Solange er klein war, duckte er sich und sprang in der Küche umher, um ihr auszuweichen, aber als er älter wurde, stand er nur noch da und lachte und wehrte die Schläge mit dem Arm ab.

In vielerlei Hinsicht war es seine Mutter, die in den schwierigen Jahren am meisten litt. Ihre einzige freie Zeit waren die Sonntagnachmittage, wenn die ganze Familie – Vater, Mutter, Berni und Karl Heinz – einen Ausflug unternahm oder Oma und Opa oder eine der zahlreichen Tanten besuchte: Tante Martha, Tante Elli oder Tante Gerda. Berni konnte diese Besuche nicht ausstehen, weil er sich ordentlich betragen musste, während er sich zu Tode langweilte und höflich ihrem albernen Geschwätz lauschte. Das einzig Gute war: Sonntagnachmittags gab es immer Kaffee und Kuchen. Jahre später erst wurde ihm klar, wie sehr seine Mutter die sonntäglichen Ausflüge genossen hatte, und er wünschte im Nachhinein, dass er sich besser verhalten hätte. Damals aber zählte er die Minuten, bis sie endlich wieder mit der Straßenbahn nach Hause fuhren.

Die großen Belastungen dieser Jahre führten dazu, dass Frieda Trautmann häufig krank war. Oft klagte sie über stechende Kopfschmerzen, und an solchen Tagen blieb Berni daheim und half ihr bei der Hausarbeit. Zu seinen tägliche Pflichten gehörte es, regelmäßig die Schuhe zu putzen, aber an den Tagen, an denen seine Mutter sich nicht wohlfühlte, wienerte er außerdem die Treppen von oben bis unten, machte die Betten oder half auf dem Dachboden bei der Wäsche und schleppte die schweren, nassen Laken vom Kupferkessel zur Zinkwanne hinüber zum Spülen, bevor er sie mangelte und auf dem Dachboden oder im Garten hinterm Haus aufhängte. Berni liebte seine Mutter von Herzen, und es ärgerte ihn sehr, dass er sie so häufig bedauern musste. Er verstand nicht, warum sie das Leben, das sie führte, einfach so hinnahm und sich mit einem Ehemann abfand, der ihr in jeder Hinsicht unterlegen war und sie trotzdem bevormundete. Wie hielt sie es mit ihm nur aus? Manchmal lag Berni nachts in seinem Bett und hörte, wie sein Vater die Mutter anschrie, vielleicht sogar schlug, und sein Herz pochte vor Wut. Doch am nächsten Morgen stand sie wieder in der Küche, bereitete das Frühstück und lächelte, als wäre nichts gewesen. Einmal hörte er, wie sich Frau Mrozinzsky im Hausflur mit einer anderen Frau in einem ganz bestimmten Tonfall darüber unterhielt, wie attraktiv Herr Trautmann sei. Berni hätte nicht überraschter sein können; es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass sein Vater auf Frauen attraktiv wirkte.

So klug Berni auch war, so konnte er doch nicht erkennen, wie weit die politische Situation in Nazi-Deutschland das Leben seines Vaters beeinträchtigte. Er konnte auch nicht ermessen, wie sehr ihr tägliches Leben seit 1933 einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt war, nämlich der Angst, die von den Nazis ganz bewusst eingesetzt wurde, um möglichen politischen Widerstand im Keim zu ersticken. Es war nicht die Art von Angst, die Carl Trautmann während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben verspürt und die ihm den Mumm geraubt hatte, und es war auch nicht die Angst davor, seine Arbeit zu verlieren. Vielmehr war es die Angst, versehentlich bei den allgegenwärtigen Nazis anzuecken, die sofort schreckliche Vergeltung üben würden. Es war die Art von Angst, die im täglichen Leben ständig unter der Oberfläche lauert und die Menschen unterwürfig werden lässt, so dass sie leicht zu manipulieren sind. Es war eine Angst, die die Menschen schwach machte, so wie Bernis Vater.

Um seinen Würgegriff auf das Land zu festigen, rief Adolf Hitler bald nach seiner Ernennung zum Reichskanzler zu Neuwahlen auf. Ohne Zweifel erwartete er einen haushohen Sieg seiner Partei, doch der blieb aus. Trotz aller Terroraktionen und Propaganda errangen die Nazis im März 1933 nur 43,9 Prozent der Stimmen. Dabei hatten sie alles getan, um die Wähler einzuschüchtern. Zunächst gab es im Februar, kaum einen Monat nach Hitlers Machtübernahme, den Reichstagsbrand. Wer weiß, wer das Gebäude in Brand gesteckt hatte – vielleicht war es ein Kommunist, vielleicht war es ein Nazi, der sich als Kommunist ausgab. Jedenfalls wurde binnen weniger Tage die „Reichstagsbrandverordnung“ verabschiedet, die im Namen der nationalen Sicherheit die meisten persönlichen Rechte und Freiheiten faktisch außer Kraft setzte. Politische Gegner konnten nun auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden, und quasi über Nacht wurden Tausende unliebsamer Personen festgenommen, darunter auch die kommunistischen Reichstags-Abgeordneten, die trotz des Terrors noch gewählt worden waren. Manche kamen wieder frei, andere nicht.

Einige von ihnen wurden nach Dachau geschafft, wo das erste Konzentrationslager erbaut worden war, betrieben von Freiwilligen aus Himmlers SS, aus denen die berüchtigten Totenkopfverbände hervorgingen. Hier konnte jeder inhaftiert werden, der sich den Nazis entgegenstellte: Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Juden, egal ob sie Lehrer, Anwalt oder Hafenarbeiter waren. In Bremen, einer Stadt von 330.000 Einwohnern, wurden allein im ersten Jahr der Nazi-Herrschaft fast tausend Häuser durchsucht, 450 Personen wegen „Hochverrats“ verfolgt und über 1.300 Menschen in „Schutzhaft“ genommen. Die meisten kamen ins KZ Mißler, das in den ehemaligen Auswandererhallen im Stadtteil Findorff eingerichtet wurde – mitten in der Stadt und ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs.

Bei den Verhören ging es nicht zimperlich zu: Die Leute wurden windelweich geprügelt, bis sie ein „Geständnis“ unterschrieben und ihre Treue zum Führer beschworen. Erst nachdem sie das Geständnis unterzeichnet hatten sowie ein weiteres Dokument, in dem sie gelobten, mit niemandem über ihre Erlebnisse zu sprechen (sonst drohte erneute Verhaftung), wurden sie aus dem Konzentrationslager entlassen. Das Erstaunliche war, dass sich trotz alledem so viele Menschen zu widersetzen wagten. Menschen wie Bernis Onkel Kurt Bencken. Der wurde 1934 verhaftet, in einem norddeutschen KZ eingesperrt und erst 1943 freigelassen, weil er, als starrsinniger und unbeugsamer Sozialist, sich zu unterschreiben weigerte.

Mit dem „Ermächtigungsgesetz“ wurde Hitlers Regierung kurz nach den März-Wahlen uneingeschränkte Macht verliehen. Die Sozialdemokraten im Reichstag stimmten dagegen, die bürgerlichen Parteien wie die Zentrumspartei stimmten dafür, weil sie glaubten, Hitler sei nur eine vorübergehende Erscheinung. Damit hatte das Gesetz die notwendige Zweidrittelmehr erreicht. Es wurde als „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ bezeichnet, tatsächlich aber war es ein Blankoscheck, der es der neuen Regierung erlaubte, ohne Zustimmung des Reichstags Gesetze zu erlassen, die zudem von der Verfassung abweichen konnten. Bis zum Ende der Nazi-Diktatur trat das entmachtete Parlament nicht öfter als ein Dutzend Mal zusammen.

Nun folgte in der ganzen deutschen Gesellschaft die Gleichschaltung, die das gesamte private und öffentliche Leben dem Willen der Nazis unterwerfen sollte. Meinungs- und Pressefreiheit gab es nicht mehr. Die Gewerkschaften wurden aufgelöst, ihre Büros besetzt, ihr Vermögen beschlagnahmt, führende Funktionäre in „Schutzhaft“ genommen; der SPD und der KPD erging es nicht anders. Im November hielten die Nazis noch einmal eine Reichstagswahl ab, bei der aber nur noch ihre eigene Partei erlaubt war. Das Ergebnis stand in starkem Kontrast zu den Wahlen neun Monate zuvor: 92 Prozent der Wähler unterstützten nun die Politik der Nazis; so schnell wirkt sich die Angst unter diktatorischer Herrschaft aus.

Von all dem bekam Bernie nicht viel mit, und es hätte ihn wohl auch nicht interessiert. Er freute sich über die vielen neuen Möglichkeiten, die die Nazis der Jugend im Reich boten. Waren sportliche Wettbewerbe zuvor recht planlos durchgeführte Veranstaltungen gewesen, wurden sie nun, als sichtbarer Ausdruck der Rassenideologie der Nazis, durch die Reichsjugendführung zentral organisiert, und zwar auf lokaler, regionaler und, das höchste der Gefühle, nationaler Ebene. Reichjugendführer Baldur von Schirach war ein fanatischer Nazi. Bereits 1924, als er noch Student an der Universität München war, hatte er den ersten Jugendverband der NSDAP ins Leben gerufen. 1931 wurde er Anführer der Hitlerjugend. „Wir, die wir deutschen Blutes und deutscher Rasse sind, klagen an!“, verkündete das im gleichen Jahr durch von Schirach verfasste Manifest der Hitlerjugend:

„Wider Recht und Gesetzt wurde Deutschlands Jugend in der Gefolgschaft Adolf Hitlers mit Verbot, Terror und Willkür verfolgt! Trotz allem! Wir bleiben für immer der Fahne treu! Wir sind gewillt, unser rechtmäßiges Erbe anzutreten. Wir fordern: Los von den Tributen! Nieder mit der Kriegsschuldlüge! Zurückgewinnung der geraubten Scholle! Freiheit dem erwachenden Volke! […] Im Zeichen des Hakenkreuzes, getrieben vom jungen Blut unserer edlen Rasse, wollen wir kämpfen und siegen für Raum, Brot und Arbeit unserer Nation! Jugend, hierher. Adolf Hitler führt!“

Die Struktur der Hitlerjugend war in Stein gemeißelt und ebenso strikt hierarchisch, militärisch und totalitär organisiert wie die NSDAP selbst. Auf der untersten Stufe stand der „Bann“, die lokale Verwaltungsebene. Jeder Pimpf der HJ gehörte, zusammen mit anderen Jungen aus seiner Klasse oder Altersgruppe, einer „Schar“ innerhalb des Banns an, und jede Einheit wurde vom Bannführer geleitet. Über dem Bann kam das „Gebiet“, mit einem Stabsführer an der Spitze. Es folgten die Obergebiete und dann die Reichsjugendführung selbst. Die hatte immense Macht und konnte, stets unter der Weisung der lokalen Parteiorganisation, Ämter verleihen und entziehen. Die Anführer der HJ waren oft als Adjutanten dem jeweiligen Gauleiter der Region beigeordnet. Sämtliche Mitglieder der HJ waren gehalten, in makelloser Uniform bei den endlosen Parteiaufmärschen mitzumarschieren, zu singen und Turnübungen vorzuführen. Ältere Mitglieder der HJ mischten außerdem bei den gewaltsamen politischen Kundgebungen und Straßenkämpfen mit. Bis 1933 hatten bereits 22 Mitglieder der Bewegung ihr Leben zum größeren Ruhm des Führers geopfert.

1934, mit elf Jahren, war Berni als einem von nur zwei Jungen im Großraum Bremen eine Urkunde für außerordentliche sportliche Verdienste verliehen worden, unterzeichnet von Reichspräsident Hindenburg höchstpersönlich. Das hatte ein paar schöne Nebeneffekte, vor allem in der Schule, wo er wie ein Held gefeiert wurde und sich so ziemlich alles herausnehmen konnte. Nicht lange nachdem er seine Medaille erhalten hatte, wurde Berni beispielsweise in den Kunstraum geschickt, wo sämtliche Sportgeräte aufbewahrt wurden, um für das Spiel am Nachmittag einen Ball zu holen. Es waren noch ein paar andere Jungen da, und Berni konnte nicht widerstehen, ein wenig zu kicken und zu zeigen, was er draufhatte. Übermütig versuchte er an einem der Jungen vorbei ein Kopfballtor gegen die Wand zu erzielen. Leider hatte er übersehen, dass an der Wand eine große Glasscheibe lehnte, die im Kunstunterricht zum Malen verwendet wurde. Der Ball landete mitten in der Scheibe, die in tausend Scherben zerbarst. Wenig später stand Berni, in Erwartung einer Tracht Prügel, einmal mehr vorm Schreibtisch von Rektor Schweers. Doch statt der Prügel gab es nur einen milden Tadel sowie ein kleines verschwörerisches Lächeln, das besagen sollte: „Wir wissen doch, dass es nur der Überschwang war, wie bei einem kommenden Sportass des Reiches nicht anders zu erwarten.“ Berni nahm es mit gemischten Gefühlen auf: Einerseits war er froh, so leicht davongekommen zu sein, andererseits war er irritiert und wusste instinktiv, dass das Verhalten des Rektors nicht richtig war.

Herr König war da anders. Wenngleich Bernis Klassenlehrer, wie die meisten seiner Kollegen, seine Lektion gelernt hatte und seine Meinung über die Partei für sich behielt, konnte er dennoch vermitteln, was richtig und was falsch war, weniger mit Worten als vielmehr durch Taten. Herr König war immer fair: Er lobte, wenn Lob angebracht war, und strafte, wenn Strafe angebracht war, und als Lehrer mit Leib und Seele tat er sein Bestes, die pädagogischen Standards zu wahren, auch gegen die im Lehrplan vorgeschriebenen Weisungen des Reichserziehungsministeriums. Als er bemerkte, dass Berni, einer seiner gescheitesten Schüler, lieber aus dem Fenster schaute, als zuzuhören, bat Herr König ihn, zu wiederholen, was er gerade gesagt hatte. Wenn Berni es nicht konnte, schritt er die Schulbänke entlang zum Pult, das Berni sich noch immer mit Herbert Behrens teilte, zog ihn an den Ohren und gab ihm einen ordentlichen Hieb. Das tat weh, leuchtete aber ein.

Doch die HJ redete Jungen wie Berni ein, dass sie die Wichtigen seien, die Starken, die Modernen, die ihren Blick auf die Zukunft und das Tausendjährige Reich richteten, anders als ihre Eltern, die altmodisch, langweilig und schwach seien. Es bestätigte und bekräftigte Berni in der Auffassung, sein Vater sei ein schwacher Mann. Denn er war ein Mann, dachte Berni, der am Familienleben kaum teilnahm, der einfach nur nach Hause kam, sich an den Tisch setzte, sein Abendessen aß, die Zeitung las oder Radio hörte und dann ins Bett ging. Und wo verbrachte er den Sonntagvormittag? In der Kneipe, am Stammtisch, mit seinen Saufkumpanen. Jeden Sonntag gegen halb eins wurde seine Mutter unruhig, denn das Essen war fast fertig, und der Sonntag war der einzige Tag in der Woche, an dem es Fleisch gab.

„Lauf und hol deinen Vater aus dem Gasthof“, sagte sie dann zu Berni, Karl Heinz wurde gar nicht erst gefragt.

„Vati! Essen ist fertig“, rief Berni von der Eingangstür der Kneipe aus, und sein Vater winkte ihn heran, damit er sich zu ihnen zu gesellte, und versprach ihm einen Apfelsaft, klopfte ihm fröhlich auf den Rücken und nannte ihn „mein Junge“. Es konnte Viertel nach eins werden, bis sie endlich heimkamen, sein Vater bestens gelaunt, was seine Mutter überhaupt nicht lustig fand.

„Warum machst du das?“, fragte Berni seinen Vater, als er etwas älter und forscher war.

„Was denn?“

„Für andere Leute Runden ausgeben. Der Seiler ist ein richtiger Schmarotzer. Immer, wenn er an der Reihe ist, verschwindet er auf die Toilette.“

Herr Trautmann lachte nur. „Das macht nichts, Berni. Das ist nicht so wichtig.“

Nein, dachte Berni, das stimmt nicht; es ist sehr wohl wichtig. Es ist wichtig, sich nicht ausnutzen und nicht herumschubsen zu lassen. Es ist wichtig, stark zu sein, stark wie Eisen. Sein Vater war schwach, das war ihm jetzt klar: Er war schwach, weil er gemocht werden wollte. Berni nahm es nicht als einfache Freundlichkeit wahr und verstand nicht, dass sein Vater die Runden gerne bezahlte, weil er, da er Doppelschichten absolvierte, mehr verdiente als seine Trinkkumpanen – sofern sie überhaupt Arbeit hatten – und dass sie alte Kameraden aus dem Weltkrieg waren, die das Leid und die Qualen, die ihr Leben zerstört hatten, gemeinsam durchgestanden hatten. Berni sah in seinem Vater nur einen verzagten Mann, der, sobald er zu Hause war, seine Frau anbrüllte. Und sie nahm es einfach hin; das war das Schlimmste.

Berni konnte nicht wissen, dass es von Beginn an das Ziel der HJ war, Jungen von ihren Elternhäusern zu entfremden. Sie ermutigte sie dazu, ihren Eltern mit Überheblichkeit zu begegnen, denn sie wollte ihren eigenen Einfluss vergrößern, bis sich die Jungs nur noch dem Führer gegenüber zur Loyalität verpflichtet fühlten. Manche widersetzten sich, aber Berni gehörte nicht dazu. Ja, sein Vater war ein schwacher Mann, ein verzagter Mann, der stets Angst davor hatte, seine Arbeit zu verlieren; aber da war noch etwas anderes, viel Schlimmeres, über das man besser nicht sprach: Sein Vater hielt sich mit Lobhudeleien auf den Führer zurück. Aus Sicht der HJ war das beinahe gleichbedeutend mit Hochverrat. Berni ging nicht so weit wie einige seiner Kameraden bei der HJ, die ihre Eltern denunzierten, obwohl sie wussten, dass Vater oder Mutter dafür verhaftet werden konnten. Aber er verlor den Respekt vor seinem Vater und erlangte ihn auch nie wieder zurück.

Seine Mutter merkte, was mit ihrem Jungen passierte, konnte aber nichts dagegen tun. Sie sah Berni immer seltener, weil er die meisten Wochenenden bei den Treffen oder Zeltlagern der HJ verbrachte oder an einem der zahllosen, ebenfalls von der HJ organisierten Sportwettbewerbe teilnahm. Jedes Jahr gewann Berni die gleichen drei Wettbewerbe: Weitsprung, 60-Meter-Lauf und Granatenwerfen. Schließlich wurde er Meister von ganz Norddeutschland und von jedermann als herausragendes Beispiel eines arischen Jünglings gelobt und gerühmt. Auf seine Eltern hörte er inzwischen kaum noch. Er bemerkte nicht, dass es seiner Mutter das Herz brach, ihn auf diese Weise zu verlieren.

„Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln“, verkündete Adolf Hitler 1937 bei einer Rede in Reichenberg. „Wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück […], sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, […] in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“

Trautmanns Weg

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