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KAPITEL 1 Kindheit in Bremen

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Als er noch ein Kind war, in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren in Bremen, wurde Bernhard Trautmann stets Berni gerufen. „Berni, hol die Kartoffeln aus dem Keller“, hieß es, oder: „Berni, geh zu Schmidts und besorg einen Laib Sauerbrot“, oder auch: „Berni, bleib nicht so lange weg!“ Diese Ermahnung rief seine Mutter oft aus dem Küchenfenster hinter ihm her, wenn er schon die Straße hinunterlief. Später, von seinen Kameraden in Russland, wurde er Bernd genannt. Und noch später, in England nach dem Krieg, hieß er Bert. Aber einstweilen war er eben Berni.

Berni war acht Jahre alt, als er seine erste politische Kundgebung erlebte. Es war ein Sonntag im Mai 1931, und er war mit seinem Vater und seiner Mutter und seinem fünfjährigen Bruder Karl Heinz unterwegs. Es war ein heißer Tag, in den Vorgärten der Häuserblocks, in denen sie wohnten, blühte bereits der Flieder. Die Wohnhäuser waren Sozialbauten in eintönigem Grau, solide und zweckmäßig errichtet, für jeweils vier Familien. Zu jedem Haus gehörten ein Keller und ein großer Dachboden. Einmal in der Woche machte Bernis Mutter die Wäsche und hängte sie im Winter an langen Leinen auf, die den gesamten Dachboden durchzogen, oder im Sommer draußen im Garten hinterm Haus, wo die weißen Laken neben Vater Trautmanns Arbeitskluft und Bernis Schulkleidung in der Sonne flatterten. Über eine Steintreppe gelangte man in den Keller, auf den Dachboden aber führten hölzerne Stufen, die immer nach Bienenwachs rochen, weil sie von den Hausfrauen regelmäßig geschrubbt und gebohnert wurden. Die Häuserblocks zogen sich die gesamte Wischhusenstraße entlang und wurden erst zur Gröpelinger Heerstraße hin, der Hauptverkehrsstraße, von großen Privathäusern mit Giebeln und Erkern abgelöst. Die Straße war von Linden gesäumt sowie einer großen alten Eiche. Obwohl es also Sozialwohnungen für die Bremer Hafenarbeiter waren, ließ es sich dort gut leben und aufwachsen. Die Trautmanns wohnten in der Nummer 32.

In der Weimarer Republik, die im November 1918 ausgerufen wurde und nach der katastrophalen Kriegsniederlage Deutschlands die autokratische Monarchie Kaiser Wilhelms II. ablöste, waren politische Kundgebungen an der Tagesordnung. Mehr als zwei Millionen deutsche Soldaten waren im Krieg gefallen, und noch einmal doppelt so viele kehrten so versehrt oder verstümmelt heim, dass sie nicht mehr in der Lage waren, ein normales Leben zu führen. Die neue liberaldemokratische Regierung versprach, den reaktionären Staatsapparat zu reformieren und das Los der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern, die zu einem großen Teil eben erst von der Front zurückgekehrt war. Auch Bernis Vater Carl war einer von ihnen. Zwar gehörte er zu den Glücklichen, die nur geringfügige Verwundungen davongetragen hatten, doch der Himmel weiß, welchen seelischen Schaden ein junger Mann nimmt, der fast zwei Jahre in Schützengräben verbringen muss. Carl Trautmann sprach nie über diese Zeit. Er war gerade 20 Jahre alt, als er heimkehrte, und nur wenig später heiratete er Frieda Elster. Das war nun elf Jahre her, und inzwischen hatten sie zwei Söhne.

An jenem Sonntag im Mai 1931 gingen Berni und sein Vater voraus. Sie unterhielten sich nicht, grüßten aber Nachbarn, die von der Kundgebung oder einem Nachmittagsspaziergang im Bürgerpark zurückkehrten. Jedermann trug seinen Sonntagsstaat, die Männer Anzüge, frisch gereinigte Hemden und polierte Schuhe mit Gamaschen, die Frauen selbstgenähte Sommerkleider und leichte Jacken, dazu Hüte und Handschuhe. Die Zeiten waren hart und viele der Männer arbeitslos, aber sonntags war davon nichts zu erahnen.

„Moin, moin. Wie war’t?“, fragte Carl Trautmann seinen Nachbarn Wittenburg im gängigen Plattdeutsch.

„Nadscha, gut so weit“, entgegnete Herr Wittenburg und ging seines Weges. Im vergleichsweise beschaulichen Bremen war es zu einer Art Sonntagsvergnügen geworden, politischen Kundgebungen zuzusehen, solange man nur genug Abstand hielt.

Andernorts waren die Kundgebungen keineswegs so friedlich. Regelmäßig lieferten sich die Sturmtruppen der NSDAP, der aufstrebenden Nazi-Partei, heftige Straßenkämpfe mit der kommunistischen KPD und militanten Sozialisten. Deutschland war die Demokratie noch nicht gewohnt. Es gab zu viele politische Parteien in der Weimarer Republik, und kaum hatte sich eine gegründet, spaltete sich schon bald eine Splitter-gruppe ab und nahm einen Teil der Wählerstimmen mit. Der Einfluss der SPD, die im Reichstag zunächst die stärkste Kraft bildete, begann schon bald wieder zu schwinden: Den Linken waren sie zu verzagt, den Rechten zu radikal und im Umgang mit den Siegermächten von Versailles zu nachgiebig. Angesichts wirtschaftlicher Krisen und sozialer Not gelang es nicht, stabile Koalitionsregierungen unter Beteiligung von Sozialdemokraten und liberalem Bürgertum zu bilden. In den 14 Jahren bis zur Machtübernahme Hitlers gab es sage und schreibe elf verschiedene Reichskanzler. Die Handlungsunfähigkeit und Uneinigkeit der republikfreundlichen Parteien stärkte die Extremisten auf der linken und der rechten Seite. Ab 1932 hatte die politische Mitte keine parlamentarische Mehrheit mehr.

Die schlimmsten Kundgebungen fanden in Berlin statt, aber es gab sie in allen größeren Städten und Gemeinden, selbst in Bremen mit seinem gemäßigten Senat. Die Polizei war gehalten, Unruhestifter auf beiden Seiten festzunehmen, doch es waren vor allem linke Demonstranten, denen es besonders schlimm erging. Die SA („Sturmabteilung“), also die Schlägertrupps der Nazis, konnte oft ungehindert wüten.

Der achtjährige Berni war ein hübscher Junge mit blondem Haar, blauen Augen und aufgeweckten Gesichtszügen. Er konnte schnell laufen, hoch springen, Bälle aller Art fangen und weit werfen. Äußerlich ähnelte er seinem Vater, einem gutaussehenden, stattlichen Mann, der im Hafen arbeitete, zunächst als Elektriker und später als Belader für Kali-Chemie. Charakterlich aber glich Berni eher seiner Mutter, die intelligenter und gebildeter war. Sie hatte das Gymnasium besucht, während ihr Ehemann, nur mit dem Nötigsten an Bildung ausgestattet, mit 14 Jahren die Volksschule verließ und eine Lehre zum Elektriker begann. Frieda Trautmann, so hieß es, habe unter ihrem Stand geheiratet. Mit der Zeit führten die Unterschiede zwischen den beiden zu einigen Spannungen, und Berni ärgerte sich oft darüber, dass sein Vater seine Mutter gängelte, obwohl sie klüger und freundlicher war als er. Vor allem ärgerte er sich, dass seine Mutter alles klaglos ertrug. Es war kein Geheimnis, dass Berni der Liebling seiner Mutter war, ihre Freude und ihre Hoffnung.

An einer Kreuzung hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Es schienen sich mehr Demonstranten als sonst eingefunden zu haben, und die Schlägereien waren bereits im Gange. Berni, der eine bessere Sicht haben wollte, versuchte durch die Beine der Schaulustigen nach vorne zu krabbeln, doch sein Vater packte ihn am Kragen und hielt ihn zurück. Stattdessen kletterte der Junge einen eisernen Laternenpfahl hinauf. Seine Mutter ermahnte ihn herunterzukommen und schimpfte ihn aus, weil er seinen Sonntagsanzug schmutzig machte, aber sein Vater ließ ihn gewähren, also blieb er dort und beobachtete das Geschehen von oben.

So etwas hatte er noch nie gesehen. Dutzende Männer in mehr oder weniger zerfetzter Kleidung fluchten, beschimpften und prügelten sich, was das Zeug hielt. Einige von ihnen hatten Waffen, andere benutzten ihre Banner – der Gewerkschaften, der KPD oder NSDAP –, um auf den Gegner einzuschlagen, ein Mann verwendete gar ein Nudelholz; manche lagen bewusstlos am Boden, und überall war Blut. Endlich sauste mit heulender Sirene ein offener Polizeiwagen um die Kurve, auf den hölzernen Bänken der Ladefläche zwei Reihen helm- und knüppelbewehrter Polizisten. Weil er zu schnell um die Kurve bog, stürzte der Wagen um, und die Polizisten wurden kreuz und quer auf die Straße geschleudert. Ein kurioser Anblick, an dem die Leute ihre helle Freude hatten. Sie bogen sich vor Lachen, klatschten und johlten, aber wenig später war der Spaß vorbei. Einige Polizisten hatten sich verletzt, doch diejenigen, die unbeschadet davongekommen waren, sprangen auf und begannen, auf die Umstehenden einzuknüppeln. Wenig später erschien berittene Polizei und stürmte auf ihren Pferden mitten in die Menge hinein. Gleichzeitig trafen in weiteren Lastwagen SA-Leute ein und warfen sich mit Gewehren und Stöcken bewaffnet ins Getümmel. Die gelöste Stimmung der Schaulustigen wich nackter Angst, und die Leute rannten in alle Richtungen davon. Carl Trautmann packte Berni am Fuß und zog ihn von der Laterne herunter. „Lauf, Frieda!“, rief er seiner Frau zu, die mit Karl Heinz im Arm panisch die Flucht ergriff.

Sie liefen über die Heerstraße und die Wischhusenstraße hinab, Berni vorneweg, und schöpften erst wieder Atem, als sie fast zu Hause waren. In der Ferne hörte man noch die Schreie, aber hier zwitscherten die Vögel, man konnte den Flieder und den Liguster riechen, und nichts deutete darauf hin, dass es nicht ein Sonntag wie jeder andere war. Trotzdem schaute der Vater immer wieder zurück, um sicherzugehen, dass niemand ihnen folgte. Andere Familien verhielten sich ähnlich. Niemand sprach. Jedermann verschwand rasch in seine Wohnung und verschloss die Türen. Später hörten sie, dass drei Menschen getötet und mehr als hundert schwer verletzt worden waren. Einer der Verwundeten war Carl Trautmanns Schwager, der Komponist Kurt Bencken, ein störrischer Mann, der alle Warnungen in den Wind schlug und hartnäckig an seinen sozialistischen Idealen festhielt.

Als sie in die Wohnung kamen, gab Frau Trautmann ihrem Berni einen ordentlichen Klaps. „Sieh dir deine Klamotten an!“, rief sie bekümmert. Sie standen in der holzvertäfelten Diele, in der es schmiedeeiserne Haken für Mäntel und in der Ecke einen Schirmständer gab. Berni saß auf der Holzbank und zog seine Schuhe aus; die Hausschuhe standen in einer ordentlichen Reihe unter der Bank. „Sieh dich an!“, rief die Mutter und schlug ihn erneut. Karl Heinz fing an zu weinen.

Bernis Vater nahm von alldem keine Notiz. Er zog sich die Schlappen an, ging in die Küche und setzte sich mit der Zeitung an den Tisch. In Familienangelegenheiten mischte er sich grundsätzlich nicht ein, das war Sache seiner Frau; seine Aufgabe war es, das Geld zu verdienen. Ursprünglich hatte die Familie in Walle gewohnt, einem etwas besseren Arbeiterviertel, aber durch Inflation und schließlich Hyperinflation nach dem Krieg hatte sich sein Verdienst faktisch mehr als halbiert, und sie konnten es sich nicht mehr leisten. In Bernis Geburtsjahr 1923 war die deutsche Mark das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt war: Im Juni kamen 1.800 Mark auf einen US-Dollar, im Juli 160.000, im August gar eine Million. Die Preise für Grundnahrungsmittel konnten sich von einem Tag auf den nächsten vervielfachen. Ausländische Investoren zogen ihr Geld über Nacht aus Deutschland ab, so dass die Wirtschaft immer mehr ins Chaos stürzte. Familie Trautmann musste ins weiter westlich gelegene Bremen-Oslebshausen umziehen, in die Sozialsiedlungen, wo sie auch jetzt noch lebten. Von hier aus fuhr Carl Trautmann, der froh war, überhaupt Arbeit zu haben, jeden Tag mit dem Fahrrad zum Hafen. 1931 gab es fast fünf Millionen Erwerbslose in Deutschland, und auf seinem Weg kam Trautmann an alten Kollegen vorbei, die keine Arbeit und kein Obdach hatten und an den Suppenküchen anstanden, die an fast jeder großen Kreuzung aufgebaut waren. Carl Trautmann selbst war nie arbeitslos, musste aber Doppelschichten fahren, um über die Runden zu kommen.

In den Anfangstagen der Weimarer Republik hatte es in Bremen viele Versuche gegeben, Arbeiterräte einzusetzen, vor allem im Hafen, wo die Gewerkschaften aktiv waren, höhere Löhne forderten und zu Streiks aufriefen, aber jede Initiative scheiterte. Es war jedes Mal das Gleiche: Gute Absichten gingen bald in politischen Grabenkämpfen unter, in denen die einzelnen Fraktionen die gemeinsamen Ziele aus den Augen verloren. Carl Trautmann war eigentlich Sozialdemokrat, hatte die anfangs regierende SPD mit ihren Köpfen Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann unterstützt, aber inzwischen hatte er seinen Glauben an die Politik mehr oder weniger verloren. Wie die meisten seiner Zeitgenossen gab er den erdrückenden Bedingungen des Versailler Vertrages die Schuld an Deutschlands Misere. Dieser Vertrag verpflichteten das Deutsche Reich, an die gegnerischen Staaten des Ersten Weltkriegs Schadensersatz zu leisten. Wie sollte das Land, das sich ohnehin schon in prekärer Lage befand, über einen Zeitraum von 42 Jahren 269 Milliarden Goldmark an Kriegsreparationen zahlen? Die Summe wurde später auf 132 Milliarden reduziert, der Rest sollte in Naturalien bezahlt werden: Kohle, Eisen, Stahl usw. Aber es schien dennoch unmöglich.

Die einzigen Menschen, die von der Lage profitierten, da war Trautmann sich mit seinen Kumpeln am Stammtisch einig, waren die Juden, denen die großen Kaufhäuser und Banken gehörten und die von den armen Teufeln, die sich verschuldet hatten, exorbitante Zinsen fordern würden. So legten sie es sich zurecht, wenn sie sich beim Bier aufregten. Trautmann war ein freundlicher Mensch, der es mochte, gemocht zu werden. Er war beliebt unter seinen Bekannten, die sich jeden Sonntag in der Kneipe ihres Viertels trafen. Bernis Vater war kein Schwächling, aber er versuchte, Ärger aus dem Weg zu gehen. Er hielt sich lieber heraus, erzählte stattdessen einen Witz und bestellte noch eine Runde Bier.

Am Tag nach der Kundgebung war wieder Normalität eingekehrt. Carl Trautmann verließ die Wohnung morgens um halb sechs Uhr und radelte zum Schichtbeginn Richtung Hafen. Die Mutter war um fünf aufgestanden und hatte das Frühstück gemacht: Brot, Marmelade und Kaffee, dazu heiße Milch für Berni. Ein Bad gab es nicht, also wechselten sie sich mit nacktem Oberkörper an der Küchenspüle ab und wuschen sich mit einem Waschlappen und Karbolseife, bevor sie jeden Tag frische Alltagskleidung anzogen. Frieda Trautmann hatte stets eine große Schürze um, der Vater seinen Overall und Berni seine Schulkleidung: kurzärmeliges Hemd und kurze Hosen mit ledernen Hosenträgern, dazu im Sommer einen Pullunder und im Winter einen dicken, langärmeligen Strickpullover. Seinen Vater bekam Berni morgens nicht zu sehen, denn er stand erst auf, nachdem Carl Trautmann zur Arbeit gegangen war. Karl Heinz, der erst fünf war, blieb im Bett, bis Berni um halb acht zur Schule musste.

Seine Schule, die Humannschule, befand sich nur 500 Meter die Wischhusenstraße hinab, und Berni konnte in zwei Minuten dorthin laufen. 1931 war er der Neue in seiner Klasse, denn seine Familie war gerade erst von Walle hergezogen, und er erfuhr bald am eigenen Leibe, dass es in seiner neuen Umgebung viel rauer zuging. In jeder Klasse gibt es einen Raufbold, der alle anderen schikaniert, und in Bernis Klasse war das Rainer. Rainer galt als harter Bursche, der Platzhirsch in der Klassenhierarchie, und er hatte nicht die Absicht, das Feld zu räumen. Berni ging jedem Ärger aus dem Weg, und anfangs gab es keinerlei Probleme. Aber je mehr seine natürlichen Begabungen zu erkennen waren, desto angesehener wurde er in der Klasse. Sein Klassenlehrer, Herr König, mochte ihn, weil er klug war und stets einer der drei Besten in der 40-köpfigen Klasse, und die anderen Jungen mochten ihn, weil er der beste Sportler der Klasse und immer zu Streichen aufgelegt war. So stahl er beispielsweise Äpfel aus dem benachbarten Obstgarten, erzählte Witze über die Lehrer oder tauschte Nachrichten aus mit Richard Hohnemeyer oder Herbert Behrens, seinem Tischnachbarn. Mit anderen Worten: Berni war beliebt, und Rainer schmeckte das überhaupt nicht. Zwangsläufig kam es zur Konfrontation, ohne dass Berni etwas dagegen hätte tun können.

Eines Morgens, nicht lange nach der Kundgebung, wartete Rainer vor der Schule auf Berni.

„Wir treffen uns nach der Schule und dann sehen wir, wer der Chef ist“, erklärte Rainer und hielt Berni seine geballte Faust vor die Nase.

„Kann nicht“, antwortete Berni. „Ich muss Vati sein Mittagessen zur Arbeit bringen.“

„Besser du kommst“, drohte Rainer.

„Kann nicht“, sagte Berni und ging ins Schulgebäude.

Er hatte nicht gelogen. Weil sein Vater bei Kali-Chemie eine Doppelschicht arbeitete, konnte er nicht zum Mittagessen nach Hause kommen. Also brachte Berni ihm das Essen, das seine Mutter zubereitet hatte. Bis zum Hafen brauchte er mit dem Fahrrad eine halbe Stunde, doch das machte ihm nichts aus. Er jagte die Wischhusenstraße hinunter und über die Heerstraße, dann die gepflasterte Straße hinab zum Hafen, die Henkelmänner schaukelten am Lenker – mal gab es Suppe und Kartoffeln, mal Kartoffeln und Suppe, manchmal eine Mettwurst. Wenn er es richtig abpasste, war die Eisenbahnschranke am Hafeneingang oben, und er konnte einfach über die Schienen hinwegsausen, an den Wachposten am Tor vorbei direkt hinunter zum Kai von Kali-Chemie, und dann längs des roten Backsteingebäudes der Verwaltung zur Kantine, wo sein Vater und die anderen Männer in der halbstündigen Pause an kahlen Holztischen saßen und ihr Essen einnahmen, bevor die nächste Schicht begann.

Bremen besaß seit Langem einen blühenden Hafen, der Handel mit der ganzen Welt betrieb, und hatte sich stets eine gewisse politische Unabhängigkeit bewahrt, selbst im deutschen Kaiserreich. Die Stadt hielt noch an den Idealen der Weimarer Republik fest, lange nachdem andere deutsche Städte die Hoffnung aufgegeben hatten. Die Gewerkschaften besaßen im Hafen großen Einfluss – wenigstens bis die Nazis die Macht ergriffen. Danach wurden sie über Nacht aufgelöst und brutal zerschlagen.

Manchmal fuhr Berni die anderen Kais im Hafen entlang, vorbei an Schiffen aus Afrika, Amerika oder dem Nahen und Fernen Osten, Schiffe, die so groß waren, dass man nur den schwarzen, mit Nieten übersäten Rumpf emporragen sah, und die mit schweren Ketten und Seilen an den gewaltigen eisernen Pollern verankert waren, die sich den Kai entlangzogen. Die großen Passagierschiffe, die die Reichen und Schönen nach New York brachten, ankerten flussabwärts, an der Mündung der Weser in Bremerhaven. Manchmal radelte Berni an einem der großen eisernen Rümpfe vorbei und konnte Kaffee aus Afrika riechen oder Gewürze aus Indien; von einem anderen wehte süßlicher Tabakduft herüber oder der scharfe Geruch von Gummi. Dazu kam das Dröhnen und Krachen der anlegenden Schiffe, die lauten Rufe der Schauerleute und Ewerführer, der Lärm der Lastwagen und der Radau der Seemänner und Hafenarbeiter, die aus den Kneipen torkelten, fluchten und rauften – kurz: Es war eine Menge los.

Die Werke der Kali-Chemie besaßen einen eigenen Kai und Lagerhäuser am anderen Ende des Hafens. Carl Trautmann war kürzlich zum Vorarbeiter der Schauerleute befördert worden, eine durchaus verantwortungsvolle Position, denn wenn die Fracht nicht gleichmäßig verladen wurde, konnte das Schiff auf hoher See ins Schlingern geraten. Kali-Chemie handelte in erster Linie mit einem salzartigen Mineral, das zunächst als Düngemittel, später, in Vorbereitung auf den Krieg, zur Herstellung von Sprengstoff verwendet wurde. Kali-Chemie besaß hinter dem Kai eine eigene Fabrik, wo das Düngemittel entweder lose oder in Säcken verpackt über Förderbänder direkt auf Schiffe verladen wurde, die zu beiden Seiten des Kais angelegt hatten. Das war eine schmutzige Angelegenheit, und wenn Carl Trautmann abends seine Schicht beendete, war er von Kopf bis Fuß von einer dicken Staubschicht bedeckt, die seine Haare und Augenbrauen weiß erscheinen ließ und so ätzend war, dass das Leder seiner Stiefel sich stets binnen sechs Monaten beinahe aufgelöst hatte. Nach jeder Schicht schrubbte Trautmann sich in der Gemeinschaftsdusche des Werkes gründlich ab und säuberte seine verstopften Ohren und Nasenlöcher, bevor er sich auf sein Rad setzte und auf den Heimweg machte.

Berni war zu jung, um den harten Arbeitsalltag seines Vaters richtig einschätzen zu können, aber er freute sich, mit welchem Stolz sein Vater seine Pflichten als Vorarbeiter erfüllte. Mit Kladde und Bleistift bewaffnet ging er nach dem Anlegen eines Schiffes an Bord, um mit dem Ersten Offizier bei einem Schnaps die Ladelisten abzugleichen und die Beladung zu planen. Manchmal durfte Berni seinen Vater an Bord begleiten. Viele der Offiziere kannten ihn schon und winkten ihm von oben zu, wenn er unten auf dem Kai stand und auf seinen Vater wartete. Er wusste, wie er sich bei solchen Gelegenheiten zu verhalten hatte: Er redete nur, wenn er angesprochen wurde, und lächelte freundlich, so dass ihm mit etwas Glück einer der Offiziere einen Pfennig zuwarf, den er geschickt und mit einer Verbeugung und einem „Danke schön!“ auffing.

Berni hatte Rainer also die Wahrheit gesagt, aber es nützte nichts: Drei Tage nacheinander wartete Rainer am Eingang der Schule auf Berni und forderte ihn heraus, und jedes Mal wiederholte Berni die gleiche Geschichte, bis er am vierten Tag die Nase voll hatte. Es war typisch für Berni, dass er von einem Moment zum anderen seine Geduld und Beherrschung verlor. Jeder, der ihn kannte, hätte seinem Kontrahenten sagen können, dass Berni kaum zu bändigen war, wenn es erst einmal so weit gekommen war. Also sagte er schließlich: „Na gut“, und: „Morgen früh, vor der Schule.“ Der einfältige Rainer konnte es kaum erwarten, Berni, der viel kleiner war als er, in die Finger zu kriegen und dem Naseweis eine ordentliche Abreibung zu verpassen.

Seit einiger Zeit nahm Berni jeden Morgen vor der Schule an einem freiwilligen Englischunterricht teil. Auch das war typisch für ihn: Er war ganz wild darauf, Neues zu lernen, wenigstens zu diesem Zeitpunkt seines Lebens, bevor die Hitlerjugend kam und ihn vereinnahmte. Die Schule hatte die Erlaubnis seiner Eltern eingeholt, und zumindest sein Vater war überrascht, dass Berni die zusätzliche Arbeit auf sich nehmen wollte. Aber Berni hatte seinen Entschluss gefasst, er wollte eine Fremdsprache lernen. Obwohl es bedeutete, eine Stunde früher in der Schule zu erscheinen. Sein Freund Herbert Behrens war auch mit dabei, dazu sechs andere aufgeweckte Kerle aus seiner Klasse. Die Lehrerin war eine Frau Payman, die mit einem ansässigen Geschäftsmann aus England verheiratet war.

Am nächsten Morgen erschien Berni, bereit zum Kampf, bereits eine halbe Stunde vor dem Englischunterricht in der Schule. Als er in den Klassenraum kam, gab ihm Rainer, der hinter der Tür gelauert hatte, einen kräftigen Schlag ins Gesicht. Das war ein schwerer Fehler: Berni war sofort außer sich vor Wut, und nur wenig später hatte Rainer eine Schnittwunde am Kinn, ein blaues Auge und eine blutige Nase. Die anderen Schüler feuerten die Kämpfenden lautstark an, als Frau Payman in die Klasse kam, gerade noch zur rechten Zeit: Der große Rainer lag, schon beinahe bewusstlos, am Boden. Es gab zwei Tafeln im Klassenraum, eine große, die an der Wand befestigt war, und eine kleinere, die daran lehnte. Sie benutzten die kleinere Tafel als Bahre, um Rainer zur Krankenstation der Schule zu tragen. Die Lehrerin musste den Zwischenfall melden, und wenig später hatte Berni vor dem großen hölzernen Schreibtisch im Zimmer des Rektors strammzustehen. Schulrektor Schweers, ein Autokrat alten Schlages, liebte militärisches Gebaren und Auftreten und pflegte einen unerschütterlichen Glauben an Zucht und Ordnung. Er weigerte sich, ein solches Betragen zu hinzunehmen, zumal es nicht das erste Mal war, dass Berni in einem Wutausbruch andere Jungs geschlagen hatte. Rektor Schweers bestellte die Eltern in die Schule, um seine Entscheidung mitzuteilen: Berni sollte von der Schule verwiesen und in eine Besserungsanstalt geschickt werden.

Vater und Mutter konnten es nicht fassen. Natürlich wussten sie, dass der sonst so unbeschwerte Berni bisweilen die Beherrschung verlor: Es kam vor, dass er den kleinen Karl Heinz knuffte, wenn der ihn zu sehr ärgerte, und manchmal meckerte er seine Mutter an. Aber im Grunde war Berni ein fügsamer Junge, der klaglos Besorgungen erledigte und im Haushalt half und an Tagen, wenn sich seine Mutter nicht wohlfühlte, die Treppe bohnerte oder die Wäsche mangelte. In der Schule nahm er nur selten an Raufereien teil und verausgabte sich stattdessen lieber beim Sport. Doch so sehr sich die Eltern beim Rektor für ihren Sohn einsetzten, es half nichts. Bis Herbert Behrens, ein ansonsten schweigsamer Junge, seinen Mut zusammennahm und die ganze Geschichte erzählte: dass nicht Berni den Kampf angefangen habe, sondern Rainer, und dass Berni dreimal versuchte habe, einer Rauferei aus dem Wege zu gehen, und dass Rainer ihn immer wieder herausgefordert habe, bis Berni schließlich darauf einging. Herbert rettete Berni die Haut und zementierte damit die Freundschaft zwischen den beiden sonst so unterschiedlichen Jungs. Doch später am Tag, als Berni daheim in die Küche kam, verabreichte ihm seine Mutter mit ihrem Holzlöffel eine tüchtige Abreibung. Sein Vater hingegen nahm Berni beiseite und gratulierte ihm: „Gut gemacht, mein Junge. Lass dich niemals unterkriegen.“ Als Berni Jahre später auf sein Leben zurückschaute und an die Worte seines Vaters dachte, war er überzeugt: „Ja, da hatte er recht. Und ich habe mich nie unterkriegen lassen.“

Berni trieb seit seinem fünften Lebensjahr Sport, zunächst bei Blau-Weiß Gröpelingen, gelegentlich ging er zum Turnen und Handballspielen auch zum Arbeiterverein VSK Gröpelingen. Aus diesen und anderen Vereinen wurde später TuRa Gröpelingen (heute: TuRa Bremen), und dort ist Bernis Mitgliedschaft seit 1933 registriert. Die erste Mannschaft des Vereins machte sich bald einen Namen und bestritt Spiele in ganz Norddeutschland. Die Jungs der Juniorenmannschaften durften manchmal mitfahren, um zuzuschauen und zu lernen, um die Atmosphäre zu erleben und davon zu träumen, es den Vorbildern eines Tages gleichzutun. Für Bernie war TuRa ein Verein fürs Leben und Sport sein Lebensinhalt schlechthin.

Obwohl zu Hause also das Geld knapp war, genoss Berni dennoch eine glückliche Kindheit. Er glaubt, dies seinen Eltern zu verdanken, die ihm alles gaben, was ein Junge braucht: Liebe, Disziplin und ausreichend Freiheit. Vielleicht liebte ihn seine Mutter ein bisschen „zu sehr“, und sie hatte sicherlich den größeren Einfluss auf ihn. Doch später wurde ihm klar, dass auch sein Vater erheblichen Anteil an seiner Entwicklung hatte. Als Berni klein war, nahm sein Vater ihn häufig zu Fußballspielen mit. Anschließend besprachen sie auf dem Heimweg in der Straßenbahn jede Kleinigkeit des Spiels: wer gut gespielt hatte und wer nicht, welche Mannschaft die bessere Taktik hatte, welcher Torhüter die besten Paraden gezeigt hatte – sie wälzten jeden Aspekt, der ihnen in den Sinn kam, wie zwei alte Hasen. Der Vater hatte selbst in seiner Jugend aktiv gespielt, und wäre der Erste Weltkrieg nicht dazwischengekommen, hätte er sicher weitergespielt, aber nach zwei Jahren in den Schützengräben hatte er die Begeisterung daran verloren.

An Sonntagen im Sommer ging die Familie gerne zum Bootfahren in den Bürgerpark oder unternahm eine Dampfschifffahrt auf der Lesum. Die Mutter packte ein Picknick ein, das sie zu viert am Ufer aßen, während sie den Booten und Schiffen zusahen, bevor sie mit dem Dampfer zurückfuhren. Das Schönste aber war, dass Berni jeden Sommer, seit er sieben war, für zwei Wochen zu seinem Onkel Hans, dem Bruder seines Vaters, in die Nähe von Hameln fahren durfte. Dorthin reiste er stets allein, vielleicht, weil nicht genug Geld da war, um gemeinsam zu fahren. Jedenfalls wurde Berni jedes Jahr von seinen Eltern zum Hauptbahnhof gebracht und am Zug verabschiedet. Dem Jungen war nicht bange, er war nur aufgeregt. In Hameln spielte er den ganzen Tag von morgens bis abends mit seinem Cousin Hansi, der später als Bomberpilot diente und über dem Ärmelkanal abgeschossen wurde. Nach zwei Wochen stieg er wieder in den Zug und reiste allein zurück nach Bremen. Berni sehnte sich nach Freiheit, und die bekam er auch.

Unterdessen fanden in Deutschland bedeutende politische Umwälzungen statt, aber was kümmerte es Berni? Er hatte noch nie von Gustav Stresemann gehört, dem geachteten deutschen Politiker, der vor einiger Zeit den Friedensnobelpreis erhalten hatte, und er konnte nicht wissen, dass mit dessen Tod im Oktober 1929 eine weitere Hoffnung auf eine stabile Republik verschwand und der Weg für die Nazis bereitet war. Die NSDAP praktizierte eine Politik des Terrors und initiierte viele der Straßenkämpfe und gewaltsamen Proteste, die die Weimarer Republik erschütterten. Nun begann ihre endlose Propaganda über das Unrecht des Versailler Vertrages, die Unfähigkeit der Weimarer Regierung und die Niedertracht der Juden, Früchte zu tragen. Bei den Reichstagswahlen der folgenden Jahre wurde sie zur stärksten Partei und Adolf Hitler schließlich am 30. Januar 1933 mit den Stimmen der konservativen Parteien zum neuen Reichskanzler ernannt. Durchs dunkle Berlin marschierte eine endlose Parade mit Schergen der SA und der SS, um Hitler zu huldigen, der am offenen Fenster des Kanzleramtes stand und den Gruß mit ausgestrecktem Arm erwiderte. Über Nacht änderte sich in Deutschland alles.

Auch im Haushalt der Trautmanns machte sich der politische Machtwechsel recht bald bemerkbar. Carl Trautmann absolvierte noch immer seine Doppelschicht bei Kali-Chemie, die sozialen Leistungen verbesserten sich etwas, aber die Arbeitsabläufe wurden nun rigide organisiert. Streiks waren verboten, sozialdemokratische oder kommunistische Agitatoren wurden grausam verfolgt. Das Heer der Erwerbslosen wurde ans Arbeiten gebracht und baute Autobahnen, Fabriken und Bahnlinien – alles mit Blick auf den bevorstehenden Krieg, von dem der einfache Mann auf der Straße noch nichts ahnte. Vielleicht hätte er klarer gesehen, wenn er das bereits 1924 verfasstes Buch „Mein Kampf“ gelesen hätte. Darin behauptet Hitler wieder und wieder, die einzige Lösung für Deutschlands Probleme seien der Krieg und die Eroberung neuer Lebensräume. „Wir […] weisen den Blick nach dem Land im Osten“, schrieb er. „Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland […] denken. […] Das Riesenreich im Osten ist reif für den Zusammenbruch.“ Absoluten Vorrang hatte nun die Wiederbewaffnung und die „restlose Unterordnung aller sonstigen Belange […] unter die einzige Aufgabe der Vorbereitung eines kommenden Waffenganges“, verkündete Hitler bereits neun Jahre vor der Machtübernahme der Nazis. Aber wenngleich viele Menschen „Mein Kampf“ nach 1933 im Regal stehen hatten – es war so weitschweifig und krude verfasst, dass es nur wenige wirklich gelesen oder ernst genommen hatten.

Vor jedem offiziellen Gebäude flatterten nun die schwarz-weiß-roten Hakenkreuzfahnen der Nazis, auch in den Bremer Hafenbetrieben. Wann immer jemand ein Büro oder Lagerhaus betrat, hatte er den Hitlergruß zu entbieten. Wurde das „Heil Hitler!“ nicht mit dem gebotenen Eifer vorgetragen, konnte der Übeltäter schon bald zur Befragung ins Bremer Hauptquartier der Gestapo, der „Geheimen Staatspolizei“, vorgeladen werden, worauf oft die Entlassung oder Schlimmeres folgte. Kali-Chemie erhielt derweil eine goldene Fahne für die rasche und gründliche Übernahme der Nazi-Reformen, unter anderem die Vorgabe, dass jeder Arbeiter einem Verein beitreten und ein akzeptables Hobby ausüben sollte. Vater Trautmann, der gerne musizierte, machte bei der Werkskapelle mit und spielte die Flöte, wenn in militärischem Gleichschritt durch den Hafen marschiert wurde, um wichtige Ereignisse im Nazi-Kalender zu begehen. Wenn er über die Veränderungen nachdachte, versuchte er die guten und schlechten Seiten abzuwägen: Gut war, dass es weniger Arbeitslose gab; zudem zog er Disziplin und Ordnung dem politischen Chaos vor; er nahm einen Großteil der Nazi-Propaganda über die Juden, die Kommunisten und das Unrecht des Versailler Vertrages für bare Münze. Vor allem aber hatte er Angst davor, seine Arbeit zu verlieren. Letztendlich trat er, wenn auch ohne große Begeisterung, in die Partei ein.

Auch Bernis Mutter fand, dass das Leben unter den Nazis sowohl gute als auch schlechte Seiten hatte. Die Wirtschaft erholte sich, und die Preise in den Geschäften waren wieder einigermaßen stabil. Es gab keine gefährlichen Kundgebungen mehr. Sie fühlte sich sicherer in den Straßen. Und es herrschte so etwas wie vorsichtiger Optimismus und ein neuer Stolz auf die deutsche Nation. Deutschen Müttern, die dem Reich und Führer vier oder mehr Kinder schenkten, wurde ein Orden verliehen, das „Mutterkreuz“. Das schien ihr nur recht und billig, beschränkte sich aber auf Mütter von „reinem arischen Geblüt“. Auf der anderen Seite wurden Presse und Radio zensiert, und alles war von der Nazi-Propaganda beherrscht. Schlimmer noch war, dass Frieda Trautmann zwar weiterhin freundschaftliche Beziehungen zu Nachbarn und Kaufleuten pflegte, aber nun immer mehr darauf achten musste, was sie sagte und zu wem. Überall gab es Denunzianten, und jedwede Kritik konnte rasch der Partei oder der Gestapo zu Ohren kommen.

Berni besuchte weiterhin die Humannschule, die inzwischen Pestalozzischule hieß, und hatte immer noch seinen ausgezeichneten Klassenlehrer, Herrn König, der nach englischer Art Knickerbocker und Tweed-Jacke trug und die traditionellen Werte deutscher Erziehung verkörperte. Er mochte Berni, so wie viele engagierte Lehrer ihre klügsten Schüler besonders mögen, aber nach und nach schlichen sich Veränderungen ein. König war kein Freund von Hitler, und vor 1933 sprach er dies auch ganz offen aus. Doch bald lernte er, den Mund zu halten. Im April, kaum drei Monate nach der Machtübernahme, wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Von nun an konnte jeder Lehrer, der für unzuverlässig befunden wurde, zur Befragung durch die Gestapo vorgeladen und kurzerhand entlassen werden. Lehrern war vorerst nicht vorgeschrieben, in die Partei einzutreten, weil die Nazis wussten, dass sie damit auf großen Widerstand gestoßen wären. Stattdessen erschien bald eine neue Art von Lehrer an den Schulen, ein „Berater“, der Parteimitglied war und die kaum verhohlene Aufgabe hatte, die Kollegen im Auge zu behalten. Sämtliche Schulleiter und Rektoren waren indes verpflichtet, der Partei beizutreten. Dr. Schweers ließ sich nicht lange bitten, denn die Prinzipien der Partei entsprachen seinem Naturell.

Ebenso wie Bernis Vater wollte auch Herr König nicht seine berufliche Existenz verlieren; viele seiner Kollegen ereilte dieses Schicksal. Als Erstes wurden die Juden entlassen, danach traf es die Schulleiter und Rektoren, die sich weigerten, in die Partei einzutreten. Und schließlich jeden Lehrer, der es wagte, die Partei zu kritisieren. Von nun an behielt Herr König seine Gedanken also für sich, was ihn aber nicht daran hinderte, weiterhin ein guter Lehrer zu sein. Doch es fiel ihm schwerer als zuvor, denn er musste lernen, mit einem ständigen Begleiter zu leben und zu arbeiten: der Angst, der wirkungsvollsten Waffe der Nazis. Er musste zudem den neuen, von der Partei abgesegneten Lehrplan übernehmen, der sich an eine deutsche Jugend wandte, die nach dem Willen der Nazis dazu ausersehen war, mit der Fahne des Vaterlands voran in das „Tausendjährige Reich“ zu marschieren. Fächer ohne ideologische Bedeutung wurden herabgestuft. Auf dem Lehrplan standen stattdessen rassische Biologie, Erdkunde, die sich insbesondere dem Thema Lebensraum sowie dem Reichsterritorium vor dem Ersten Weltkrieg widmete, weiterhin deutsche Geschichte, Mythen und Militärhistorie, insbesondere Bismarck, sowie Unterricht über die Juden und die Art und Weise, wie sie das Reich angeblich schändeten und zerstörten. Und natürlich Sport, jede Menge Sport. Kraft durch Freude.

Das alles gefiel Berni. Akademische Studien erschienen plötzlich langweilig und unwichtig, und er, der klügste Junge seiner Klasse, kümmerte sich von nun an fast nur noch um den Sport. Er war der beste Fußballer, der beste Leichtathlet und der Beste beim Völkerball, wo er sich gegen Jungen durchsetzte, die zwei oder drei Jahre älter waren als er. Völkerball war ein Sport so recht nach dem Geschmack der Nazis. Dabei stehen sich zwei Mannschaften auf je einer Hälfte des Feldes gegenüber und versuchen, die gegnerischen Spieler mit dem Ball zu treffen. Ein getroffener Spieler kann nur ins Spiel zurückkommen, wenn einer seiner Mitstreiter einen Spieler der gegnerischen Mannschaft trifft. Manchmal ist nur noch ein Spieler einer Mannschaft übrig, der es dann mit vier oder fünf gegnerischen Spielern aufnehmen muss. Mit seinen großen Händen, flinken Augen und athletischen Sprüngen war Berni oft der letzte verbliebene Spieler seiner Mannschaft, und oft genug gewann er trotzdem noch. Schon damals zeigten sich die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die ihn eines Tages, weit in der Zukunft und weit weg von zu Hause, zum besten Torwart der Welt machen sollten.

War der Sport zuvor nur einer von vielen Punkten im Lehrplan gewesen, wurde er nun von den Nazis zur Hauptsache erhoben, zum Gipfel der Leistungsfähigkeit, zu einer Sache von nationaler Bedeutung. Und Berni, der Junge, der schneller laufen, höher springen, härter schlagen und jeden Ball fangen konnte, wurde zum unumstrittenen Star, nicht nur seiner Klasse, sondern der ganzen Schule. Und jetzt, 1933, durfte er der Hitlerjugend beitreten.

Trautmanns Weg

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