Читать книгу NORA UND DAS GEHEIMNIS IHRES 16. SOMMERS - Cécile Tourin - Страница 3
Am Anfang war Mut Am Anfang war Mut
ОглавлениеHeute musste es einfach sein! Heute schafft sie es. Ganz sicher! Zweimal schon hatte sie Anlauf genommen und war dann doch wieder umgekehrt. Danach war Nora den ganzen Nachmittag wütend auf sich, weil sie sich nicht getraut hatte. Aber das passiert ihr heute nicht, nein, heute bestimmt nicht! Was kann denn schon geschehen? Vielleicht sagt er: ‚Nein‘ oder: ‚Lass mich in Ruhe‘ oder: ‚Hau ab‘ oder im schlimmsten Fall: ‚Was bildest Du Dir denn ein?‘ ‚Na und‘, beruhigte sie sich, das haut mich doch nicht um, aber dann weiß ich wenigstens, woran ich bin‘.
Es waren nur noch ein paar Meter zum Hafen und ihr wurde immer flauer im Magen. ‚Zuhause fühlte ich mich so stark und jetzt möchte ich am liebsten wieder umdrehen, aber das kommt nicht in Frage!‘
Als Nora endlich am Ziel war, räusperte sie sich und sagte leise: „Hallo.“ Sie stand jetzt oben auf dem Bootsanleger. Rot-weiße Turnschuhe, Bluejeans, geringeltes T-Shirt. Augen wie aus hellem Bernstein guckten groß und neugierig unter einem fransigen Pony hervor, lange dunkle Haare rahmten ihr Gesicht und flossen in leichten Wellen auf ihre Schultern hinunter. Den auf dem Boot sah sie ja zum ersten Mal aus der Nähe. Und der hob jetzt langsam den Kopf und schaute sie erstaunt an. „Hej.“ Unter seinem Blick wurde das Mädchen etwas rot. „Ja, ehm … ich ... ich … wollte Sie was fragen.“ „Ja dann - nur zu.“ „Fahren Sie heute wieder auf den See?“ Er musterte sie erstaunt und nickte langsam. „Mhm.“ Verlegen drehte das Mädchen auf dem Steg ihre Schultern hin und her und zeigte mit einer Hand in das Boot, als sie fragte: „Könnte ich da mal mitfahren?“
Der Mann auf dem Segelboot kniff seine Augen zusammen und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Er war sichtlich überrascht von der Frage des Mädchens. „Ich nehme mal an, Du kannst schwimmen.“ „Na klar, ich bin super gut im Schwimmen!“, strahlte sie. „Und Deine Eltern, die hast Du bestimmt auch gefragt.“ Seinem Blick ausweichend schaute sie zur Seite und sah in Richtung des Dorfes. „Mein Vater ist nicht da und für meine Mutter ist das o.k.“, stieß sie hastig hervor. „Und da bist Du ganz sicher?“ Sie nickte heftig und wurde wieder rot im Gesicht. Er bemerkte natürlich ihre Verlegenheit, zog seine Augenbrauen etwas hoch, überlegte kurz, fragte dann jedoch weiter: „Und was ist mit Schule?“ „Ist nicht, sind doch Ferien“, erwiderte sie fröhlich. „Mhm, na o.k. --- . Du kennst sicher den Hafenmeister.“ Sie nickte eifrig. „Den Fritz, na klar!“ „Dann geh` zu ihm und sag, dass Du mit Lars und Alva rausfährst, o.k.?“
„Wer ist denn Alva?“ Das Mädchen schaute sich plötzlich suchend um. Merkwürdig, ihr war so, als ob sie soeben eine Berührung, fast wie ein Streicheln oder einen überraschenden Hauch, gespürt hatte. „Das hier, mein Schiff natürlich“, lachte der Segler, während er mit einer Hand auf das Bootsdeck klopfte.
„Aha“, nickte sie und machte sich schnell auf den Weg zum Büro des Hafenmeisters. ‚Whow, das hat ja schon mal geklappt‘, jubilierte sie innerlich. Der Skipper allerdings schüttelte derweil staunend seinen Kopf. „Was ist das denn jetzt? Was passiert hier?“, sagte er laut. Es kam ja nicht alle Tage vor, dass ihn ein junges Mädchen ansprach. ‚Und diese unglaubliche Ähnlichkeit mit --- . Was hat das zu bedeuten?‘ Er wurde sehr nachdenklich.
Außer Atem kam das Mädchen da schon wieder auf den Steg gerannt. „Alles klar!“ „Hat er was gesagt?“ Sie lächelte verlegen. „Ja, wir --- wir sollen keine Dummheiten machen.“ Der Mann musste lachen. „Aha, na dann sollten wir uns auch daran halten, oder? Ich bin Lars Nilsson, verrätst Du mir auch Deinen Namen?“ „Klar, Nora - also Nora Merz.“
„Schon gefrühstückt, Nora?“ Sie blickte schüchtern vor sich auf den Steg. „Ich brauche nichts.“ „So, so, vorne beim Bäcker holst Du zwei Käsebrötchen für mich und eine Laugenbrezel, bitte.“ Er reichte ihr eine Thermoskanne. „Die hier sollen sie mit Kaffee füllen und bring für Dich auch etwas mit o.k.? Wir werden ja ein paar Stunden unterwegs sein. Sag ihnen dort einfach, es sei für Lars auf Rechnung.“
Mit schnellen Schritten ging Nora zu der kleinen Bäckerei an der Uferstraße, voller Stolz über ihren Mut, gefragt zu haben und froh darüber, dass der fremde Mann offenbar ziemlich nett war. Mit einer großen Tüte und der Kaffeekanne in der Hand kam sie zurück und lachte: „So kauf` ich natürlich gerne ein --- ohne Geld und so.“
„Prima, den Proviant hätten wir ja schon mal an Bord. Dann können wir ja ablegen. Mach die Vorleine los und wirf das Ende aufs Deck. Kommst Du mit den Knoten klar? Ja, so ist es gut, und jetzt noch die Heckleine. O.k., gib mir mal Deine Hand und jetzt mach einen großen Schritt zu mir rüber – ja genauso. Willkommen an Bord! Wir fahren zuerst mit Hilfe des Motors aus dem Hafen, denn die Segel werden draußen gesetzt. Bist Du schon mal im Segelboot mitgefahren?“
„Nein, nur mit Tretbooten und gerudert habe ich auch schon.“ „Aber mit den Seemannsknoten kennst Du Dich gut aus.“ „Ja, ein paar habe ich vorne bei Andreas im Bootsverleih geübt.“
„Normalerweise hat hier im Dorf doch schon jedes Kind einen Segelschein, oder?“ Er schaute sie fragend an. „Wir wohnen ja noch gar nicht so lange hier. Aber heute - heute könnte ich ja mal anfangen mit dem Segeln. Ich lerne schnell!“, sagte Nora überzeugend.
„Warum hast Du ausgerechnet mich gefragt, ob Du mit darfst?“ „Ich habe Sie schon oft gesehen, wenn Sie rausgefahren sind und irgendwann fing ich an, mir zu wünschen, dabei zu sein.“ „So, so und warum bei mir? Es liegen doch so viele Boote hier.“ „Keine Ahnung, vielleicht, weil Sie immer alleine waren, vielleicht die schöne alte Yacht, so richtig weiß ich das auch nicht. Aber ich träume mich so oft auf das Meer hinaus, weil - man hat das Gefühl vor einem liegt die unendliche Weite und etwas Spannendes, Neues und das da hinten, das man zurücklässt, ist ganz klein, unwichtig und vorbei.“ Während sie das sagte, blickte sie sehr nachdenklich zum Ufer zurück.
„Es wird kleiner, ja, und etwas Neues, Unbekanntes liegt vor einem, aber ganz unwichtig wird das nie, was wir zurücklassen. Von allem, was hinter uns liegt, nehmen wir einen Teil mit nach vorne in jeden neuen Tag. Zum größten Teil natürlich unbewusst. Dabei ist es egal wie weit oder wohin man geht.“ „Wie ist das eigentlich genau mit dem Unterbewusstsein?“ „Das ist wie Fahrrad fahren oder Schwimmen, hat man es erst einmal eingeübt, ist es gespeichert und dann verlernt man es nie wieder. Und nicht nur das, was wir bewusst gelernt haben, sondern alles was wir einmal sahen und erlebten. Also praktisch all` unsere Erfahrungen, Eindrücke und auch die Gefühle, die wir dabei hatten, wie Freude, Angst, Ekel oder Mitleid. Das Unterbewusstsein ist auch der Sitz unserer Kreativität und unserer Intuition, also dem sogenannten Bauchgefühl. Ein Ereignis, zum Beispiel ein Theaterstück, sehen wir bewusst. Aber das Unterbewusstsein lässt uns spüren, ob es schön, langweilig oder gar abstoßend auf uns wirkt.“ Das Mädchen hatte aufmerksam zugehört und nickte nachdenklich. „Aha.“
„Sie sind nicht aus Hagnau?“ Er musste lachen „Nein, nein natürlich nicht, ich komme aus Schweden.“ „Aus Schweden, ach ja, die Fahne hinten am Boot. Wieso sprechen Sie denn so gut Deutsch?“ „Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater ist Schwede. Er war Ingenieur und arbeitete in einem großen Motorenwerk in Friedrichshafen. Meine Mutter arbeitete in der Stadt in einem kleinen Café, darin lernten sich meine Eltern kennen. Mein Vater bekam kurz danach ein gutes Angebot von der Firma Volvo und so zogen sie um nach Schweden. Ich wurde dort geboren und lernte von klein auf beide Sprachen. Das war meiner Mutter sehr wichtig. Und wo lebtest Du vorher?“ „Wir sind vor fast 2 Jahren nach Hagnau gezogen, wir wohnten vorher in Ulm. Mein Vater bekam dann hier eine neue Arbeit, aber jetzt --- ach Sch…. darüber wollte ich ja gar nicht reden.“
Nilsson nickte langsam und da sie inzwischen außerhalb des Hafens waren, setzte er die Segel. Das Boot nahm Fahrt auf und glitt ruhig über das grünlich schimmernde klare Wasser des Sees, dessen kleine Wellen der steile Bug nach rechts und links verteilte. Es war ein schöner, sonniger Tag. Ein leichter Wind wehte, gerade richtig, um völlig entspannt auf dem Wasser dahinzugleiten.
„Wenn man mit dem Segeln beginnt, lernt man viele neue Wörter dazu, die hat man vorher nie gehört. Zum Beispiel ist ein kurzes Seil ein Ende und ein längeres Seil eine Schot. Vorne am Schiff ist der Bug und hinten heißt es Heck. Die lustigen Dinger, die wie harte Luftballons aussehen, sind die Fender und schützen das Boot vor Kratzern beim An- und Ablegen. Vorne ist das Vorsegel oder die Fock und dies hier nennt sich Großsegel oder einfach Groß. Rechts heißt steuerbord und links heißt backbord. Kann man sich gut merken weil steuerbord hat zwei ‚r‘ wie rechts. Übrigens die Fahne, die Du vorhin erwähnt hast, heißt richtig Flagge.“ Während er ihr das erklärte, zeigte er auf die jeweiligen Teile.
Nora hatte ihm interessiert zugehört, nickte verstehend und setzte sich dann auf das Vordeck. Sie stütze sich nach hinten mit den Armen ab. Ihre dunkelbraunen, langen Haare bedeckten locker den halben Rücken. Sie blickte nach vorn und schloss die Augen. Der Mann sah sie an und dachte traurig, dass dort jetzt seine Tochter sitzen könnte. Es war ihm fast unheimlich, dass die schöne, fremde Mitfahrerin seiner geliebten Alva so sehr ähnlich war. Und noch etwas, das aber anscheinend nur er sah und den Augen des Mädchens verborgen blieb, bewegte ihn tief in seinem Herzen.
Die Yacht glitt mühelos und leicht über die Wellen vor dem Süd-Westwind und nahm Kurs auf Bregenz. Die Alpen waren an diesem Tag ungewöhnlich klar zu sehen. Oben auf den Schweizer Gletschern glitzerte der Schnee in der Sonne. Es war einfach herrlich. Mitten auf dem See drehte Nilsson das Boot in den Wind um anzuhalten, und sie begannen mit dem Frühstück. Ab und zu grüßte ein vorbeifahrender Segler freundlich zu den beiden hinüber. „Sie kennen aber viele Leute.“ „Ja, die meisten Wassersportler kennen sich hier. Viele sind sehr nett, auch einige Schweizer und Österreicher sind gute Bekannte von mir.“ „Ach - ich wünschte, diese Fahrt ginge nie zu Ende, so ein traumhafter Tag! Darf ich morgen auch wieder mitfahren? Bitte, bitte, ja?“ Nora sah ihn mit großen, klaren Augen so hinreißend an, dass er nicht anders konnte, als einfach zuzustimmen.
„Ja, klar, aber vorher will ich mit Deinen Eltern darüber sprechen und mich ihnen vorstellen. Sie müssen wissen, mit wem ihr Mädchen unterwegs ist.“ „Das brauchen Sie doch nicht, es ist alles in Ordnung so, bestimmt!“ Sie nickte eifrig. „Nora hör mal, wenn ich mir vorstelle, dass meine Tochter am Hafen einen fremden Mann fragt, ob er sie mit auf sein Boot nimmt und sie dann stundenlang mit ihm alleine auf dem See unterwegs ist, dann wäre mir, ehrlich gesagt, schon ganz anders geworden. “Nora schaute ziemlich genervt aus, als sie forsch fragte: „Haben Sie denn überhaupt eine Tochter?“ Er wandte seinen Blick von ihr weg und drehte sich zur Seite. Während er in die Ferne schaute, sagte er: „Meine Tochter heißt Alva, aber sie lebt nicht mehr in unserer Welt.“
„Oh, das tut mir jetzt Leid, Entschuldigung.“ Das junge Mädchen biss sich auf die Lippe. „Ja, mir auch, sehr sogar.“ Nora dachte über seine Worte eine Weile nach. „Warum sagen Sie das ‚nicht mehr in unserer Welt‘ glauben Sie etwa, dass sie irgendwo anders lebt?“ „Ja, ich glaube, dass Alvas Seele weiter lebt.“ „Meinen Sie im Himmel oder so?“ „Ich weiß selbst nicht so genau, wie ich es mir vorstellen soll, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es nach dem Tod des Körpers für unsere Seele irgendwie, irgendwo weitergeht.“ Nora schaute nachdenklich zu dem Mann hinüber. „Ach übrigens, wegen meiner Eltern. Meinen Vater treffen Sie sowieso nicht an.“ „Aber Deine Mutter, oder?“ „Die schon – glaub ich.“ „Na, dann ist es ja gut.“ „Willst Du über Deinen Vater reden?“ „Jetzt nicht, nein.“ Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare stoben.
„O.k., wenn wir gegessen haben, wende ich. In etwa zwei Stunden sind wir zurück in Hagnau.“ „Och, schon?“ „Ja, morgen ist doch auch wieder ein Tag. Und ich freu` mich darauf. Wenn Du Badesachen mitbringst, könnten wir direkt vom Boot aus schwimmen gehen.“ Das Mädchen nahm wieder ihren Platz auf dem Vordeck ein. Plötzlich schlug sie ihre Hände vors Gesicht und weinte leise. Nilsson setzte sich neben sie und legte ihr vorsichtig die Hand um die zuckenden Schultern. „Wenn Du mal reden willst, ich bin ganz gut im Zuhören“, sagte er und hielt das schluchzende Mädchen ganz fest. Nora ließ es geschehen und lehnte ihren Kopf an die Schulter des Mannes. Tief in ihrem Inneren spürte sie plötzlich wieder das warme Gefühl von Geborgenheit, das sie an glückliche Kindertage erinnerte.
„Oh nein! Was ist das denn?“ Sie erschraken durch das laute Geheule einer Schiffssirene. „Großer Gott!“ Ein Fahrgastschiff hielt direkt auf die Yacht zu! „Runter!“, schrie der Schwede und riss im letzten Moment das Steuerrad herum. Das Boot reagierte zwar langsam, aber es kam gerade noch knapp an der stählernen Bordwand der ‚Graf Zeppelin‘ vorbei. „Nochmal Glück gehabt. Dem Himmel sei Dank!“ „Der Dicke hätte uns ja auch ausweichen können! Wir waren schließlich beschäftigt!“, lachte Nora und wischte sich mit einer Hand die Tränen aus ihren Augen. „Fahrgastschiffe haben hier immer Wegerecht, so heißt die Vorfahrt auf dem Wasser. Ich war leider sehr leichtsinnig“, gab Lars zähneknirschend zu. Die Verantwortung, die er für das Mädchen so schnell und ohne weiter darüber nachzudenken übernommen hatte, indem er sie auf seinem Schiff mitnahm, wurde ihm schlagartig bewusst. Auch musste er daran denken, dass sein Verhalten sicher ein Nachspiel haben würde, wenn der Kapitän seiner Verpflichtung nachkommt, über den Beinahe-Zusammenstoß eine Meldung an die Wasserschutzpolizei zu machen.
Schweigend fuhren sie weiter. Am Hagnauer Freibad und an dem kleinen Kurpark entlang. Bei einem der äußeren Festmacher hielten sie die Yacht an, holten die Segel ein und tuckerten langsam in den kleinen Hafen, an den für die ‚Alva‘ reservierten Liegeplatz. Nilsson zeigte ihr noch die gebräuchlichsten Seemannsknoten, so dass Nora beim Anlegen und Festmachen des Bootes richtig gut mithelfen konnte.
Obwohl das Mädchen bettelte, es nicht zu tun, gingen sie gemeinsam durch das Dorf zu ihrem Elternhaus. Nilsson bemerkte die verwunderten, vielsagenden Blicke der Dorfbewohner und es kroch ein leiser Zweifel in ihm hoch, ob er das hier jetzt richtig macht oder ob er wieder einmal einen Schritt zu weit gegangen ist. Dort draußen auf dem See fühlte es sich noch sehr gut an, in der Gesellschaft dieses Mädchens zu sein. Sich hier im Ort jedoch, vor aller Augen mit ihr, die ja fast noch ein Kind war, gemeinsam zu zeigen, das war schon eine andere Liga. Dabei ging es ihm überhaupt nicht um sich, aber ihr schaden, das wollte er auf keinen Fall. In einer schmalen Nebenstraße vor einem ziemlich alten, kleinen Fachwerkhaus blieb Nora stehen. Sie war inzwischen sehr aufgeregt und das blieb ihm natürlich nicht verborgen. Im Gegenteil, es übertrug sich sogar auf ihn. Durch den verwilderten Vorgarten gingen sie zu einer offen stehenden Haustür. Leise konnte man ein kleines Kind weinen hören. Drinnen erwartete sie bereits eine zierliche Frau, offenbar Noras Mutter. Sie hatte einen bunten Kittel an, um sie herum standen einige Körbe mit Wäsche.
Als sie ihre Tochter und den Fremden sah, stemmte sie ihre Arme in die Hüften und rief: „Wo kommst Du denn jetzt her, Nora? Und wer ist dieser Mann? Hast Du etwa was angestellt? Oder was sonst haben Sie mit meiner Tochter zu schaffen?“ „Mama, das ist Herr Nilsson. Wir waren segeln.“ „Mama, das ist Herr Nilsson. Wir waren segeln“, äffte die Frau sie nach. „Sag` mal, spinnst Du total? Du gehst morgens aus dem Haus, ich weiß nicht, wo Du bist und kommst abends mit einem fremden Mann wieder, mit dem Du die ganze Zeit unterwegs warst? Das glaub‘ ich jetzt nicht!“
Das weinende Kind hatte die Stimmen gehört und schaute vorsichtig durch einen Spalt der geöffneten Küchentür zu den dreien hinüber. „Frau Merz, ich bin mitgekommen, um mich Ihnen vorzustellen und die ganze Sache zu erklären. Mein Name ist Lars Nilsson. Nora hatte mich heute Morgen gefragt, ob sie mitsegeln darf und dann haben wir uns ordnungsgemäß beim Hafenmeister abgemeldet. Ich bin hier im Ort bekannt, wohne schon ein paar Monate bei Ludwig auf dem Campingplatz. Zwischen Ihrer Tochter und mir ist absolut nichts geschehen, was Unrecht ist. Ich verstehe aber sehr gut, dass Sie sich Sorgen gemacht haben, dafür bitte ich um Entschuldigung.“ Noras Mutter war sehr ärgerlich und gestikulierte ungehalten. „Ich entschuldige gar nichts, verstehen Sie? Nora, ich bin enttäuscht von dir. Du schläfst doch auch nicht auf dem Baum und weißt genau, dass manche Kerle auf junge Mädchen scharf sind und schreckliche Sachen mit ihnen anstellen. Versprich mir jetzt sofort, dass so etwas nie wieder vorkommt!“
Nora holte tief Luft, um etwas zu erwidern, aber Nilsson hob beschwichtigend seine Hände. „Frau Merz, vielleicht sollten wir uns erst einmal besser kennenlernen.“ Noras Mutter erhöhte ihre Tonlage und trat einen Schritt vor, ganz nahe an den Mann heran. „Warum, wieso, weshalb denn? Damit Sie sich in Zukunft noch besser an meine Tochter ranmachen können? Das wäre ja nicht das erste Mal, dass man von so was hört.“ „Mama, jetzt reicht es aber. Du bist oberpeinlich! Herr Nilsson wollte einfach nur nett sein und mir einen Wunsch erfüllen. Ich habe ihn gefragt, verstehst Du? Übrigens hatte ich mich vorher schon im Ort über ihn erkundigt. In dem kleinen Laden, wo ich aushelfe, bei Andreas im Bootsverleih und bei Fritz, dem Hafenmeister. Und außerdem, die meisten Sachen vor denen Du Angst hast, passieren doch sowieso in der Familie - darüber haben wir nämlich auch schon in der Schule gesprochen! Und jede Woche steht ein neuer Fall davon in der Zeitung!“
„Nora, ich habe Dir schon auf dem Boot gesagt, dass ich als Vater dieselben Sorgen hätte, von denen Deine Mutter jetzt spricht, deshalb kann ich sie sehr gut verstehen.“
„Ja, ja, weiß ich auch, dass in den Familien viel Schlimmes passiert, aber das eine schließt ja das andere nicht aus, oder? Dass Sie im Ort bekannt sind, beruhigt mich etwas, ich will mich ja auch auf meine Große verlassen, muss ich ja auch. Einsperren kann ich sie eh` nicht. Ich denke, mein Ausrasten war wohl etwas überzogen, entschuldigen Sie bitte. Aber ich bin etwas dünnhäutig geworden in letzter Zeit und heute ist sowieso alles schief gelaufen.“ Sie strich sich die strähnigen, blonden Haare aus dem Gesicht und ihr Mund zuckte. Sie war dem Weinen nahe. „Nein, nein, bitte – Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie haben ja Recht. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?“ „Ja gerne, wenn Sie eine Waschmaschine reparieren können, dann kommen Sie gerade wie gerufen!“, sagte Sie etwas spöttisch und zeigte in den Raum hinein auf das Gerät.
Die Waschmaschine hatte offensichtlich ihre beste Zeit schon seit langem hinter sich. Bestimmt war die Pumpe hinüber oder das Lager ausgeschlagen. Möglicherweise war auch die Elektrik defekt oder alles zusammen. „Gestern ging sie doch noch!“, sagte die Frau verzweifelt, während sie mit den Tränen kämpfte. Ihre Tochter ging zu ihr und legte tröstend den Arm um die aufgewühlte Mutter. Der Mann sagte: „Nora hat mir erzählt, dass Sie mit Waschen und so Geld verdienen. Dafür brauchen Sie doch gute Geräte!“
„Ja toll, ich gehe also rein in ein Geschäft, lege reichlich Geld auf den Tisch und kaufe mir eine neue Waschmaschine, nichts einfacher als das, oder? Schön wär`s! Ich hab` ja kaum was für die Miete und Lukas kann auch nicht in den Kindergarten gehen, weil ich`s nicht bezahlen kann. Möchten Sie noch mehr wissen?“
Nilsson merkte, dass die Frau mit den Nerven völlig am Ende war. Er sagte ruhig: „Nein, nein, ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen. Ich sehe aber, dass Sie dringend Hilfe brauchen. Haben Sie einen Gewerbeschein?“ „Ich habe eine vorläufige Erlaubnis, dass ich die Wäscherei führen darf. Der Bürgermeister war so freundlich, mir dabei zu helfen.“ „Das ist ja super, dann werden Sie die neuen Maschinen leasen also mieten. Die Raten kann man nämlich von der Steuer absetzen, das ist für Sie günstiger als welche zu kaufen. Mit einer Waschmaschine allein ist es jedoch nicht getan, zwei müssen her und Sie brauchen auch einen großen Trockner und eine neue Mangel.“ Noras Mutter sah den Fremden mit offenem Mund staunend an „Sind Sie etwa Unternehmensberater oder so etwas?“
Nilsson schüttelte den Kopf. Er erzählte ihr von Siegfried Pelz, dem Installateur, den er zusammen mit einem guten Steuerberater im Frühjahr aus der Pleite gerettet hatte und der jetzt wieder Chef einer erfolgreichen Sanitärfirma ist. „Ich erfahre heute Abend, wann Sie die Maschinen bekommen werden und sage Nora morgen Bescheid. Lassen Sie sie in den Ferien bei mir ruhig etwas Spaß haben. Ich meine auf dem Boot, beim Segeln natürlich. Das Mädchen hat Ihnen doch auch das ganze Jahr über geholfen. Und jetzt sind endlich Sommerferien!“ „Ja, aber --- ! Wieso tun Sie das alles, wir sind doch fremde Leute für Sie?“ „Ich hoffe, das wird sich bald ändern. Es ist doch klar, dass Sie jetzt Hilfe brauchen, und ich sehe wirklich keinen Grund, weshalb diese Hilfe nicht von mir kommen sollte. Und ich spreche von Hilfe und nicht von Almosen. Meine Ideen und Verbindungen werden Ihnen nun beim Start behilflich sein. Eines Tages jedoch, werden Sie sehr stolz auf sich selber sein, weil Sie nach diesem Neubeginn wirklich alles andere aus eigener Kraft geschafft haben.“
„Aber --- .“ „Jetzt bitte kein aber mehr, Frau Merz. Tun Sie mir nur den einen Gefallen: Vertrauen Sie mir! All‘ Ihre Fragen werden wir später klären. Stellen Sie sich einfach vor, dass einfach alles gut wird o.k.? Am besten, damit fangen Sie sofort an! Und wegen Nora brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, großes Ehrenwort!“
Siegfried Pelz war wie erwartet froh, dass er auch einmal etwas für Nilsson tun kann und versprach, alles aufs Beste zu regeln und schnell in das kleine Haus zu liefern.