Читать книгу NORA UND DAS GEHEIMNIS IHRES 16. SOMMERS - Cécile Tourin - Страница 8
Noras Vater Noras Vater
ОглавлениеDer Mann vor dem Tresen nahm keine Notiz von ihm und starrte abwesend in sein Bierglas. Seine Hose war fleckig und seine Jacke abgetragen. Nilsson spürte, dass er den Gesuchten vor sich hatte. Er richtete sich auf, ging direkt auf ihn zu und fragte in einem forschen Ton: „Herr Merz, Bodo Merz?“ Der Angesprochene fuhr zusammen, die Augen weit aufgerissen, panisch sah er sich um. „Sch---- Polizei!“, rief er. Ein junger Mann und ein Mädchen sprangen sofort von ihren Stühlen auf und rannten auf die Straße. Die Begleiter der beiden guckten erschrocken zu den beiden Männern an der Theke hinüber. Die Bedienung drehte sich langsam um und fragte höhnisch: „Haste etwa Mist gebaut, Bodo?“ „Ich bin kein Bulle!“, rief der neue Gast in den Raum und sagte dann etwas leiser zu Merz gewandt: „Ich bin Lars Nilsson.“ Der zerlumpte Mann sank wieder in sich zusammen und trank sein Glas auf einen Zug leer. Das Mädchen am Tisch griff zu ihrem Handy und telefonierte.
„Was wollen Sie?“, fragte Merz den Fremden gereizt. „Reden, mit Ihnen reden.“ „Gibt’s denn was zu reden - zwischen uns?“ „Ja, Mann, ich denke, wir haben eine Menge zu besprechen.“ Der Schwede hatte damit gerechnet, dass Noras Vater sich wehren würde, sich seine Einmischung verbitten würde. Weil das aber nicht geschah, merkte er, dass der Mann sich seiner Misere bewusst und nervlich am Ende war. Für Nilsson ein guter Ausgangspunkt für seinen Plan. Das Pärchen, das eben fluchtartig das Lokal verlassen hatte, kam langsam zurück in die Bierstube. Der junge Mann mit dem kantigen Gesicht legte seine große tätowierte Hand auf Merz‘s Schulter, sah dabei angriffslustig zu Lars hinüber und fragte: „Alles in Ordnung, Bodo?“ „Is gut Boris, is alles gut, ja, ja.“
Die beiden Männer, die nun ungestört reden wollten, setzten sich an einen Tisch im hinteren Teil der Gaststube. „Schickt Sie etwa meine Frau?“ „Nein, ich brauche Ihre Hilfe.“ „Meine Hilfe, dass ich nicht lache. Wobei denn? Woll‘n Sie `ne Bank überfallen oder was?“ „Sind Sie denn ein guter Bankräuber?“ „Natürlich nicht, das heißt äh, noch nicht. Aber man kann ja nie wissen.“ Merz strich sich nervös über seine ungepflegten, langen Haare und sah den Fremden misstrauisch an. „Mein Boot ist kaputt. Ich suche einen Fachmann, der sich mit Holzbooten auskennt.“ „Sie haben ein Holzboot?“ „Ja, genauer gesagt eine Segelyacht aus Holz.“ „Und was für einen Typ?“ Die müden Augen des Mannes bekamen plötzlich wieder einen gewissen Glanz. „Es ist ein Eigenbau, das Schiff gehörte einer Frau aus Heiligenhafen. Sie hatte es vor einigen Jahren nach hier an den Bodensee überführen lassen.“ „Heiligenhafen – ja, lassen Sie mich mal kurz überlegen. Ein Boot aus den 70er Jahren, ja?“ Lars nickte. „Circa 10 Meter lang und knapp 3 Meter breit? Mit Volvo Innenborder?“ „Genauso ist es, das hört sich ja fast so an, als ob Sie das Schiff kennen würden.“ „Ein feines Teil, ich habe es damals hier auf der Werft repariert. Die Eignerin war eine Frau von und zu oder so. Dummerweise kam sie eines Tages zu nahe ans Ufer und ist auf die Steine gerauscht. Dabei hat sie sich den Rumpf der Yacht ganz schön ramponiert. War `ne feine Dame, sehr elegant, dabei erstaunlich nett und vor allem sehr großzügig. Ich hab‘ ihr an meinen freien Wochenenden auch noch einen Schrank in die Kabine gebaut, aus einem seltenen Mahagoni, mit Intarsien.“
Nilsson fügte kopfnickend hinzu: „Und mit einem Geheimfach darin.“ „Ja, das wollte die Dame so für ihren Schmuck und wichtige Papiere. Das alles hat sie sich ein paar Tausender kosten lassen. Aber sie legte Wert auf das Beste und der Preis spielte für sie dabei keine Rolle.“ Die Begeisterung, über seine frühere Arbeit zu sprechen, war ihm deutlich anzumerken. „Im Mai hatte ich den Segler gekauft, kurz nachdem ich nach Hagnau kam.“ Merz lief plötzlich rot an und knallte sein Glas so heftig auf den Tisch, dass das Bier heraus schwappte und sagte zornig: „Und auf diesem Boot haben Sie also mit meiner Tochter --- ?“ Nilsson packte ihn mit beiden Händen am Kragen und zischte: „Was immer Sie darüber gehört haben, es ist blanker Unsinn, streichen Sie das aus Ihrem Kopf, wenn Ihnen die Würde Ihrer Tochter auch nur einen Cent wert ist! Nora wird Ihnen alles erzählen, wenn Sie es genau wissen wollen. Es ist zwischen uns nichts Unrechtes geschehen und damit basta - ein für alle Mal, verstanden?“
Der hünenhafte Russe stand schon wieder auf, kam langsam auf ihren Tisch zu und fragte lauernd: „Is wirklich alles in Ordnung, Bodo?“ Nilsson hatte Merz inzwischen wieder losgelassen und der zupfte seine Kleidung wieder zurecht. „Is alles gut Boris, nur `n Gespräch unter Männern. Kann manchmal `nen bisschen laut werden, weißte ja.“ Und zu Lars gewandt sagte er traurig: „Ich glaube gar nicht, dass Nora überhaupt noch mal mit mir reden will. Und nach gestern schon gar nicht.“ „Gestern war gestern und heute ist heut. Bei uns in Schweden gibt es ein Sprichwort, das heißt: ‚Jeder Tag ist ein neuer Anfang‘. Und morgen sehen Sie sich bitte mal mein Boot an. Sie checken, was an Material und Werkzeug gebraucht wird und dann besorgen wir es gemeinsam. Ich hole Sie hier vor dem Imbiss morgen früh um 8 Uhr ab.“ Dann senkte er die Stimme und beugte sich ganz nah zu Merz hinüber. „Und für heute Nacht habe ich noch eine wichtige Aufgabe für Sie:
Denken Sie intensiv darüber nach, wohin Sie ab morgen gehören möchten: Zu Ihren Kumpels am Hafen, um weiter zu saufen oder zu Ihrer Frau und zu Nora und zu Lukas, zu Ihrer eigenen Familie, die Sie dringend braucht!“ Im Gesicht des Mannes zuckte es deutlich, er war sichtlich den Tränen nahe. „Und haben Sie keine Angst davor, was gestern gewesen ist. Die drei werden den Tag nicht vergessen, aber die Chance, dass sie Ihnen vergeben, die haben Sie dennoch.“
Nilsson verabschiedete sich und fuhr zurück zum Gasthaus Montfort. Er stellte sich mit aller Kraft vor, dass Merz morgen früh pünktlich und in sauberer Kleidung vor dem Imbiss auf ihn warten würde, genau wie er es mit ihm verabredet hatte. Mitten in der Nacht rief Nora auf seinem Handy an. Mit leiser, trauriger Stimme fragte das geliebte Mädchen: „Hej Lars, wo bist Du überhaupt? Ist alles in Ordnung mit Dir? Ich mach` mir solche Sorgen!“ „Es ist alles gut Nora, ich komme bald zu Euch zurück, vielleicht schon morgen Abend.“ Sie schluchzte: „Ich vermisse dich, sehr sogar! Ohne Dich fühle ich mich so schwach und mit Dir so stark! Ich werde noch verrückt fürchte ich, denn ich habe so große Angst wegen Papa.“ „Mach Dir keine Sorgen, morgen sieht die Welt für ihn und für Euch schon anders aus, versprochen.“ „Lars, wir verstehen uns doch so gut, wir passen wunderbar zusammen und ich habe dich so lieb. Ich möchte, dass Du nie wieder von mir weg gehst!“ Der Schwede bekam eine Gänsehaut, als er das hörte und sein Herz klopfte wie wild. Sie sprach eindringlich weiter: „Wenn ich träume, träume ich von Dir und wenn ich an die Zukunft denke, denke ich nur an eine gemeinsame Zukunft mit Dir.“ Das ihm nur allzu bekannte, unbehagliche Gefühl, in anderen Menschen Erwartungen geweckt zu haben, die so nicht seine Absicht gewesen sind, nahm wieder einmal von ihm Besitz. Es stieg in ihm empor, wie ein schleichendes Gift. Und diesmal war alles noch viel schlimmer, denn bei den Empfindungen von Nora handelte es sich ja um echte Liebe. Um ihre erste unvergessliche Liebe. Sein Schuldbewusstsein, dass er es mit dem unerfahrenen Mädchen soweit hatte kommen lassen, wuchs mit jedem Wort von ihr.
„Nora, bitte, ich will nicht, dass es so tief geht mit uns, verstehst Du. Das ist nicht gut!“ Nach einer kurzen Pause sprach sie mit fester, fast trotziger Stimme. „In ein paar Tagen werde ich 16!“ „Was willst Du mir damit sagen?“ „Kannst Du Dir das nicht denken?“ Natürlich wusste er, was sie ihm mit diesem Hinweis sagen wollte. „Nora, 16 - das ist nur eine Zahl, die vom Gesetz her wichtig ist, sie hat für mich keine Bedeutung. Ich weiß, was Du meinst, aber ich will im Moment nicht darüber nachdenken, kann jetzt keine Zukunft planen, hörst Du! Mach es Dir und mir doch bitte nicht so schwer. Morgen früh weiß ich, ob mein Plan für Deinen Vater Erfolg hatte. Wenn Du beten kannst, dann bete jetzt dafür. Bete für Deinen Vater, dass er es wieder schafft, aufzustehen.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er danach auf.