Читать книгу NORA UND DAS GEHEIMNIS IHRES 16. SOMMERS - Cécile Tourin - Страница 4
Ein neues Leben beginnt Ein neues Leben beginnt
ОглавлениеAm nächsten Morgen fuhr er mit Nora wieder hinaus auf den See. Zwischen Immenstaad und Friedrichshafen ankerten sie in der Nähe des Ufers. „So, jetzt kannst Du mir ja mal zeigen, was Du im Schwimmen so drauf hast.“ Er schaute das junge Mädchen dabei so neutral an, wie es ihm möglich war, denn sie trug inzwischen ihren Bikini und sah sehr aufregend aus. „Ja, da werden Sie aber staunen!“ Siegesgewiss lächelte Nora den Schweden sehr selbstbewusst an. Sie merkte natürlich, dass sie ihm gefiel und kokettierte übermütig mit ihrem mädchenhaften Charme. „Ab jetzt bitte Lars und Du, weil - Segelkameraden duzen sich überall auf der ganzen Welt.“ Er selbst kletterte über die Badeleiter hinunter in das Wasser. Da es hier schon seit Mai ziemlich warm war, hatte der Bodensee jetzt die perfekte Badetemperatur. Nora indessen sprang direkt vom Schiff in den See. Das Wasser war sichtlich ihr Element. Sie schwamm und tauchte und lachte und war sehr glücklich. Übermütig warf sie Lars Wasserpflanzen zu, die sie vom Grund mit herauf brachte.
„Hab` ich jetzt einen Hunger!“ rief Nora aus, als sie erschöpft wieder an Bord kletterte. Sie hatte sich nur flüchtig abgetrocknet, so dass bunt schillernde Wassertropfen noch zahlreich auf ihrer leicht gebräunten Haut perlten. „Es ist alles da, wir können frühstücken.“ „Krieg ich auch Kaffee? Zuhause darf ich nämlich nicht.“ „Bediene Dich, hier darfst Du. Sind doch Ferien!“
„Und was machen wir dann?“ „Hast Du Vorschläge?“ „Einfach fahren, fahren, fahren, dann wieder schwimmen und wieder fahren und essen und immer so weiter!“ „O.k., dann machen wir das doch einfach“, lachte Nilsson und freute sich, dass das Mädchen sich bei ihm so wohl fühlte. Als sie gefrühstückt hatten, zogen sie die Anker auf, stellten die Segel in den Wind und los ging es. Nora legte sich wieder auf das Vordeck und schloss die Augen. Langsam fuhr das Boot in Richtung Friedrichshafen.
„Aua!“, rief sie plötzlich „Mist, ich habe einen Splitter im Finger. Hier sind ja auch ein paar Holzlatten lose.“ „Ja leider, ich weiß. Ich werde das ganze Deck restaurieren lassen. Dies ist ein Boot aus Teakholz, schon ziemlich alt. Ich habe es hier erst im letzten Herbst gekauft. Einer der Vorbesitzer hat es selbst gebaut. Das war sicher eine Heidenarbeit. Von der Idee über die Konstruktion bis zur Fertigstellung - das muss Jahre gedauert haben. Der Rumpf ist ansonsten tadellos in Ordnung, der Motor - von Volvo, ist übrigens auch ein Schwede wie ich ha, ha - der ist perfekt, ich leider nicht. Die Decksplanken allerdings sind nicht so gut über den Winter gekommen.“ „Das wäre ja eigentlich was für meinen Vater.“ „Versteht der was von Booten?“ „Natürlich, klar, er ist doch Tischler und Bootsbauer. Nur im Moment hat er ein Problem, weil er keine Arbeit hat“, sagte sie traurig und bekam feuchte Augen. Dann wischte sie sich schnell mit dem Handrücken über das Gesicht, hob trotzig ihren Kopf und schaute wieder nach vorn. „Da ist ja schon Friedrichshafen, bitte lass uns da nicht anlegen!“ „Warum nicht?“ „Er könnte am Hafen sein mit seinen Kumpels.“ „Mhm - und Du meinst, es wäre nicht so gut ihn zu sehen?“ „Ich glaube nicht. Außerdem wäre es bestimmt auch nicht so toll, wenn er uns beide zusammen sehen würde.“ „O.k., wir drehen ab und fahren rüber nach Romanshorn an das Schweizer Ufer.“
Unterwegs erzählte Nora, dass ihr Vater damals auf der Werft in Langenargen Arbeit gefunden hatte. Ein ganzes Jahr lief alles bestens. Er war in der Woche in Langenargen und am Wochenende kam er nach Hause, nach Ulm, wenn er nicht durcharbeiten musste. Denn es gab oft sehr viel zu tun und hat er wirklich gern gearbeitet. Er liebte sein Holz und den Umgang mit den Werkzeugen und Maschinen. Später holte Merz seine Familie nach und sie zogen nach Hagnau in das alte Fachwerkhaus. Er hatte sich so darauf gefreut, es nebenbei zu restaurieren und sie waren damals eine sehr glückliche Familie.
Doch dann kam alles anders. Die Werft bekam einen neuen Besitzer und der Neubau von Holzschiffen wurde eingestellt. Es wurden nur noch Kunststoff- und Metallboote gebaut. Holzboote verkauften sich plötzlich nur noch schlecht. Sie waren einfach zu teuer und brauchten sehr viel Pflege. Drei Tischler wurden entlassen. Nur die beiden Ältesten behielt der neue Chef für Innenausbauten und Reparaturen. Bodo Merz hatte sich sofort wieder in der ganzen Bodenseeregion bemüht, eine neue Arbeit zu finden, aber er hatte kein Glück. In Bodman hatte er mal 2 Monate gearbeitet, war wieder voller Hoffnung, erhielt jedoch keinen Lohn, weil die Firma bereits pleite war, als er eingestellt wurde. Das alles ging über seine Kräfte und er war verzweifelt und missmutig, trank oft Alkohol und lernte schließlich die falschen Leute kennen. Es gab Zuhause immer öfter Streit, denn er vertrank das Geld für die Miete und sogar für das Essen.
Irgendwann konnte sie es nicht mehr aushalten und seine Frau forderte ihn auf, das Haus zu verlassen, wenn er sich nicht ändern würde. Als er schließlich weg war, begann sie mit der Wäscherei, um für sich und die Kinder zu sorgen. Und Nora musste nach der Schule Wäsche bügeln und zu den Kunden bringen. Der kleine Lukas hörte von einem Tag zum nächsten auf zu sprechen, als er merkte, dass sein Vater nicht mehr wiederkam. Nora redete sich zum ersten Mal alles von der Seele und immer wieder musste sie dabei weinen. „Hey, weißt Du was, in Schweden gibt es ein Sprichwort, das heißt: ‚Jeder Tag ist ein neuer Anfang‘. Ich habe eine Idee: Wir bringen dieses Sprichwort zu Deinem Vater und lassen es durch ihn einmal wieder lebendig werden, o.k.?“ „Ich wüsste nicht, wie Du das machen könntest, Lars. Wir haben ihn nämlich schon einige Monate nicht mehr gesehen. Er ist bereits so tief gesunken.“ „Jemand hat einmal gesagt: ‚Man kann nicht tiefer fallen, als in Gottes Hand‘. Und darin sind wir doch sowieso alle, oder?“
Abends segelten sie zurück nach Hagnau. Unterwegs meldete sich Siegfried auf Lars‘ Handy. Seine Installateure hatten die neuen Geräte bei Frau Merz aufgestellt und Lars soll nur noch bei Gelegenheit zu ihm kommen und die Verträge durchsehen, ob die Konditionen in Ordnung sind. Ach so, und er hätte noch nie jemand gesehen, der sich so sehr gefreut hat, wie diese Frau!
Als sie auf dem Weg zu Noras Haus waren, ertönte plötzlich eine Stimme: „Hallo Lars, heute mit Freundin?“ „Hallo Ulli.“ Ohne stehenzubleiben erhob Nilsson lässig die Hand zum Gruß. „Ist die Kleine nich ‘n bisschen jung für dich?“ „Das lass` mal meine Sorge sein!“ Sie gingen weiter und Nora lachte: „Was war das denn jetzt?“ „Ach, lass mal, Ulli ist ein alter Quatschkopf. Er trägt sein Herz auf der Zunge, das hat allerdings den Vorteil, dass man weiß was er denkt. Allein wir in unserem Kopf entscheiden, ob das Gerede anderer für uns wichtig ist oder nicht. Nur was wir in uns rein lassen, gibt den Menschen Macht, uns zu beleidigen, zu verletzen oder uns traurig zu machen. Also lassen wir es einfach draußen, oder?“ Er lächelte das Mädchen aufmunternd an. Sie nickte nachdenklich. „Ist manchmal aber nicht so leicht!“
Natürlich weiß Nilsson, dass seine Lebenshilfe-Sprüche nicht immer trösten können. Sie hin und wieder aufzusagen, fand er trotzdem allemal besser, als pessimistisch und nörgelig zu sein.
„Das sieht ja richtig gut aus, Frau Merz!“ „Whow, Mama, Du hast ja jetzt eine richtige kleine Firma.“ „Ja, ich weiß aber wirklich nicht, was ich sagen soll, ob ich lachen oder weinen möchte.“ „Lachen, Frau Merz, lachen Sie einfach, das ist immer besser, wenn man schon die Wahl hat.“ Alle drei lachten spontan. Nora und ihre Mutter umarmten sich und schauten Lars dankbar an. „Also ohne Sie ---?“ „Hätten Sie es auch irgendwie geschafft, bestimmt! Übrigens bei uns in Schweden nennen wir uns beim Vornamen, ich bin Lars.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Ja, äh --- und ich bin Anna.“ „O.k., ich denke, ihr kommt jetzt klar und ich gehe dann mal. Wenn ihr mich braucht, wisst ihr ja, wo ihr mich finden könnt. Nora hat ja auch meine Handynummer. Anna, wenn Sie auch einmal Lust auf eine Segeltour haben, Sie alle drei sind herzlich eingeladen. Bestimmt wäre das auch was für Lukas.“
Nora und der Schwede trafen sich danach fast täglich. Kreuz und quer segelten sie über den schönen See. Mal nach Lindau, nach Bregenz und hinüber in die schöne Schweiz. Nach Konstanz und zur Insel Mainau, ‚zu seinen adligen Verwandten, der gräflichen Familie Bernadotte‘, die ja wie er auch aus Schweden kommt, wie Nora schelmisch bemerkte. Sie lernte so ganz nebenbei die Fertigkeiten des Segelns und will in den Herbstferien ihren Segelschein machen. Sie wurde entspannter, fröhlicher und irgendwie erwachsener mit jedem neuen Tag.
Von Konstanz aus fuhren sie eines Tages mit dem Zug nach Zürich. Nora staunte nur so über die Schönheit dieser Stadt, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Sie suchte sich dort sehr trendige, sportliche Sachen aus. Und Nilsson fand riesiges Vergnügen daran, sie beim Shopping zu begleiten. Natürlich musste er dabei an seine Tochter Alva denken, mit der er solche fröhlichen Tage leider nie verbracht hatte. Diese Gedanken schmerzten ihn sehr. Jetzt aber sollte er mit Nora, einem fremden Mädchen aus dem kleinen Hagnau diese Freude teilen dürfen. Er versuchte erst gar nicht, diesen seltsamen Weg des Schicksals zu verstehen.
Mit dem Zeppelin sind sie natürlich auch gefahren und haben sich die herrlichen Landschaften um den Bodensee herum von hoch oben aus angesehen. Sie bestaunten Sonnenaufgänge über den Weinbergen und das Farbenspiel der untergehenden Sonne im Westen des großen Sees. Sie erlebten Nebel und Stürme auf dem Wasser und waren manchmal klitschnass vom Regen. Es sollten wunderbare und unvergessliche Tage für das ungleiche Freundespaar werden.
Dabei erzählte Lars ihr auch von sich, von seiner Frau Elisabeth und von Alva, seiner Tochter: „Ich war praktisch nur unterwegs. Mein Job führte mich ständig nach Norwegen, nach Finnland, nach Russland, auch nach Deutschland, aber leider viel zu selten wieder zurück nach Schweden. Aber ich beruhigte mich damit, dass ich meinte, mit Elisabeth und Alva, das liefe sehr gut. Sie wohnten in einem schönen Haus und bekamen alles, was Sie sich wünschten. Später musste ich dann jedoch einsehen, dass ich viel zu kurz gedacht und das Wichtigste nicht gespürt hatte, nämlich dass sie mich brauchten und meine Liebe, meine Nähe und das sichere Gefühl, dass ich zuerst für die beiden da bin. Besonders litt natürlich meine Tochter, der ich sehr gefehlt haben muss. Auf irgendwelchen Partys kam Alva dann mit Drogen in Berührung. Als wir merkten, was mit ihr los war, war es leider schon viel zu spät. Wir brachten sie in eine Schweizer Privatklinik bei St. Gallen. Dort sollte Sie entgiftet und therapiert werden. Danach besuchte Sie ein Internat in der Nähe des Bodensees, nicht weit von hier. Aber sehr weit weg von ihren alten Freunden in Schweden. Wir dachten, das sei das Beste, was wir für Alva tun konnten. ‚Absolut drogenfrei‘ hatte man uns damals versichert. Aber dem war leider nicht so. Eines Tages rief der Direktor an und bat uns sofort herzukommen denn Alva ginge es sehr schlecht. Wir haben sie leider nicht mehr lebend gesehen, denn noch in derselben Nacht ist sie in der Universitätsklinik von Konstanz gestorben. Todesursache war die Überdosis einer chemisch hergestellten Droge. Das ergaben später die Untersuchungen der Gerichtsmedizin. Ein fremdes Verschulden schien aber ausgeschlossen zu sein. Der Fall erregte damals ziemliches Aufsehen und der Ruf des Internats litt über längere Zeit sehr darunter. Wir haben Alva in ihrer Heimat in Schweden beerdigt.“
Nilsson erzählte Nora, dass Elisabeth und er sich nur noch gestritten hatten, seit Alva tot war. Dass er die Vorwürfe seiner Frau irgendwann nicht mehr ertragen hatte und von ihr weggegangen ist. „Aber sag mal, Du hast Deine Frau doch einmal geliebt, oder? Hättet ihr nicht einen Weg finden können, Alvas Tod gemeinsam durchzustehen?“ „Ja, ich habe sie sehr geliebt. Vielleicht haben wir beide uns zu wenig Mühe gegeben, das gemeinsame Schicksal zu bewältigen. Durch Alvas frühen Tod waren wir wahrscheinlich zu sehr schockiert und haben nicht mehr an uns geglaubt.“ „Wie ist das eigentlich so mit der Liebe, wie merkt man, dass man jemanden nicht nur gern hat, sondern richtig liebt?“ „Ja, weißt Du, das ist vielleicht bei jedem anders. Also das merkt man irgendwie im Inneren. Du fühlst sich wohl mit jemandem, ob man zusammen spricht oder gemeinsam schweigt. Man hat bei diesem Menschen das Bedürfnis, von sich zu erzählen und interessiert sich auch wirklich für alles vom anderen. Oder Du bewunderst Eigenschaften, die Du selbst nicht hast. Es stört einen fast nichts, man streitet sich nicht sehr und hat das Gefühl, man kann lange Zeit miteinander leben. Die innere Bereitschaft, vieles aus Liebe zu tun oder auch auf einiges zu verzichten, ist ebenfalls ein gutes Merkmal. Auch wenn man meint, den anderen schon ganz lange zu kennen. Starke Emotionen, die durch ein ähnliches Schicksal hervorgerufen werden, großes Verständnis füreinander zu haben und sich irgendwie selbst in dem geliebten Menschen wiederzuerkennen, sind sicher Zeichen von Liebe.“
Nora hatte ihm aufmerksam zugehört und dachte nach. Nach einer Weile sagte sie: „Ich frage noch mal wegen Alva. Was, ja was wird wohl sein, nach dem Tod, was meinst Du, Lars?“ Während sie sprach, schaute das Mädchen ihn aufmerksam an. „Es geht bestimmt weiter, Nora, immer weiter. Aber in einer anderen, für uns unsichtbaren Welt. In einer Dimension die wir noch nicht kennen. Obwohl manchmal ---“, er stockte unvermittelt. „Was meinst Du mit manchmal?“ Gespannt sah sie ihm in die Augen.
Da jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, ihr zu beschreiben, was er gesehen und gespürt hatte, antwortete er nur ausweichend: „Naja, manche Menschen haben ja so besondere Erlebnisse, Erscheinungen und so. Das nehme ich durchaus ernst und ich glaube, dass es vieles gibt, was wir nicht wissen. Ich vergleiche unser Wissen immer mit einem Eisberg. Nur zehn Prozent von so einem Koloss sehen wir über dem Wasserspiegel, aber neun Teile von ihm sind somit unsichtbar und doch vorhanden.“
„Lars, glaubst Du eigentlich wirklich an Gott?“ „Oh ja - und ich bin immer sehr gut dabei gefahren. In schwierigen Situationen war ich nie mutlos, sondern fühlte mich irgendwie getragen. Dadurch war ich auch nie hilflos und allein. Hinter einem vermeintlich Schlechten habe ich auch immer versucht, einen Sinn, eine Bedeutung zu finden. Und ich habe mich gefragt, was will mir Gott damit sagen? Oft bekam ich dann auch eine Antwort.“ „Mir kommt das alles sehr, sehr schwierig vor. Man sieht nichts und man hört nichts, man soll nur glauben!“
„Meiner Meinung nach ist Gott allgegenwärtig vor allem in den schönen Dingen, die wir kennen und nach denen sich Menschen sehnen: ER ist in Vertrauen, Hoffnung, Geborgenheit, Schönheit und vor allem in der Liebe. Und natürlich in der wunderbaren Natur! In Menschen, Tieren, Pflanzen, Tälern, Bergen, Seen und Meeren. Die Präzision, mit der die Welt funktioniert - faszinierend! Wir können heute bereits berechnen, wann in hundert Jahren an einem bestimmten Tag und Ort die Sonne aufgeht. Oder zu welcher Stunde an den Meeresküsten Ebbe oder Flut ist. Wir können Raumschiffe zum Mond und noch viel weiter in die Galaxie schicken, nur weil es die unumstößlichen Naturgesetze gibt. Und niemand, außer dem größten Wissenschaftler aller Zeiten - so nämlich wird Gott in der Literatur zuweilen auch bezeichnet - hätte diese Gesetzmäßigkeiten ein für alle Mal festlegen können. Es sind oft Atheisten, die sagen, der Urknall hätte die Welt und das Universum geschaffen. Ein Knall bedeutet jedoch immer Scherben, Zerstörung, Chaos, Unordnung. Aber nicht all‘ das Herrliche und Schöne, was uns diese Welt bietet. Für mich ist die Schöpfungsgeschichte, so wie sie im 1. Buch Mose steht, nachvollziehbare Realität, an die ich gerne glaube. Anderen Theorien kann und will ich nichts abgewinnen.“
„Ich frage mich immer, wie das zum Beispiel mit dem Beten funktionieren soll. Tausende, vielleicht Millionen Menschen beten zur gleichen Zeit! Und jeder einzelne denkt, Gott hört ihn, wie bitteschön, soll das denn gehen?“ „Ich habe darüber auch sehr oft nachgedacht, Nora. Aber vielleicht ist es so wie am Weihnachtsfest. Millionen von Kindern in aller Welt schreiben ihre Wunschzettel an das Christkind. Jedes von ihnen ist sich sicher, dass zumindest ein Herzenswunsch in Erfüllung geht. Und die meisten werden wahrscheinlich auch nicht enttäuscht, weil das Christkind, Santa Claus, Väterchen Frost oder der Weihnachtsmann unzählige Helfer hat, nämlich die Eltern oder andere liebe Menschen, die die Geschenke besorgen. Und so könnte ja auch Gott unzählige Helfer haben, vielleicht sogar für jeden Menschen einen.“
„Ja, einen Schutzengel! Und dabei fällt mir ein, dass Gott ja auch Kraft und Energie ist. So wie das Sonnenlicht. Und jeder, der sein Haus verlässt und aus dem Schatten tritt, bekommt etwas von diesem Licht und der Wärme ab. Und der Sonne ist es ja egal, ob sie auf eine Million oder auf eine Milliarde Menschen herab scheint. Jeder erhält die gleiche Kraft von ihr.“
„Das ist ein super Beispiel, Nora! So könnte man sich ein Gebet zum Beispiel als den Türöffner und ersten Schritt vorstellen, mit dem man in die Sonne, also im übertragenden Sinne, in das Kraftfeld Gottes eintritt. Und das können unzählige Menschen zugleich tun! Denn diese Kraft ist unerschöpflich und wirkt in jedem einzelnen von uns, wenn man sich ihr öffnet.“ „Lars, ich mag es, wenn Du mir etwas erklärst. Vor allen Dingen machst Du es so, dass ich es auch verstehe. Das ist richtig super!“ „Und ich lerne von dir, Nora!“ „Von mir? Das hast Du jetzt nicht ernst gemeint, oder?“ „Aber ja, ich nehme alles viel intensiver wahr, seit wir uns kennen. Ich finde Deine Leichtigkeit, Deine unbändige Freude und Deine Fröhlichkeit einfach toll. Deine unkomplizierte, frische Sicht auf Dinge hilft mir, manches einfach mal aus anderen Blickwinkeln zu sehen und besser zu verstehen. Denn Deine Ansichten sind nicht verstellt und verbrettert von den vielen Erfahrungen und Bedenken, die Erwachsene nun einmal haben.“
Der Mann und das Mädchen wussten mittlerweile so viel über sich und sie mochten sich mehr und mehr, je näher sie sich kennenlernten. Etwas irgendwie übersinnlich Vertrautes schien sie fest zu verbinden. So, als ob sie sich schon eine Ewigkeit kennen würden. Es beunruhigte Lars allerdings sehr, dass er eigentlich nur noch zwei Zustände kannte: Entweder war Nora bei ihm oder er vermisste sie voller Sehnsucht. Besonders schwer waren die Nächte für ihn, die langen Stunden, in denen er nicht schlafen konnte, wenn die Sehnsucht nach ihrer Gesellschaft in seinem Kopf Karussell fuhr. Sehnsucht nach ihren strahlenden Mädchenaugen, die ihn anblitzten, nach dem frischen Geruch ihrer Haare und ihrer Haut, nach ihren geschmeidigen Bewegungen. Sehnsucht nach ihrem glücklichen Gesicht, wenn der Tag für sie schön war. Und er hatte Sehnsucht nach ihrem Lachen, wenn irgendwas Lustiges passierte, Sehnsucht nach ihrer Stimme, die so ruhig und klar war. In jedem gemeinsamen Augenblick saugte er die Energie der unverbrauchten Jugend auf, die ihm aus allen Zellen ihres Körpers entgegenstrahlte.