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ОглавлениеWAS WISSEN WIR ÜBER DEN AUTOR UND SEINE WELT?
Reicher Schalen Geschenk böt’ ich und edles Erz, Censorinus, mit Lust meinen Erkorenen; …
Doch des fehlt mir die Macht; und es bedarf auch dir weder Habe noch Sinn solcherlei Köstlichkeit.
Lieder freuen dein Herz; Lieder vermögen wir und bestimmen genau unserm Geschenk den Wert.
(Horatius, Carmen 4,8,1–2 und 9–12)
Mit diesen Versen, die hier in der klassischen Übersetzung des Johann Heinrich Voß (1751–1826), eines Zeitgenossen Goethes, wiedergegeben sind, beginnt ein berühmtes Carmen (Lied) des römischen Dichters Quintus Horatius Flaccus (Horaz, 65–8 v. Chr.). Es ist dem Lucius Marcius Censorinus gewidmet, der im Jahr 39 v. Chr. einer der beiden Konsuln in Rom war und vom Dichter keine kunstvoll gearbeiteten Metallschalen und andere Wertgegenstände erhält, sondern ein literarisches Werk.
Sicher mit Bezug auf dieses Carmen, das Horatius für Censorinus schrieb, beginnt das im Jahr 238 n. Chr. entstandene Geburtstagsbuch (De die natali liber) mit einer ähnlichen Widmung – freilich nicht für einen Censorinus; vielmehr ist ein Censorinus Autor des Buches. Zwar nennt das älteste, aus dem 7./8. Jh. n. Chr. erhaltene Textzeugnis – wir werden es gleich kennenlernen – diesen Verfassernamen nicht, doch spricht bereits im 5. Jh. n. Chr. der heilige Sidonius Apollinaris in dem Widmungsbrief zu einem eigenen Carmen, das er einem Freund zur Hochzeit weiht, von „Censorinus, der den berühmten Band über den Geburtstag verfasst hat” (Carmen 14 pr.), und im 6. Jh. gibt der Kirchenvater Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator an: „Wir haben auch Censorinus gefunden, der an Quintus Cerellius über dessen Geburtstag schrieb” (Institutiones 2,5,1).
Dieser Censorinus ist uns sonst nur als Verfasser eines Lehrbuchs der Grammatik (Ars grammatica) und eines Werks „Über Akzente” (De accentibus) bekannt, also als Philologe; beide Werke sind allerdings verloren. Erhalten ist hingegen Censorinus’ Geburtstagsbuch, in dem er auf zwei Männer mit dem Beinamen „Censorinus” direkt Bezug nimmt: auf Lucius Marcius Censorinus, einen der beiden Konsuln des Jahres 149 v. Chr., und auf Gaius Marcius Censorinus, einen der beiden Konsuln des Jahres 8 v. Chr. Durch die Anspielung auf Horatius’ Carmen am Beginn des Werks, die seine Leserschaft sicher verstanden hat, verweist er außerdem auf einen dritten Konsul namens Censorinus, den des Jahres 39 v. Chr. Handelt es sich vielleicht um Vorfahren des Verfassers des Geburtstagsbuchs?
Über den von Censorinus beschenkten Jubilar, Quintus C(a)e-rellius, wissen wir ausschließlich das, was das ihm gewidmete Geburtstagsbuch (15,4–6) über ihn berichtet. Er hatte den Rang eines „Ritters” erlangt, den zweithöchsten nach dem der Nobilität, hatte in seiner Heimatstadt in einer Provinz des Imperium Romanum bürgerliche und religiöse Ämter erfolgreich durchlaufen und war auch als Gerichtsredner in der Reichshauptstadt Rom bekannt geworden. Sicher konnte sich die Leserschaft in der Person des Jubilars wiederfinden (oder zumindest davon träumen, durch Bildung ähnliche Erfolge zu erzielen) – und darauf bauen, „dass Männer von deiner Art ihr Leben nicht verlassen haben, bevor sie nicht das 81. Lebensjahr durchschritten haben” (15,1): Gebildete Menschen werden, wie uns Censorinus hier versichert, sehr alt!
Ein Kompendium antiken Bildungswissens
Censorinus bietet mit seinem „Kompendium” (5,1) eine einmalige Übersicht über antikes Bildungswissen und wurde deshalb nicht nur im Mittelalter wiederholt abgeschrieben – dazu gleich mehr –, sondern auch in der frühen Neuzeit sehr geschätzt. Nikolaus Kopernikus (1473–1543) etwa verwendete es in seinem bahnbrechenden Werk „Über die Umschwünge der himmlischen Kreise” (De revolutionibus orbium coelestium, 1543), Joseph Justus Scaliger (1540–1609) spricht in seinem Buch „Über die Verbesserung der Zeitrechnung” (De emendatione temporum, 1583), mit dem er die Chronologie der Antike revolutionierte, von dem Geburtstagsbuch als einem aureolus libellus, einem „goldenen Büchlein”, und Giovanni Battista Riccioli (1598–1671) benannte auf seiner 1651 publizierten Mondkarte nach dem Autor des Geburtstagsbuchs den hellen Mondkrater (0.4° S, 32.7° O) am Rand des (viel später durch die erste Mondlandung 1969 berühmt gewordenen) Mare Tranquillitatis als „Censorinus”.
Was macht den bleibenden Wert von Censorinus’ Arbeit aus? Nicht über die verworrenen ” Zeitläufte der Entstehungszeit (s.S. 6) informiert uns Censorinus: Die Soldatenkaiser etwa bleiben unerwähnt, und dem römischen Gelehrten Marcus Terentius Varro entnimmt Censorinus die Aussage, dass Rom noch mehrere Jahrhunderte Bestand haben werde (17,15). Vielmehr führt uns Censorinus in die Welt der griechischen und römischen Gelehrsamkeit, von den Vorsokratikern und Pythagoras im 6. Jh. v. Chr. bis zu berühmten Stoikern im 2. Jh. n. Chr., insbesondere zu den griechischen Philosophen der klassischen und hellenistischen Zeit, zu Platon und Aristoteles, aber auch zu griechischen Sternenkundigen, Medizinern und Musiktheoretikern. Eine bunte Vielfalt von Zitaten aus Dokumenten und Geschichtsschreibung, aus antiquarischer Literatur und aus Spruchweisheit und Dichtung der Antike unterstützt Censorinus’ Argumentation und macht anschaulich, wie für den gelehrten Censorinus und seine bildungsbeflissene Leserschaft die antiken Mittelmeerkulturen als Gesamtheit gesehen werden – vom alten Ägypten und vom Zweistromland über Kleinasien bis zu den Juden, zu den frühen Stämmen auf der italischen Halbinsel und zu den Römern selbst. Nicht die ungute Gegenwart des von immer neuen Soldatenkaisern beherrschten Imperium Romanum, sondern die große Vergangenheit der antiken Mittelmeerkulturen steht im Zentrum von Censorinus’ Betrachtungen und macht es zu einem einmaligen Kompendium antiken Bildungswissens.
Die Zeit des Censorinus
Censorinus’ Geburtstagsbuch bietet sehr genaue Angaben zu seiner Entstehungszeit. Im Einzelnen gibt es dazu (18,12; 21,6–9) an, es sei im 1014. Jahr seit den ersten Olympischen Spielen, im zweiten Jahr der 254. Olympiade, im 991. Jahr ab urbe condita („seit Gründung der Stadt” Rom), im 986. Jahr der Ära nach Nabonnazaros, im 562. der Ära nach Philippos, im 283. der Ära nach Caesar, im 267. der Ära nach Augustus in der Zählung des ägyptischen Alexandreia und im 265. in der augusteïschen Zählung entstanden.
Was bedeuten diese Angaben? Die Olympischen Spiele wurden nach antiker Auffassung erstmals 776 v. Chr. und seither alle vier Jahre („Olympiaden”) in Olympia auf der Peloponnes in Griechenland gefeiert; das zweite Jahr der 254. Olympiade ist also in der Tat das Jahr 253 x 4 + 2 = 1014 seit Beginn der Spiele. Die Gründung der Stadt Rom datierte man traditionell ins Jahr 753 v. Chr. Die Zählung der „Jahre des Nabonnazaros” bezieht sich auf den babylonischen König Nabunasir (auch Nabonassar oder Nabobasser genannt), der 747–733 v. Chr. herrschte und mit dessen erstem Regierungsjahr der griechische Astronom Claudius Ptolemäus im 2. Jh. n. Chr. seine chronologischen Berechnungen beginnen ließ. Die Zählung der „Jahre des Philippos” bezieht sich auf Philippos Arrhidaios, an den nach dem Tod seines Halbbruders Alexandros III., also Alexanders des Großen, 323 v. Chr. für kurze Zeit die Herrschaft über das Alexanderreich überging. Die Ära nach Gaius Iulius Caesar bezieht sich auf das Jahr 45 v. Chr., mit dem der von Caesar reformierte (und mit wenigen Änderungen in Grundzügen bis in die Gegenwart gültige) „julianische” Kalender begann, die von Alexandreia auf das Jahr 29 v. Chr., in dem die Römer dort die ägyptische Königin Kleopatra besiegt hatten, und die nach dem Herrschaftsantritt des Augustus als Kaiser auf das Jahr 27 v. Chr.
Wie Censorinus darlegt, unterscheiden sich dabei die jeweiligen Jahresanfänge voneinander, sodass wir folgende Angaben zur Datierung der Entstehung des Geburtstagsbuchs erhalten:
Olympiade 254.2 (= 1014) – Sommer 238 bis Sommer 239
ab urbe condita 991 – 21. April 238 bis 20. April 239
Nabonnazaros 986 – 25. Juni 238 bis 24. Juni 239
Philippos 562 – 25. Juni 238 bis 24. Juni 239
Caesar 283 – 1. Januar 238 bis 31. Dezember 238
Alexandreia 267 – 29. August 237 bis 28. August 238
Augustus 265 – 1. Januar 238 bis 31. Dezember 238
Daraus ergibt sich für uns, dass das Buch zwischen dem 25. Juni und dem 28. August 238 n. Chr. entstanden sein muss – so genau lässt sich sonst kaum ein antikes Werk datieren!
Die Welt des Censorinus
Censorinus kann bei seinem Lesepublikum eine Vertrautheit mit der Geographie der Alten Welt voraussetzen. Zwar muss man für die griechischen Eigennamen, bei denen Censorinus regelmäßig den Herkunftsort angibt („Pythagoras von Samos”), die Lage jenes Ortes nicht kennen. Geographische Kenntisse sind aber für das Verständnis bei den Orten und Landschaften der antiken Welt wichtig, die Censorinus in seiner Darstellung anführt.
In der griechischen Welt nennt Censorinus allen voran Athen in Attika, aber auch Theben in Boiotien sowie auf der Peloponnes Arkadien und Achaia im Norden und Elis im Westen. Außerdem nennt Censorinus im Nordwesten Griechenlands Akarnanien, im Zentrum Delphi mit dem berühmten Apollon-Orakel und im Nordosten Thessalien. In der Ägäis wird die Insel Delos erwähnt, die Heimat des Gottes Apollon, an der Ostküste jenes Meeres das durch die Epen Homers berühmte Troia (Ilion, Ilium) und das Gebiet der Karer in der heutigen Südwesttürkei sowie am Schwarzen Meer die Region der Kolcher, die Iason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies aufsuchte. Außerhalb der Ägäis-Welt erscheinen Tartessos in Südspanien, Sizilien und Ägypten – nicht zuletzt als römische Provinz – mit seinem Hauptort Alexandreia (Alexandria).
In Italien – Censorinus unterscheidet es einmal (20,1) vom Gebiet der peregrini, der „Ausländer” – nennt das Geburtstagsbuch wiederholt Etrurien – namentlich auch die Lukumonen als Machthaber der Etrusker – mit dem Hauptort Tarquinia sowie das östlich davon gelegene mittelitalische Umbrien, vor allem aber die Welt der Römer, der Bewohner der Stadt Rom. Im Süden und Osten Roms spricht Censorinus von Latium (heute Lazio), der Heimat der Latiner, von der Stadt Lavinium (Pratica del Mare/Pomezia), wo dem Mythos zufolge Aeneas auf der Flucht aus Troia an Land gegangen sein soll, sowie von Laviniums Tochterstadt Alba Longa (Castel Gandolfo) im Gebiet der Albaner, die Aeneas’ Sohn Ascanius gegründet haben soll; außerdem nennt er in Latium Aricia (Ariccia) in den Albanerbergen, Ferentinum (Ferentino) und Tusculum (bei Frascati).
Detailkenntnisse zur Topographie werden aber allein für die Stadt Rom – die Censorinus einmal (16,1) überhöhend als „unsere gemeinsame Heimat” bezeichnet – vorausgesetzt: Von den Sieben Hügeln führt das Geburtstagsbuch das Kapitol an, auf dem der Tempel des Kapitolinischen Iupiter steht, außerdem den Aventin mit dem Tempel der Diana und den Quirinal mit dem Tempel des Quirinus. Das Forum Romanum kann Censorinus einfach als „Forum” bezeichnen und die dortigen Rostren – Schiffsschnäbel erbeuteter Schiffe, die an der Rednertribüne angebracht waren und dieser ihren Namen gaben – unerläutert lassen. Auch beim Marsfeld braucht Censorinus den Ortsnamen Rom nicht hinzuzufügen, ebensowenig bei den Toren der Stadt, von denen er die Porta Collina im Norden und die Porta Esquilina im Osten der Stadt als bekannt voraussetzt. Man hat deshalb plausibel vermutet, dass Rom das Zentrum auch der Welt des Censorinus und seiner Leserschaft war.