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Newman und die nachkonziliare katholische Theologie
ОглавлениеDas Resultat des Ringens auf dem Konzil um einen neuen Ansatz der katholischen Dogmatik war, dass praktisch alle katholischen Systematiker ihre Vorlesungen und Lehrbücher neu schreiben mussten. Schon 1965 erschien der erste Band von »Grundriss der heilsgeschichtlichen Dogmatik«, den J. Feiner und M. Löhrer unter dem Titel Mysterium Salutis herausgaben60, eine Gemeinschaftsarbeit von sechzehn führenden Theologen des deutschen Sprachraumes. Das Personenregister des ersten Bandes weist Newman als den meist zitierten Autor nach den Kirchenvätern der alten Zeit aus. Das gilt besonders für die Beiträge von Gottlieb Söhngen und Heinrich Fries, die wir schon als Schüler Newmans kennengelernt haben. Auch Josef Trütsch stellt in seinem dogmengeschichtlichen Beitrag gegen Schluss des Bandes die Bedeutung Kardinal Newmans heraus: Er habe der katholischen Theologie in Frankreich und in Deutschland eine Hilfestellung geleistet, um die Gedankengänge von E. Husserl und Max Scheler sowie der Existenzphilosophie kritisch zu verarbeiten und sich den neuen Fragen um Geschichtlichkeit und Personalismus in ihrer Anwendung auf die Theologie zu stellen (S. 825). Im selben Band schreibt Fries unter dem Thema »Die Offenbarung, Gottes Handeln und Wort in der Heilsgeschichte« ganz im Sinne Newmans über die Bedeutung der Wiedergeburt des Personalen in der Theologie. In seinem großen Beitrag über das Grundproblem der Theologie, »Weisheit im Geheimnis und Wissenschaft durch Vernunft« (S. 905–980), nennt Söhngen Newman neben Pascal und Nikolaus von Kues einen »großen Künder« der Verborgenheit Gottes. Er hatte nicht zuletzt von Newman gelernt, die ontologische Blickrichtung auf das Seinswesen Gottes (S. 912) durch den Blick auf das göttliche Handeln in der Heilsgeschichte und überhaupt in der Weltgeschichte zu ergänzen. Newmans Aussage über »seine [des Schöpfers] Abwesenheit von seiner eigenen Welt« wird zitiert: »Es ist ein Schweigen, das redet; es ist, wie wenn andere von seinem Werk Besitz ergriffen hätten.« Im Folgenden verwendet Söhngen bei der Behandlung des Problems der Analogie Newmans Unterscheidung von »begrifflich« und »real«. Die Metapher, das Bild hat in der Theologie »notionale Funktion oder Intention auf den Begriff, und der Begriff gewinnt im Verein mit dem Bild realisierende Funktion oder Intention« (S. 933). Ebenso wendet Söhngen die Unterscheidung Newmans ausdrücklich auf das Zueinander von Dogma und Verkündigung an: »Alles Dogma weist über sich hinaus auf das Kerygma … in welchem es realisiert ist und realisierbar wird« (S. 933). Schließlich, bei seiner Behandlung der Grundgestalten der Theologie als Wissenschaft und Weisheit, kommt Söhngen noch einmal abschließend auf die »geschichtstheologische Gestalt des theologischen Denkens« zu sprechen als eine Aufgabe theologischer Arbeit, die »in Neuland vorstößt und verlorene Inseln wiederentdeckt, damit Offenbarung und Offenbarungswissenschaft in ihrer spekulativen und historischen Fülle und Tiefe leuchte« (S. 976 f.).
Im selben Band behandeln K. Rahner und K. Lehmann die Fragen der Geschichtlichkeit der Vermittlung der göttlichen Offenbarung in Lehre und Dogma der Kirche61 – ein Lebensthema Newmans. Hier stellt Rahner sich die Aufgabe einer »sachgerechten Lösung des Problems der Dogmenentwicklung« und nimmt dabei auf Newmans Lehre Bezug. In der Lehre Newmans sei der Durchbruch zur Betonung des Dynamischen und Geschichtlichen im Offenbarungsgeschehen (S. 756) erfolgt. Bei ihm geschieht die Entfaltung der geoffenbarten Wahrheiten »im Medium des Wortes und an der Sache selbst in einem« (S. 757). Rahner betont (S. 754), dass sich alle künftigen Deutungsversuche der Dogmenentwicklung an den Gedankengängen Newmans orientieren müssten. Die übrigen Lösungsversuche enthalten nach Rahner eine »Verkürzung der Offenbarungswirklichkeit, da bei ihnen die formale Logik überbetont wird und wesentliche theologische Faktoren übergangen werden. Nur wer sich, wie es Newman getan hat, zunächst mit den faktischen und historisch feststellbaren Fällen der Dogmengeschichte befasst, vermag das Problem der tatsächlich geschehenen Dogmenentwicklung als legitime Geschichte eines gleichbleibenden Glaubens zu rechtfertigen.« – »Offenbarung ist kein System von Aussagen, sondern ein Heilsgeschehen und darum eine Mitteilung von ›Wahrheiten‹« (S. 757). Newman hatte noch vor Blondel das Ungenügen einer rein syllogistischen Operation zur Erklärung der Dogmenentwicklung aufgewiesen (S. 760). Wie bei Rahner findet sich auch bei Newman das Beispiel von der Erfahrung der menschlichen Liebe, die niemals ganz in die Reflexion eintreten kann. Für beides hat »das reflexe Wissen immer seine Wurzeln in einer vorausliegenden, wissenden Inbesitznahme der Sache selbst« (S. 761).
Auch bei seiner Darstellung der Rolle der Tradition beruft sich Rahner auf Newman. Er spricht von einer umfassenden Überlieferung als dem bewahrenden und schöpferischen Prinzip des Lebens der christlichen Wirklichkeit und setzt sie gleich mit dem christlichen »Sinn«, »der in der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen lebt«. Rahner zeigt ferner, wie Newmans Lehre von der Bedeutung des Zeugnisses der Laien in Fragen des Glaubens heute aktualisiert und weitergeführt werden müsste.
Man kann sagen, dass die Überwindung des Historismus des 19. Jahrhunderts und die kritische Antwort auf den Existenzialismus des 20. Jahrhunderts im Zeichen Newmans geschehen ist. In Newmans Leben und Lehre steht der deutschen katholischen Theologie die Zusammengehörigkeit der »immanenten Geschichtlichkeit des Menschen« mit »der transzendenten Geschichtlichkeit der von Gott her in die Welt eintretenden Offenbarung« vor Augen.62
Schon mehrere Jahre vor Vollendung dieses monumentalen Werkes Mysterium Salutis erschien 1969/1970 ein Handbuch der katholischen Dogmatik in zwei Bänden von M. Schmaus.63 Dieses Handbuch ist nicht etwa eine Zusammenfassung der oben erwähnten siebenbändigen Dogmatik von Schmaus, sondern, wie das Vorwort sagt, eine »durch die Aussagen und durch den Geist des II. Vatikanischen Konzils geprägte Glaubenslehre«. In seiner Vorbemerkung beruft sich der Autor nicht nur auf das Konzil, sondern ausdrücklich auf die »großen Träger« des Neuen: Augustinus, Bonaventura und Newman sowie auf den »Geist der Ökumenischen Bewegung«. Er charakterisiert als Gegensatz zur »Begriffsoder Wesenstheologie« der Vergangenheit »eine andere Theologie, welche man die realistische nennen kann. Sie fragt zuerst nach dem Tun bzw. nach der Funktion. Sie interpretiert die göttliche Wahrheit erstlich nicht in ihrem Ansichsein, sondern in der Zuordnung auf den Menschen. Natürlich geht sie an der Wahrheitsfrage nicht vorbei. Ihr liegt jedoch am Herzen, deren Sitz im Leben zu erforschen und darzustellen. Diese Theologie hat eine nahe Verwandtschaft mit der Art, in der die Heilige Schrift selbst die göttliche Offenbarung bezeugt.« Diese Theologie, von Newman und vom Konzil geprägt, soll seine neue Dogmatik nun konsequent durchführen.
Noch viele Theologen müssten an dieser Stelle genannt werden, auch von der jüngeren Generation, die sich, bewusst oder unbewusst, auf Newman, den »Kirchenvater der Neuzeit«, stützen.
Ein Beitrag zur Erneuerung der katholischen Theologie auf dieser Linie war der 8. Internationale Newman-Kongress, der im September 1978 in Freiburg im Breisgau stattfand, gipfelnd in einer öffentlichen Vorlesung von H. Fries über »Theologische Methode bei J. H. Newman und Karl Rahner«. Der Kongress stand unter dem Thema »Gewissen – Offenbarung – Kirche«; über das für Newman zentrale Problem des Verhältnisses von Folgerungssinn und Gewissen sprach Johannes Artz.
Durch J. Artz ist das tiefste theologische Werk Newmans, Entwurf einer Zustimmungslehre, 1961 zum ersten Mal in einer gültigen Übersetzung vorgelegt worden im Rahmen der neunbändigen Auswahl der philosophisch-theologischen Hauptwerke Newmans, die ihm ihre Vollendung verdankt, nachdem zum Abschluss von ihm als neunter Band ein umfassendes Newman-Lexikon vorgelegt wurde.64 Hier sind Newmans Urteile und Aussagen zu der ganzen Fülle seiner Fragen und Themen zugleich mit der Darstellung der Entwicklung seiner Auffassungen systematisch gegliedert, sodass »Newmans Denken und Leben in einem organischen und ganzheitlichen Zusammenhang« sowie seine Bedeutung für die Theologie und das Leben der Kirche erfasst werden kann.65