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Zur Wirkungsgeschichte Newmans

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Es gibt eine Äußerung Newmans, die fast prophetisch zu nennen ist, dass ein neuer Papst oder ein neues Konzil seine Ideen wieder zur Geltung bringen werde. Ein Stück Verwirklichung dieser Voraussage wurde ihm schon zu Lebzeiten geschenkt: Leo XIII., der Nachfolger von Papst Pius IX., erhob den einfachen Priester und Vorsteher einer zahlenmäßig unbedeutenden Priestergemeinschaft, des Oratoriums, zum Kardinal. Der Antrag bei Papst Leo XIII. ging von englischen Laien aus. Der Papst gab seiner ersten Kardinalserhebung programmatischen Charakter: Was sein Vorgänger versäumt hatte, wollte der neue Papst nachholen, um, wie er sagte, »die Kirche zu ehren«. Damit war, wie Newman sagte, »die Wolke von ihm genommen«, die Wolke des Misstrauens vonseiten maßgebender Katholiken, die über seiner katholischen Zeit gehangen hatte. Nach seinem Tode musste selbst Kardinal Manning zugeben, dass er der »größte Glaubenszeuge« seiner Zeit gewesen war.26

Ein Rückschlag dieser weltweiten Anerkennung, die sich über sein Todesjahr hinaus auswirkte, geschah zu Beginn des neuen Jahrhunderts, zur Zeit des Kampfes gegen den »Modernismus« in der katholischen Theologie. Manche meinten, Newman habe niemals so recht katholisch denken gelernt.27 Nicht nur seine Freunde, sondern auch Papst Pius X. verteidigten seine Rechtgläubigkeit, und 1907 kam die erste bedeutende Newman-Biografie zustande, verfasst von Henri Bremond, mit dem Untertitel »Versuch einer psychologischen Biografie«. 1912 erschien die »klassische« Newman-Biografie von Wilfrid Ward in England.

In Deutschland war Kardinal Newman damals durch Übersetzungen vieler seiner Werke (seit 1845), die auch in den Pfarrbüchereien einen Ehrenplatz hatten, kein Unbekannter. Die 1903 gegründete katholische Reformzeitschrift Hochland nahm sich seiner an. Vorkämpfer für die rechte Einschätzung Newmans in Deutschland waren Matthias Laros (1882–1965) und Erich Przywara (1889–1972). Auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkrieges warb Laros u. a. in der Bonifatius-Korrespondenz, einer Zeitschrift der katholischen Studenten und Akademiker, mutig für den großen Engländer. Die Newman-Renaissance, die sehr bald nach dem Ersten Weltkrieg begann, ist wiederholt beschrieben worden.28 Diese Wirkungsgeschichte Newmans kann nach verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt werden; sie läuft parallel mit dem Fortschreiten der Übersetzung der Werke Newmans ins Deutsche, die heute mit vereinzelten Ausnahmen alle wichtigen Bestandteile seines geistlichen und theologischen Werkes umfasst.29 Hier soll ein Versuch gemacht werden, an Beispielen aus den 20er-Jahren zu zeigen, dass es sich bei dieser Renaissance um eine wirkliche Bewegung gehandelt hat, die über den Bereich der theologischen Wissenschaft hinausging und ebenso der Vorbereitung des II. Vatikanischen Konzils diente wie andere Bewegungen in der katholischen Kirche, die in den Beschlüssen des Konzils ausdrücklich genannt werden.30 Die weiteste Verbreitung fanden Übersetzungen der Gebete und Betrachtungen Newmans unter dem Titel Gott und die Seele, herausgegeben von Matthias Laros, Mainz 1919, »der geistig lebendigen Jugend dieser Zeit« gewidmet, sowie die Auswahl aus Newmans Werk in fünf kleinen Bänden von Erich Przywara, erschienen 1922.31 Seit 1921 wurde auch die vollständige Übersetzung der Hauptwerke Newmans in Angriff genommen, für die sich auch der »Verband der Vereine Katholischer Akademiker« eingesetzt hat. Das größte Interesse galt zunächst Newman als Beter und Zeuge eines lebendigen, Welt und Zeit zugewandten Glaubens, wie er besonders in seiner Selbstbiografie und in seinen Briefen zum Ausdruck kam. Vorträge und Arbeitsgemeinschaften über Newman sowie Kongresse führten katholische Intellektuelle und die studentische Jugend zusammen, die zum Teil durch die Jugendbewegung der 20er-Jahre geprägt war.

Als erstes Beispiel mag hier die Wirkung Newmans auf einen kleinen Kreis von Theologiestudenten herangezogen werden – gewiss eine subjektive Auswahl! Der Philosoph Dietrich von Hildebrandt veröffentlichte 1922 Vorträge Newmans über den heiligen Philipp Neri, gehalten vor den Mitgliedern und Freunden des englischen Oratoriums.32 So lernte eine junge Generation von katholischen Studenten den großen, wahrhaft menschlichen Heiligen der Reformation in der Sicht Newmans kennen. Im Jahr 1923 kamen diese Vorträge einer Gruppe von Innsbrucker Theologiestudenten in die Hände, die sich Gedanken über ein zukünftiges gemeinschaftliches Leben von Priestern in der Diaspora machten. Mit Rücksicht auf die Situation seiner Zeit zeichnete Newman ein Bild von den Wirren der Renaissancezeit, in der der heilige Philipp als Apostel Roms wirkte, einer Zeit des Sittenverfalls, der, wie Newman rückhaltlos darstellte, auch die höchsten Stände der Kirche ergriffen hatte. Über die Notwendigkeit einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern gab es damals keinen vernünftigen Zweifel. Ein Reformversuch Savonarolas in Florenz war gerade gescheitert, als Philipp Neri dort geboren wurde (1515). Newman stellt in den beiden Vorträgen der radikalen Weltverneinung Savonarolas Philipp Neris Art der Zuwendung zur Welt und zu den Menschen entgegen. Er sagte: »Meiner Ansicht nach gibt es Heilige, deren Sendung darin besteht, Welt und Wahrheit voneinander zu trennen; die Sendung der anderen Heiligen liegt darin, sie wieder zusammenzubringen« (S. 34).

Newman nennt hier drei große Orden als Erneuerungsbewegungen in der Kirche, mit denen Philipp Neri in Florenz, Monte Cassino33 und Rom in Berührung gekommen war. Er sagt: »Wenn der heilige Philipp vom heiligen Benedikt gelernt hat, was er sein sollte, und vom heiligen Dominikus, was er zu tun habe, so hat er nach meiner Meinung vom heiligen lgnatius gelernt, wie er es zu tun habe.« Ignatius und Philipp Neri »führten die Kirche hinaus in die Welt« (S. 43).

Der Gründungskreis des Oratoriums war in Innsbruck jungen Menschen begegnet, die sich anschickten, Benediktiner, Dominikaner oder Jesuiten zu werden. Sie selbst wollten den Weg Newmans gehen in der Absicht, ähnlich wie Philipp Neri vom Geist der großen Orden zu lernen, ohne sich selbst durch Ordensgelübde zu binden. Der jüngste von ihnen, Josef Gülden, wurde damals zusammen mit einem Freund als Gastnovize im Benediktinerkloster Beuron aufgenommen, zwei andere, die in besonderer Weise das Vertrauen des Kreises hatten, Theo Gunkel und Ernst Musial, gingen als Novizen nach Birmingham ins Oratorium, wo Newmans Geist noch ganz lebendig war. Nach seiner Rückkehr war Theo Gunkel jahrzehntelang das Herz des 1930 in Leipzig gegründeten deutschen Oratoriums. (Er starb 73-jährig 1972.) Im Lauf der Jahre wurde das Leipziger Oratorium auch ein Brennpunkt der deutschen Newman-Forschung in den Grenzen seiner Möglichkeiten. So kann man sagen, dass bei der Gründung des deutschen Oratoriums, die auf das Jahr 1923 zurückgeht, Newman Pate gestanden hat, wenn auch diese »Patenschaft« nicht als einseitige Festlegung für die Zukunft gedacht war.34

Die beiden genannten Gründer des Oratoriums hatten von ihrem Noviziat in Birmingham ein kleines Werk Newmans mitgebracht, das als Manuskript etwa 1861 gedruckt worden war.35 Es handelte sich um Vorträge über die Berufung und die Spiritualität des Oratoriums, die Newman seit 1846 den Mitgliedern und Novizen seines Oratoriums gehalten hatte. Nach seinen Konstitutionen sollen die Mitglieder des Oratoriums einen Weg gehen, der von dem der Orden »recht verschieden ist«. Sie legen keine Gelübde ab. Sie sind »Weltpriester, die in Gemeinschaft leben«. Newman sagt: »In diesen beiden Punkten liegt unser Wesen und zugleich der Charakter der Vollkommenheit, die von uns verlangt wird.« Unter den Oratorianern soll es eine gegenseitige »liebende Vertrautheit« aus dem täglichen Umgang miteinander geben, die Berufungsentscheidung des Oratorianers erfolgt für ein bestimmtes Haus, an das er sich gebunden fühlt, für eine bestimmte »Familie von Freunden«. »Ordensleute mögen sich als Pilger auf dieser Erde betrachten«, sie mögen aus Askese »Verzicht leisten auf wissenschaftliche und literarische Betätigung und auf die Geistesbildung, die damit gegeben ist«, oder auch auf »menschliche Zuneigung oder persönliche Anhänglichkeit«. In einem anderen Vortrag kommt Newman auf das Bild des englischen Gentlemans zu sprechen. Dieser Begriff aus der Feudalzeit war das Zielbild der Bildung an der Oxforder Universität. Newman löste ihn von allen Vorstellungen von Rang und Stand und fasste ihn neu als Verfeinerung und Differenzierung des Geistes und des Herzens, als Fähigkeit des Sichhineindenkens in andere Menschen innerhalb und außerhalb der engeren Gemeinschaft. Newman beklagt bei manchen Heiligen und manchen Ordensgemeinschaften sowie »einer Menge von durchschnittlichen Christen« die Unfähigkeit, den »liebenswürdigen rücksichtsvollen Geist Christi vom Herzen her in Auge und Zunge« als Mittel der äußeren Kommunikation zur Wirksamkeit zu bringen.

Entscheidend war für ihn u. a. die grundsätzliche Öffnung des Oratoriums für Aufgaben in der Welt und unter den Menschen – jene Zuwendung zur Welt, die das II. Vatikanische Konzil für die ganze katholische Kirche gefordert hat. Bei einem Christen wird diese liebende und dienende Zuwendung, die in menschlicher Sympathie ihre Grundlage hat, zur christlichen Tugend, auch mit allen Konsequenzen, die das Kreuz Christi für das christliche Leben bedeutet. Jeder Einzelne wird in dieser Gemeinschaft »einen erheblichen Teil seines Privaturteils aufgeben« müssen, und so muss es auch im Oratorium »einen sich selbst verleugnenden, religiösen Gehorsam« geben, der »ein Wohnheim in eine Gemeinschaft« von Priestern und christlichen Laien »verwandelt«.

Die Konfrontierung des 1930 gegründeten Leipziger Oratoriums mit diesem Gedanken Newmans bezeichnet J. Gülden als fruchtbare Begegnung, und so kann er die Aufgaben, die die Diaspora-Großstadt Leipzig dem Oratorium stellte, in diesem Licht sehen und schildern. Wer von uns älteren Mitgliedern auf die Zeit seiner theologischen und spirituellen Ausbildung zurückblickt, wird Kardinal Newman unter seinen Meistern und Lehrern an hervorragender Stelle finden, so wie es J. Gülden in seinem autobiografischen Beitrag zum 28. Jahrestag seines »Katholischen Hausbuchs«, »Die Kirche – in unserem Leben«, überzeugend darstellt. Es waren ja Newmans Gedanken, die »ihn und seine Freunde bei der ersten Lektüre wie kaum je andere faszinierten«.36

Was damals in den Seelen einer kleinen Gruppe von katholischen Studenten vorging, war natürlich nur ein unbedeutendes Symptom des Durchbruchs des katholischen Denkens nach dem Ersten Weltkrieg, den Romano Guardini als »das Erwachen der Kirche in den Seelen« bezeichnet hatte.

Es herrschte damals gleichsam eine Aufbruchstimmung. Diese kam auch in den Zeitschriften der katholischen Jugendbewegung zur Auswirkung, z. B. in: Die Schildgenossen37 und Werkblätter38. In der Zeitschrift Die Schildgenossen erschienen zur Zeit der Gründung des Leipziger Oratoriums Auszüge aus den jüngst veröffentlichten Briefen Newmans mit einem Kommentar von Theo Gunkel. In einem dieser Briefe schreibt Newman unter Berufung auf Philipp Neri zur Charakterisierung der Oratorianer: »Sie sind home people (›eine heimgebundene Familie‹), sie halten keine Predigten, sondern sie sprechen und plaudern nur mit ihren Beichtkindern und Schülern.«39

Theo Gunkel veröffentlichte 1930 in derselben Zeitschrift eine Betrachtung zu J. H. Newmans Briefen. Hier heißt es: »Es sind Briefe einer entscheidenden und bewegten Zeit; ein großer Teil sind aber auch Briefe der Freundschaft … sie sind ein Stück englischer Kirchengeschichte, die sich spiegelt in einer großen Seele.« Die Eigenart der Stellung des Christen Newman zu Gott und Welt sieht er in dem Miteinander eines »unmittelbaren, dichterischen Mitfühlens mit Menschen und Dingen … in all ihrer Schönheit und Fülle« und zugleich »einer eigenartigen Distanz, sodass es oft ist, als ob Menschen und Dinge durchsichtig würden, dahinter Gott und die Seele als das einzig Wirkliche bestehen blieben«. Für Newmans Vorstellung von der christlichen Vollkommenheit findet Theo Gunkel die Formel »menschliche Heiligkeit«, wie sie auch sein Vorbild, den heiligen Philipp Neri, auszeichnete (S. 566 ff.).40

Damals suchte sich die katholische deutsche Jugend ihre geistlichen Lehrer selbst. Dazu gehörten auch führende Theologen des »Verbandes der Katholischen Akademiker«, der Anliegen der Zeitschrift »Hochland« nach 1918 aufgenommen hatte. Alljährlich wurden Kongresse veranstaltet, bei denen z. B. Abt Ildefons Herwegen, Karl Adam, Romano Guardini als Redner auftraten. Besonders der Kongress in Ulm im Jahr 1923 wurde von großen Scharen von katholischen Studenten geradezu gestürmt, und gerade hier vermittelte Przywara ihnen in seinen Vorträgen eine Begegnung mit Newman. Nach dem Kongress schrieb Przywara an J. Bacchus, den Verwalter des Newman-Archivs in Birmingham, dessen Gedächtnis Dessain sein Buch über Newman gewidmet hat: »Ich war wirklich erstaunt, auf diesem Kongress zu erfahren, wie weit ausgebreitet die philosophische und religiöse Bewegung unter den deutschen Katholiken ist. An einem Abend behandelte ich einzig das Thema Newman, indem ich versuchte, die thomistische Philosophie der Persönlichkeit des Objekts mit Newmans Philosophie der Persönlichkeit und seiner psychologischen Sicht vom Glauben zu kombinieren.«41 Przywara erklärt: »Newmans erkenntnistheoretische Nöte sind auch die unseren, er kennt unsere geschichtliche Situation, und er kennt unser Herz, er hat die Realitätstheorie gefunden, die wir heute erstreben.« Er findet in der »monumentalen Abgeklärtheit des Thomas« verborgene personale Züge, und er sieht in der personalen Philosophie des englischen Kardinals eine Neugeburt der Objektphilosophie des Thomas. Das Programm für ein wahrhaft katholisches, das heißt alles in Gott umspannendes Geistesleben wird in dem ergänzenden Miteinander dieser beiden Namen Thomas und Newman sozusagen personhaft dargestellt. Und so schließt er mit der Formulierung: »Nicht Thomas oder Newman, sondern … Thomas und Newman« (S. 176). In dem zitierten Brief heißt es sogar, dass die Schriften Newmans »für die Gegenwart von ähnlicher Bedeutung sind wie die des heiligen Thomas zu seiner Zeit«, denn die Aufgabe der Synthese zwischen der aristotelischen Philosophie und der vom Platonismus beeinflussten Theologie der Väter sei immer neu zu leisten.

Auch in seinen späteren Werken kommt Przywara immer wieder auf Newman zurück. In seinem Buch »Augustinus, die Gestalt als Gefüge« sagt Przywara, dass der Geist des Augustinus in der Neuzeit allein in Newman »seine Vollauferstehung hat«.42 Newman habe in einem »unerbittlichen Realismus« und im Drang zur »Realisierung« philosophisch und theologisch die durch die Reformation bestimmte Neuzeit überwunden (S. 72).

John Henry Newman

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