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Einleitung

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Für eine Predigt, die Newman am 19. August 1832 in Tunbridge Wells und vierzehn Tage später in St Mary the Virgin in Oxford hielt und die Anfang 1834 veröffentlicht wurde, wählte er das Schriftwort: »Wenn ihr das wisset, so seid ihr selig, wenn ihr danach tut« (Joh 13,17). Und er fügte dem unmittelbar hinzu: »Auf kein Volk und kein Zeitalter der Vergangenheit lässt sich dieses Schriftwort besser anwenden als auf dieses unser Land in heutiger Zeit. Denn soweit wir zu urteilen vermögen, hatte bislang kein Volk eine bessere Kenntnis von der Art, Gott zu dienen, von unserer Pflicht, unseren Vorrechten und unserem Lohn, als wir.«1 Wenn auch der insulare Charakter dieser Feststellung teilweise dadurch erklärt werden kann, dass Newman damals noch der festen Überzeugung war, die römische Kirche sei mit der Sache des Antichristen verbunden, so bleibt dies dennoch ein erstaunlicher Anspruch für das England der industriellen Revolution im selben Jahr, in dem die erste Reform Bill (Gesetzesvorlage zur Reform der Abstimmungen im Parlament, Anm. d. V.) verabschiedet wurde.

Eine Predigt aus der gleichen Zeit macht den Sinn seiner Worte etwas deutlicher, wenn er davon spricht, dass »alles im Land, was Rang und Stellung, Intelligenz und Reichtum hat, sich zur Religion bekennt … dass die öffentlichen Einrichtungen unseres Landes auf der Anerkennung der Religion als der Wahrheit aufgebaut sind«.2 Noch als alter Mann, in seiner Kontroverse mit Gladstone im Jahr 1874, rief er aus: »Als ich jung war, hatte der Staat ein Gewissen, und der Oberrichter jener Zeit erklärte, das Christentum sei das Gesetz des Landes: nicht etwa als ein Bestandteil eines verstaubten Gesetzes, sondern als eine kraftvolle, lebendige Wahrheit.«3 Aber Newman dachte dabei noch an mehr. »Ist die Bibel die Religion der Protestanten«, die sie aufgrund ihres Privaturteils deuten, dann können wir sagen, dass der Protestantismus im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine größere Kraft im Leben der Engländer darstellte als zu irgendeiner Zeit davor oder danach. Während des vorausgehenden Jahrhunderts hatte sich dank der methodistischen Predigten unter den weniger gebildeten Schichten ein kraftvoller Protestantismus ausgebreitet, auf den dann in der Kirche von England die evangelikale Erneuerung folgte, die sogar noch weitere Kreise erfasste. Obwohl diese Bewegung in den 30er-Jahren an Schwungkraft verlor, gewann sie doch noch weitere Anhänger, besonders in den mittleren und wohlhabenden Schichten. Sie hatte eine kultivierende Wirkung auf die englische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und gab zugleich dem englischen Sonntag ein strengeres Aussehen. Vergleicht man dies alles mit der Strömung des Unglaubens, die sich von Frankreich ausgehend über Europa ausbreitete, dann erschien England als wahrhaft christliches Land. Newman sagte später vom Evangelikalismus4: »Diese Lehre war für England ein großer Segen gewesen; sie hatte den Herzen Tausender die grundlegenden und vitalen Wahrheiten der Offenbarung wieder nahegebracht.«5 Diese Bewegung proklamierte die Notwendigkeit des persönlichen Glaubens, der Hingabe der Sünder an den Erlöser und der Erfahrung der Bekehrung. So kann sie verglichen werden mit der franziskanischen Erneuerung oder der »Neuen Frömmigkeit« in den Niederlanden. Aber sie war protestantisch in ihrer Betonung der religiösen Erfahrung und der subjektiven Reaktion des Glaubenden, der sich um eine »geistliche Gesinnung« bemühen sollte, für die er dann bald andere zu gewinnen suchte. Die Gefahren einer religiös motivierten Selbstbespiegelung, der Verirrung in Scheinheiligkeit und Heuchelei waren offensichtlich. Davon zeugen unter anderem auch die Werke der großen Romanciers, in denen Gestalten wie Pecksniff, Mr Brocklehurst, Lady Sothdown, Mrs Proudie und viele andere diese Seite des Evangelikalismus verkörpern. Für die künftige Entwicklung war es jedoch noch gefährlicher, dass die Konzentration auf die inneren Gefühle zu einer Abwertung des sinnenfälligen und objektiven Bestandes der Religion, der Glaubenssätze, der Sakramente und der sichtbaren Kirche führte. Die Gefühle eines Menschen waren wichtiger als die Inhalte seines Glaubens. Die Theologie und die intellektuelle Grundlage der Religion wurden unterbewertet, sodass dem Rationalismus der Weg bereitet wurde. Noch fehlte es der latitudinarischen6 Richtung an Einfluss, die ihrerseits das Dogma noch weniger betonte als die Evangelikalen, mit diesen aber den gleichen unscharfen Kirchenbegriff teilte. Bald sollte Thomas Arnold den Vorschlag machen, alle Christen mit Ausnahme der Anhänger Roms in diese Kirche miteinzubeziehen, um auf diese Weise einen Verlust der gesetzlich garantierten Stellung der Kirche abzuwenden.

Obwohl solche Gefahren heraufzogen, war der Evangelikalismus für den Moment außerordentlich mächtig. Unter seiner Führung wurden Vereine zur Linderung leiblicher und geistlicher Not gegründet, denen viel Geld zufloss. Die Bibel- und Missionsgesellschaften verbreiteten die evangelikale Lehre bis in die Kolonien. Neben dieses Bild eines weitverbreiteten und einflussreichen Protestantismus muss man nun den in der Bevölkerung vorherrschenden Hass setzen, den die Bischöfe durch ihren Widerstand gegen die Reform Bill erregt hatten und der durch die Pfründenhäufung und den Reichtum der anglikanischen Kirche genährt wurde. Überwiegend richtete sich dieser Hass nicht gegen die Religion selbst, sondern gegen eine religiöse Körperschaft, die man als eine privilegierte Einrichtung des Staates ansah. Das Recht der weltlichen Macht, die Kirche zu kontrollieren, wurde als selbstverständlich hingenommen, und erastianische Auffassungen7 hatten fast alle Richtungen in der Kirche von England gemein. Bald sollte der Staat auf dem Wege eines typisch englischen Kompromisses Kirchenkommissare ernennen, die auf der einen Seite sicherzustellen hatten, dass Pfründenhäufung und ähnliche Missbräuche abgestellt wurden und dass auf der anderen Seite der Reichtum der Kirche erhalten blieb, wenn er auch eine gewisse Umverteilung erfuhr.

Die einzige Gruppe, die die Kirche wirklich als eine göttliche und vom Staat unabhängige Einrichtung betrachtete – die extrem hochkirchliche Richtung – war sehr klein. Sie hielt weiterhin an der Lehre von der apostolischen Sukzession fest, hatte aber auf die übrigen Anglikaner und die Gesellschaft im Allgemeinen nur geringen Einfluss. In liturgischen Dingen war auch diese Gruppe protestantisch und benutzte z. B. nicht die vom Book of Common Prayer8 sanktionierten liturgischen Gewänder. Die Anhänger dieser Gruppe fand man in ein paar Landpfarreien und Bischofsstädten. Im Jahr 1834 bemerkte Newman, F. W. Hook in Coventry sei der einzige hochkirchliche Pfarrer in einer größeren Stadt, und dieser sah sich einer beträchtlichen Opposition vonseiten der dortigen Evangelikalen gegenüber.

Die protestantische Ausprägung des Christentums herrschte unter den Engländern vor und führte in hohem Maß zu Frömmigkeit, Moral und Philanthropie, wenngleich Letztere leider gelegentlich unschöne und herablassende Formen annahm. Der englische Protestantismus war betont antikatholisch und viele glaubten allen Ernstes, dass die römische Kirche mit der Sache des Antichristen verbunden sei. Zur wirklich intellektuellen Verteidigung des Glaubens hatten die Evangelikalen nichts beizusteuern. Andererseits verließen sich die Latitudinarier auf eine oberflächliche natürliche Theologie. Beide Richtungen beteten das Credo und bekannten sich zum Glauben an die katholische Kirche, doch hatten weder Substantiv noch Adjektiv hier irgendeine präzise Bedeutung.

Die christliche Religion erhebt den Anspruch, auf göttlicher Offenbarung zu beruhen, und nur dann, wenn sie getreu das Wort des Offenbarers bewahrt, vermag sie ihre Kraft voll zu entfalten. Wenn die Botschaft verändert oder vereinseitigt wird, muss sie im gleichen Maß versagen, ein Zerrbild ihres wahren Wesens darbieten und jene abschrecken, die sie anziehen sollte. Es gab viel Christliches im England des Jahres 1832, genug, um Newman sagen zu lassen, dass »bislang kein Volk eine bessere Kenntnis von der rechten Art, Gott zu dienen«, hatte, aber wie viel fehlte von dem, was wesentlich war, und wie viel gab es, was dem ernsthaft Suchenden den Blick verstellte.

Das grundlegende Motiv des Newman’schen Lebens war seine Hingabe an die Sache der Offenbarungsreligion. Schon als Schüler wurde er dazu bewegt, sie von ganzem Herzen zu bejahen und sich um die Erkenntnis ihres vollen und ausgewogenen Gehalts zu mühen. Diese Hingabe verlieh seinem Leben die innere Einheit. Sie ließ ihn zum Führer einer Bewegung werden, die der Kirche von England neue Lebenskraft geben und ihren übernatürlichen Charakter zur Geltung bringen sollte. Sie ließ ihn aber auch diese Kirche zugunsten der römischen Kirche verlassen. Sie ließ ihn den Versuch machen, die zahlreichen Mängel, auf die er dort traf, abzustellen und Auswüchse zu mildern. In vielen seiner Bemühungen war ihm zu seiner Zeit der Erfolg versagt, aber die Geschichte hat ihm recht gegeben, und die katholische Reformbewegung hat ihn als ihren Propheten auf den Schild gehoben. Stets war er ein Künder vergessener Wahrheiten. Wir wollen der Frage nachgehen, wie er diese wiederentdeckte und was ihn dazu befähigte, die christliche Offenbarungsreligion in ihrer katholischen Fülle zu entfalten.

John Henry Newman

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