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Die Villa der dunklen Gedanken

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Doktor David Specht kletterte umständlich aus dem Fond der dunklen Limousine, die jeden Gast vom Bahnhof zum Sanatorium brachte. Er richtete sich auf, überragte die Limousine ein gutes Stück, rückte seine dezent gemusterte Krawatte zurecht und sank wieder in sich zusammen.

Der elegante Chauffeur, der Specht die Wagentür aufhielt, sagte: „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Ihr Gepäck wird sofort auf Ihr Zimmer gebracht. Sie wohnen in der Fünfundzwanzig, genauso wie im vergangenen Jahr.“

Ihm war nicht verborgen geblieben, was all den Bedrückten, die Professor Castori aufsuchten, wichtig war: Sie bestanden darauf, immer alles wie gewohnt vorzufinden. Selbst auf kleinste Veränderungen reagierten sie mit Unruhe und Ängstlichkeit.

„Alles muss seine Ordnung haben“, diese Überzeugung teilte Professor Castori mit jedem, der ihm seinen verwirrten Geist anvertraute.

In der prachtvollen sommerlichen Bergwelt wirkte der kraftlose Specht wie ein Fremdkörper und der Chauffeur erinnerte sich ungläubig daran, was ihm Professor Castori vor seiner ersten Fahrt zum Bahnhof eingeschärft hatte: „Das Wort Patient streichen Sie bitte aus Ihrem Vokabular. In unserem Haus logieren ausschließlich Gäste.“

Specht bestätigte den Eindruck des Chauffeurs mit einem müden: „Ich danke Ihnen, Sie dürfen mich jetzt alleine lassen.“

Dann erklomm er wie ein altersschwacher Greis die vier Stufen bis zum Eingang.

Der Chauffeur betrachtete, den Wagenschlag noch in der Hand, Spechts geduckte Gestalt, deren magere Arme einen schwarzen Aktenkoffer an einen ebenso mageren Brustkorb pressten.

Specht drückte die Türklinke nach unten und flüsterte: „In sechs Wochen geht es mir wieder gut. Er wird mir helfen, meine Ängste zu besiegen. Außerdem hat er mir neue, noch wirksamere Medikamente versprochen.“

Wenn Specht er sagte, dann meinte er Professor Castori.

Die schwere Eichentür fiel ins Schloss. Spechts dunkelbraune Augen huschten unter einer fliehenden Stirn ängstlich durch die unbehaglich kühle Eingangshalle.

Von Professor Castori aus dem Halbdunkeln der zweiten Etage heimlich beobachtet, stellte er seine Aktentasche auf die beigen Marmorfliesen und tupfte mit einem weißen Stofftaschentuch den Straßenstaub von seinen schwarzen Halbschuhen. Das verschmutzte Taschentuch legte er sorgfältig wieder zusammen und verwahrte es in einer durchsichtigen Plastiktüte, von denen er stets zwei Stück in seiner linken Anzugtasche bei sich trug.

Castori rieb sich die Hände: Meine Maßnahmen waren erfolgreich. Sein Zustand hat sich, wie geplant, verschlechtert. Er öffnete lautlos die Tür zu seinem Büro, wartete ein paar Sekunden. Und knallte sie wieder zu.

Specht drückte seine Arme verschreckt an seinen Brustkorb und duckte sich.

Castori lächelte zufrieden und dachte selbstgefällig an die Gesetze, die er für seine Gäste erlassen hatte: „ Seine Reflexe diktiert ihm Paragraf eins: Warten erhöht die Anspannung.“

Das war die Fanfare des Wiedersehens, sagte sich Specht erregt, während er erwartungsvoll das Kirschbaumgeländer im zweiten Stock fixierte.

Castori beugte sich über die Brüstung und winkte Specht zu, der beschämt die Augen niederschlug.

Ich glaube, ich habe alles richtig gemacht, hoffte Specht und umklammerte in seiner rechten Jackentasche ein schwarzes Notizbuch, in dem er die Zauberformeln für Castoris Zuneigung zusammengetragen hatte: Gesten und Worte, die seinen hochverehrten Lehrmeister erfreuten oder ihm die Laune verdarben.

Von diesem Schatz durfte Castori nie etwas erfahren. Denn er pflegte zu schimpfen: „Intelligente Menschen brauchen keine Notizen. Notizen sind Hilfsmittel für Dumme.“

Castori wusste von diesem Buch und er wusste auch, dass jeder Gast solch ein Buch wie seinen Augapfel hütete. In seinem Räderwerk der Unterdrückung waren die geheimen Bücher seiner Gäste unverzichtbare Machtinstrumente.

Paragraf 2 überhäufte Castoris Gäste mit Vorschriften und zwang sie, um im Paragrafengewirr nicht die Orientierung zu verlieren, eifrig mitzuschreiben. „Ein ausuferndes Regelwerk für einfache Abläufe schafft Abhängigkeit von schriftlichen Protokollen, die einem davor bewahren, sich durch Fehler dem Gespött auszuliefern.“

Specht flüsterte ehrfürchtig: „In wenigen Sekunden darf ich ihm wieder meine Hochachtung erweisen.“

Unter der Überschrift „Anreise“ hatte er sich nach seinem ersten Besuch bei Professor Castori notiert: „Während Ihres Aufenthalts in meinem Haus bin ich jederzeit für Sie da, Sie sind mein Gast. Ich selbst hole Sie in der Halle ab und begleite Sie auf Ihr Zimmer.“

Mein Zimmer, nicht irgendein Zimmer. Ich bin so dankbar für Professor Castoris Fürsorge und dem Behütetsein eines randvoll gefüllten Terminkalenders, der mich vor Überraschungen verschont, die mich nur verunsichern würden. Jede von Professor Castori verplante Minute gibt mir Sicherheit und nimmt meinem Leben den Schrecken der Unkalkulierbarkeit. Ich darf mich glücklich schätzen, von einer Kapazität wie Professor Castori ernst genommen zu werden. Er spricht mich von der Schande einer Krankheit frei, über die meine Nachbarn nur hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln wagen: „Mein verehrter Doktor Specht. Sie sind nicht krank, Sie haben sich in einem Labyrinth aus Problemen verirrt, die wir gemeinsam lösen werden.“

Ich will nicht krank sein und vor Problemen sind selbst Helden nicht gefeit.

Specht ahnte nichts von Paragraf drei, der aus der Scham aller, die ähnliches wie er durchmachten, entstanden war: „Psychische Krankheiten sind hässlich und abstoßend. Die Menschen decken sie mit eisernem Schweigen zu. Niemand will sich das Etikett eines Schwächlings an die Brust heften, um am Rand der Gesellschaft ein Schattendasein zu fristen und zu hoffen, irgendwann einmal ein Quäntchen Glück von den Tischen der Privilegierten zu erhaschen. Probleme sind etwas Alltägliches – für sie braucht sich niemand zu schämen.“

Paragraf drei garantierte Castori, an allen Tagen des Jahres, ein ausgebuchtes Haus.

Der vornehm hagere Castori schritt die Treppe herunter und Specht flüsterte beeindruckt: „Diesen Moment habe ich herbei gesehnt.“

Castori, der dunkle Kleidung bevorzugte, weil alles Grelle den Massengeschmack bedient, trug einen schwarzen Maßanzug und lächelte wohlwollend. Specht errötete und dachte: Er lächelt mich an.

Castori, der Spechts Verlegenheit bemerkte, war überzeugt: Bald schlägt er mir selbst die absurdeste Bitte nicht ab.

Gleich gibt er mir die Hand, durchfuhr es Specht, während er der persönlichen Begegnung mit seinem Retter entgegenfieberte.

Castori breitete auf der untersten Treppenstufe die Arme aus: „Mein lieber Doktor Specht, schön Sie wieder hier zu haben.“

Mein Lieber, er hat mein Lieber gesagt, freute sich Specht aufgewühlt. Ihm zitterten die Knie, als Castori auf ihn zukam. Er drückte seinen Oberarm noch enger an seinen Brustkorb und hielt Castori steif die Hand hin.

Castori griff beherzt zu: „Sie zittern ja.“

Und während er Spechts Hand beinahe väterlich mit seinen Händen umhüllte, versprach er gespielt warmherzig: „Die neuen Medikamente bewirken Wunder.“

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für all das, was Sie für mich tun, danken soll.“

„Mein lieber Doktor Specht, eines Tages werde ich Ihre Hilfe ebenso dringend benötigen wie Sie heute die meinige.“

Specht nickte ergeben und Castori dachte: Ich kann den Tag, an dem er bereit ist für mich ins Gefängnis zu gehen, kaum erwarten.

Castori gab Spechts Hand wieder frei und sagte: „Es ist an der Zeit, gehen wir nach oben.“

Die kargen Schlafkammern in der ersten Etage hatte Castori zu eleganten Gästezimmern mit luxuriösen Marmorbädern umbauen lassen.

Castori sagte zu Specht gewandt: „Folgen Sie mir bitte und lassen Sie Ihren Koffer stehen. Der Chauffeur wird ihn nachher auf Ihr Zimmer bringen.“

„Meinen Koffer gebe ich nicht aus der Hand.“

„Wie Sie wünschen.“

Castori ging voraus. Für ihn war es ein Kinderspiel, Spechts Reaktionen einzuschätzen. Er kannte ihn einfach zu gut und vermochte ihn geschickt zu lenken.

Specht bückte sich nach seinem Aktenkoffer und schaute mit großen Augen zu Castori auf, der wie ein Herrscher durch sein Reich stolzierte.

Castori fühlte Spechts bewundernde Blicke in seinem Rücken und sagte sich: Macht ist ein subtiles Gebilde, zusammengesetzt aus scheinbar bedeutungslosen Mosaiksteinchen. Eine Fessel reiht sich an die nächste und webt daraus ein Gefängnis. Überstürzt man nichts und sorgt für reichlich Zerstreuung, empfinden die Massen keinen Verlust und loben die neue Zeit.

Specht quälte sich hinter Castori am Treppengeländer nach oben. Er wollte nicht zu weit zurückfallen, doch dann genehmigte er sich doch eine Sekunde der Bewunderung für

Castoris vornehme Erscheinung: Er allein beherrscht die Kunst, mich wieder ganz gesund zu machen. Wenn ich alle seine Ratschläge gewissenhaft befolge, werde ich von meinen Leiden erlöst und mein Versteckspiel hat endlich ein Ende.

Und genau in diesem Moment, als ob er geahnt hätte, was Specht gerade dachte, nickte Castori ihm aufmunternd zu. Specht errötete verlegen und lief los.

Castori wartete, bis Specht ihn erreicht hatte.

„Danke“, hauchte Specht, ohne zu wissen, für was er sich bedankte.

„Sie sind mein gelehrigster Schüler.“

Specht und Castori trafen beinahe zeitgleich auf der weitläufigen Galerie in der ersten Etage ein.

„Die Fünfundzwanzig“, sagte Castori betont feierlich und überreichte Specht den Zimmerschlüssel.

„Die Fünfundzwanzig, danke. Ich habe ihre Geborgenheit aufs Schmerzlichste vermisst. Sie ist mein Zufluchtsort vor den Lasten des Alltags.“

„Gehen Sie nur.“

Zimmer fünfundzwanzig befand sich zwischen Zimmer vier und sechs.

„Zimmer fünfundzwanzig?“, hatte Specht Castori deshalb verwundert gefragt, als ihn Castori zum ersten Mal über die Galerie führte und ihm aufgefallen war, dass offenbar nur zehn Zimmer vorhanden waren.

„Sie sind etwas Besonderes und nur Ihnen gebührt die Ehre das Geheimnis der Fünfundzwanzig eines Tages mit mir zu teilen“, hatte Castori damals, verschwörerisch flüsternd, geantwortet.

Specht stellte seinen Aktenkoffer vor der Fünfundzwanzig ab und drehte den Schlüssel um. Sein Magen schmerzte und erst als Castori sagte: „Sie sind daheim“, wagte er es, die Tür zu öffnen und das verdunkelte Zimmer zu betreten.

Nur durch einen Spalt zwischen den schweren Samtvorhängen fiel Licht in den Raum.

Specht schaute Castori flehend an und sagte: „Ich habe Angst vor diesem Sommer.“

Castori hustete aufgeregt und dachte nach.

„Ich habe Angst vor diesem Sommer“, dieses Geständnis versetzte Castori in allerhöchste Alarmbereitschaft. Diese Angst hatte er nicht geplant.

Ahnt er etwas, fragte er sich und antwortete: „In diesem Sommer offenbare ich Ihnen das Geheimnis der Fünfundzwanzig.“

„Das Geheimnis?“

Castori forderte Specht auf: „Setzen wir uns.“

Specht reagierte prompt. Er lief auf das Sofa in der linken Zimmerecke zu, zog seine Schuhe aus, verknotete jeden Schnürsenkel zu einer akkuraten Schleife, stellte die Schuhe neben dem Kopfteil ab, legte sich nieder und blickte Castori erwartungsvoll an.

Castori hüstelte und Specht zuckte erschrocken zusammen. Hüsteln bedeutet Kritik.

Er überlegte fieberhaft: Schuhe ausziehen, neben das Kopfteil stellen, auf die Couch legen, Augen schließen und erst wieder öffnen, nachdem Professor Castori das Zimmer verlassen hat.

Specht drückte seine Augen zu und murmelte: „Entschuldigung.“

„Sie wissen warum?“

„Mit geschlossenen Augen fällt es mir leichter, mich auf

unser Gespräch zu konzentrieren. Nichts lenkt mich ab und ich bin bald wieder ganz gesund.“

Castori nannte seine Therapiestunden Besuche, während derer seine Gäste ihre Augen zu schließen hatten. Die rasche Aufarbeitung ihrer Probleme war der eine Grund, der andere war, dass Castori sich extrem unwohl fühlte, wenn sie ihn ansahen während er sie therapierte. Er fühlte sie dann seine freundliche Maske sezieren und seine Verachtung enthüllen, während sie ihm ihr Leid anvertrauten.

Castori ist eine therapeutische Koryphäe. Sein Fachwissen, gepaart mit hochsensiblen Antennen, die jedes noch so feine Gefühl einfingen, war das Erfolgsgeheimnis für die rasche Genesung seiner Gäste. Er blühte auf, wenn gebrochenen Herzen wieder Flügel wuchsen.

Aber gleichzeitig beherrschte ihn die Angst, von seinen Gästen einsam zurückgelassen, mutterseelenallein durch sein fürstliches Anwesen zu irren.

Er war schon einmal, am Drama des Verlassenwerdens zugrunde gegangen und seither wachsam darauf bedacht, seinen Stolz nie wieder brechen zu lassen. Um sich vor dem Schmerz verletzter Gefühle zu schützen, entwickelte er eine Behandlungsmethode, die sich wie ein Karussell auf dem Jahrmarkt drehte. Die Evergreens aus der Drehorgel lockten die Kundschaft zu den nostalgischen Figuren. Castori mischte sich unters Volk, kassierte das Fahrgeld und wies jedem sein Karussell zu. Das beschauliche Kreisen bereitete Vergnügen und lenkte von der inneren Zerrissenheit ab. Waren die fruchtlosen Wiederholungen zur Gewohnheit geworden, beendete Castori den Trubel. Er bat jedem ihn recht bald wieder zu beehren und empfing die Nächsten. So vergingen die Tage und innerhalb eines Jahres, zog es jeden wieder zum Jahrmarkt. Heute war Specht an der Reihe.

Castori ließ sich am Fußende auf einem Stuhl nieder und rang sich zu einem Lob durch: „Jetzt haben Sie alles richtig gemacht.“

Specht schluckte verlegen.

Castori wartete zwei Minuten. Dann sagte er: „Im letzten Jahr haben Sie erstaunliche Erfolge erzielt und ich

möchte Sie dafür mit dem Geheimnis der Fünfundzwanzig belohnen.“

Castori setzte sich zu Specht aufs Sofa. Specht rutschte irritiert an die Wand. Das hat er noch nie getan.

„Sie sind etwas Besonderes“, sagte Castori und zählte eine Minute lang stumm die Schläge von Spechts flach pulsierender Halsschlagader. Hundertzweiunddreißig, er ist aufgeregt, sehr gut.

Dann verkündete er feierlich: „Das Geheimnis der Fünfundzwanzig ist: Sie sind etwas Besonderes. Wenn all Ihre Probleme gelöst sind, überraschen Sie die Welt mit einer bahnbrechenden Erfindung.“

Spechts Stimme klirrte gläsern, als er erwiderte: „Das wäre dann allein Ihr Verdienst. Ich könnte Ihnen niemals einen Wunsch abschlagen.“

„Ruhen Sie sich jetzt aus. Ich bleibe noch einen Moment bei Ihnen.“

Castori setzte sich wieder ans Fußende und spottete: Du Dummkopf wirst doch nicht glauben, dass ein Wicht wie Du auch nur das Geringste von mir erfährt.

Die Bewohner der Fünfundzwanzig verkehrten in den allerhöchsten Regierungskreisen. Ihre Nähe zu den Mächtigen hatte Castoris Begehrlichkeiten geweckt: Sie locken unsere Volksvertreter zu mir ins Sanatorium, wo ich sie dann zu Handlangern meines politischen Willens umfunktioniere.

Specht nahm noch wahr, dass Castori die Tür hinter sich zuzog, dann schlief er ein.

Castori eilte in seine Wohnung in der zweiten Etage und sagte leise: „Ich will das Universum beherrschen.“

Gäste oder andere Störenfriede hatten hier oben nichts verloren. In den lichten und spärlich möblierten Räumen plante er ein Reich, dass die Welt so noch nicht gesehen hatte.

Er sah sich als Visionär und edlen Samariter: „Ich tue nichts Unrechtes, die Menschen verlangen nach Gesetzen und ich bin bereit, sie ihnen zu geben.“

Castori betrat sein Büro – sein Reich. Groß wie ein Tanzsaal und das eleganteste Zimmer des Hauses. Ein einzelner verlor sich darin. Nur die lebensgroßen Gemälde verstorbener Großindustrieller und Kaiser, in deren Ruhm er sich sonnte und den er um ein vielfaches zu übertreffen gedachte, leisteten ihm Gesellschaft.

Castori sperrte die Tür ab und ging zu einem ausladenden Palisanderholzschreibtisch, der zwei Meter vor einer in bunten Ölfarben gehaltenen Weltkarte im Raum stand.

Er schaltete einen Halogenstrahler ein und drückte auf den Knopf einer Fernbedienung. Schwere Vorhänge schoben sich leise rauschend vor eine breite Fensterfront und sperrten unerwünschte Blicke aus.

Von seinen geheimen Spielereien jedes Mal aufs Neue fasziniert, rückte Castori am Schreibtischfuß einen Riegel nach rechts, er drückte die Seitenfront zu den Vorhängen hin und entnahm einer von zehn paarweise angeordneten Schubladen

einen silbernen Schlüssel. Er ließ mit der Fernbedienung das Weltkartengemälde zur Seite fahren, öffnete mit dem silbernen Schlüssel die dahinterliegende Vitrine und mit einer täglich wechselnden Zahlenkombination den darin eingebauten Tresor.

In einer Regalwand mit zwanzig Fächern waren im obersten Rechten zehn Tablettenröhrchen aneinandergereiht. In den übrigen lagerten Aktenordner und rote Medikamentendosen.

Castori wuchtete einen prallen Ordner auf den Schreibtisch,

stellte eine rote Medikamentendose daneben und klappte Spechts Akte auf.

Er drehte den Bürosessel schwungvoll um, legte die Hände auf die glänzenden Chromlehnen und ließ sich in das edle Leder sinken.

Sein sehnsüchtiger Blick schweifte an den Wänden entlang. Zwar reichte das Licht der Schreibtischlampe nicht bis an die einflussreichen Stahlbarone und bärtigen Kaiser heran, doch die Bilder seiner Idole trug er im Herzen.

Er schraubte seinen Füller auf und schrieb mit roter Tinte unter die Überschrift Verlauf: „Ich habe Angst vor diesem Sommer.“

Während er sich fragte: „Ahnt er, was er für mich tun soll oder hat er mein falsches Spiel durchschaut? Ich muss ihm seine Grenzen aufzeigen, bevor er Gefallen an der Freiheit findet“, malte er sich den Verlust von allem, wofür er Specht aufgebaut hatte, aus: Den Einfluss auf Politiker, die seinen Aufstieg in der Hierarchie des schwarzen Zeichens, zur Überraschung aller, unerwartet schnell vorantreiben würden.

Castori streckte sich nach zwei randvollen Tablettenröhrchen, stützte die Arme auf die Rückenlehne und betrachtete die bunten Pillen, über deren Rezepturen er sich nächtelang den Kopf zerbrochen hatte.

In seinem Labor auf der anderen Seite der Galerie brodelten in Reagenzgläsern bunte Flüssigkeiten, die er zu Arzneien vermengte, die ihm verschaffen sollten, wovon er nie genug bekam: Macht!

Bisher war ihm nicht wohl dabei gewesen, die neuen Wundermittel seinen Gästen in ihre roten Medikamentendosen zu legen. Denn beide bargen Gefahren, die unter Umständen selbst für einen erfahrenen Arzt wie ihn, nicht zu mehr beherrschen waren. Schlimmstenfalls würde er Specht ganz verlieren.

Aber nach Spechts überraschendem Geständnis brauchte es ein riskantes Manöver, um das verlorene Schaf wieder in Herde zurückzutreiben.

Zwei Tabletten schienen ihm geeignet, Specht an seinen Eigenmächtigkeiten scheitern zu lassen. Die Blaue, die seinen Verstand umnebeln und die Grüne, die ihn mit Lähmungen ans Bett fesseln würde.

„Ich werde ihm seine Flausen schon abgewöhnen. Er soll mich für meine Almosen bewundern und ansonsten den Mund halten.“

Um achtzehn Uhr ertönte in der ersten Etage ein gedämpfter Summton. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Die Dame aus Zimmer eins schlurfte die Treppe hinunter, schnappte in der Halle nach Luft und quälte sich ins Kaminzimmer. Sie ließ sich in einen grünen Sessel, dessen Rückenlehne mit einer roten Eins bestickt war, fallen und schaute zur Tür.

Alle zwei Minuten, als hätte jemand die Uhr gestellt, schleppte sich ein Gast zu dem Sessel mit seiner Zimmernummer, um den Balsam für sein strapaziertes Seelenleben entgegenzunehmen.

Specht grub seine Fingerkuppen in den senfgelben Sofabezug und flüsterte: „Gleich bin ich an der Reihe. Ich muss pünktlich sein, darf den genauen Zeitpunkt auf keinen Fall verpassen.“

Mit wippendem Oberkörper, ihre Füße fest im schweren Teppich verankert, sehnten Castoris Gäste den Moment herbei, in dem ihr Erlöser erschien, um ihren dumpfen Sinnen wieder Leben einzuhauchen.

Endlich war es soweit. Castori betrat gut gelaunt den Raum.

Die Arme der Anwesenden lagen verkrampft auf den Lehnen, nur ihre Augen folgten Castori, der sich in einem dunkelroten Sessel niederließ und jedem freundlich zunickte.

Die Gesichter der Wartenden entspannten sich und Castori unterdrückte ein gönnerhaftes Grinsen. Er verschenkte eine Extraportion seines Lächelns und spöttelte: Meine armen naiven Gäste befolgen meine Anweisungen und sind glücklich dabei. Ihre Seelen sind in meiner Hand; ihre Anspannung, ihre Ängste und jede noch so kleine Freude. Ich diktiere ihnen ihre Gefühle und will mehr als nur diesen armseligen Teil der Welt beherrschen.

Castori federte aus seinem Sessel, hieß alle willkommen, erzählte von einer geplanten Erweiterung des Sanatoriums und

bedankte sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen, für das er sie mit überschäumender Lebensfreude tausendfach entlohnen würde.

Während er monologisierend die Front der Zuhörer abschritt, studierte er aus den Augenwinkeln heraus jeden einzelnen von ihnen genau.

Sie leiden wieder. Nur Specht hebt sich von den anderen ab. Er hält sich aufrechter als der übrige traurige Haufen und seine Augen leuchten warm. Es geht ihm zwar schlecht, aber noch nicht schlecht genug, diagnostizierte Castori verdrossen.

In Castoris Phantasie bewohnten seine Gäste ein Palais mit feuchtem Keller und sonnigen Zimmern. Jetzt – in diesem Augenblick sehnten sie sich im feuchtesten Winkel des Kellers nach ihrem Erlöser. Der ließ sie nicht warten, reichte ihnen die Hand und führte sie in die lichtdurchflutete Beletage. Von wo aus sie am Tag ihrer Entlassung, eine dreihundertfünfundsechzig Tage währende Reise, zurück in ihr klammes Kellerverlies antraten.

Castori unterstützte ihren Niedergang aus der Ferne alle vier Wochen mit einem gepolsterten Umschlag. Den darin versandten Medikamenten sah man die kontinuierliche Reduzierung ihrer Wirkstoffe nicht an.

Castori erklärte seinen Gästen ihren schleichenden Verfall,

mit den schäbigen Zeitgenossen, die jenseits der Mauern des Sanatoriums ihre Gesundheit attackierten und versprach ihnen: „Heilung ist ein einhundert Türen langer, düsterer Gang. An seinem Ende wartet ein königlicher Ballsaal auf Sie. Wir werden jedes Zimmer betreten, uns Ihrer Probleme annehmen und die Türen für immer verschließen. Sobald Sie den Ballsaal erreichen, tanzen Sie in seinem gleißendem Licht vor der Finsternis des Lebens davon. Ich selbst führe Sie eines Tages an seine Schwelle. Nur noch ein Schritt und Sie sind frei, werde ich dann zu Ihnen sagen.“

Jeder sehnt sich danach, im Ballsaal zu tanzen und weil Castori um die prägende Kraft der Symbole wusste, taten seine Gäste alles, was er ihnen für ihre Genesung abverlangte.

Castori sah Specht an: Statt im Keller um Hilfe zu betteln, widersetzt er sich mir an der Kellertür.

Castori packte die Wut: Ich sollte ihn hinunter stoßen, ihm beweisen, wo er hingehört, ihn für seine Unverfrorenheit mit ein paar Ohrfeigen an die Wand knallen, bis er seiner hemmungslosen Exzesse müde ist.

Castori versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen: Ich darf mir nichts anmerken lassen, muss unverwundbar und perfekt auftreten. Außerdem habe ich allen Grund, mich zu beglückwünschen: Die blauen Tabletten werden ihn wimmernd durchs Haus schleichen und an der Anstrengung seiner Morgentoilette verzweifeln lassen.

Während Castori seine Gäste zum Narren hielt, brachte das Personal das Abendessen mit den dunkelroten Medikamentendosen auf deren Zimmer.

Castori wünschte allen eine gute Nacht und einen erholsamen Schlaf. Er hielt die Tür auf und forderte die Anwesenden mit einer einladenden Handbewegung zum Gehen auf.

Die Gräfin aus Zimmer eins schlurfte mit geneigtem Kopf auf Castori zu, der heuchelte: „Frau von Rabenstein, ich bewundere Sie. Sie sind eine wirkliche Dame. Danke für Ihr Vertrauen.“

„Sie wissen, was gut für mich ist.“

Das, was ihr Kummer bereitete, verschwand für einen Augenblick, ihr Körper straffte sich und sie schritt hocherhobenen Hauptes durch die Halle. Nach wenigen Augenblicken verflüchtigte sich die Wirkung von Castoris heilsamen Worten wieder und Frau von Rabenstein verwelkte wie eine Blume, der man das Wasser entzogen hatte.

Castori sah ihr nach: Sie ist süchtig nach Bewunderung und unzählige eingebildete Katastrophen rauben ihr die Lebensfreude. Ein von mir inszeniertes Wrack huscht mit strähnigen Haaren durchs Haus. In sechs Wochen wird sie mich als Dame verlassen und in einem Jahr klopft sie als seelischer Scherbenhaufen wieder an meine Tür.

Wenn Castori die Größe besäße, seine Angst vor der Einsamkeit mit einem mutigen „Ja“ zu ersticken und sie nicht mit Ignoranz zu nähren, dann wäre sie seiner längst überdrüssig und er würde Frau von Rabenstein, ohne nachzudenken, die Freiheit schenken.

Als Frau von Rabenstein ihr Zimmer aufschloss, drückte sich der Herr, mit dem demutsvoll zur Brust geneigten Kinn, aus Zimmer zwei aus seinem Sessel.

Auch er blühte unter Castoris wohlwollenden Komplimenten auf und eilte agil in die erste Etage.

Castori gab mit einem stummen Nicken der Dame aus Zimmer drei das Zeichen zum Aufbruch.

Wie eng gespannter Maschendraht, ohne ein Schlupfloch für die Spione der Wahrheit, umsäumte das einsame Verlassen des Kaminzimmers Castoris Lebenswerk. Denn er befürchtete nicht zu Unrecht: Wenn sie im Treppenhaus ins Plaudern kommen, breiten sie ihre Leidensgeschichten voreinander aus und früher oder später hinterfragen sie ihren jährlichen Aufenthalt und decken den eigentlichen Grund ihrer Isolation auf.

„Es ist nicht gut, wenn Sie sich mit den Problemen anderer beschäftigen. Sie allein sind wichtig.“

„Sie allein sind wichtig“, seine Gäste liebten ihn für diese Lüge. Für die sie in ihren düsteren Zimmern mit Einsamkeit zahlten und um Castoris Gesellschaft flehten, der sich an ihrer Sehnsucht wie an einem stärkenden Lebenselixier erfrischte.

Castori verabschiedete den letzten Gast und flüsterte: „Ich sollte diese eintönige Begrüßungszeremonie abschaffen und sie vor ihren Zimmern antreten lassen. Das spart Zeit und das Wechselbad der Gefühle ließe sich zudem um einiges aufregender gestalten. Vor die Tür bestellt, gelobt und wieder zurück geschickt werden. Das ist gewiss kein Vergnügen.“

Castori löschte das Licht und widmete sich in seinem Büro einer seiner nächtlichen Lieblingsbeschäftigungen. Er vertiefte sich in die Akten der neu angereisten Gäste, aktualisierte sie, setzte hier und da Medikamente ab und verordnete Ersatzpräparate.

Specht lag in seinem Bett und grübelte. Gerade eben hatte er

etwas Verbotenes getan. Auf dem Tablett mit dem Abendessen hatte er, wie zu jeder Mahlzeit, rechts neben der Teetasse eine dunkelrote Pillendose vorgefunden. Er hat die blaue Tablette, die sich darin befand, auf seinen Handteller gleiten lassen. Doch anstatt sie in den Mund zu schieben und zu schlucken, tat er etwas, was ihm selbst unerklärlich war und völlig überraschte: Er formte die Hand, in der die Tablette lag, zu einer Faust und sah sie nachdenklich an. Und je länger sein Blick auf ihr ruhte, desto energischer warnte ihn eine innere Stimme: „Diese Tablette bringt dich um!“

„Professor Castori ist ein erfahrener Therapeut, aber bei der Auswahl dieses Medikaments muss ihm ein Fehler unterlaufen sein“, rechtfertigte sich Specht und schob die Tablette verschämt in seine rechte Hosentasche.

Der Beweis für seinen Ungehorsam drückte wie Blei auf seinen

Oberschenkel und das Problem, das winzige blaue Ding unauffällig fortzuschaffen, türmte sich wie ein unbezwingbarer Achttausender vor ihm auf.

Er darf nicht misstrauisch werden. Im Zimmer verstecken ist zu gefährlich. Im Park vergraben: Die Gärtner oder gar Professor Castori selbst könnten mich dabei überraschen. Zu Pulver zermalmen und in Topfpflanzen streuen, das Haus ist pflanzenfrei, wirbelten die Möglichkeiten ungestüm durch seine Gedanken. Bis ihn nach Mitternacht ein Lichtblick erlöste.

Ich ignoriere Professor Castoris Warnung und wage mich in den Wald.

In jeder Willkommensansprache betonte Castori: „Verlassen Sie niemals den Park des Sanatoriums. Dieses Tal ist gefährlichste Wildnis. Sie könnten sich verirren und in eine

Felsspalte stürzen.“

Anschließend faltete er die Hände und senkte die Augen, um stockend fortzufahren: „In der ersten Woche nach der Eröffnung des Sanatoriums hatten wir einen schrecklichen Unfall. Diese Tragödie bringt mich um den Schlaf... ich hätte es ahnen und verhindern müssen... wenn es wieder passiert... werde ich mich zu einer Schließung des Sanatoriums durchringen müssen. Bitte bleiben Sie im Park und ersparen Sie mir, dass Ihr Blut an meinen Händen klebt.“

Nur ein einziges Mal die Welt jenseits der weißen Mauer zu erkunden, daran dachten hier viele. Dort draußen winkte die Freiheit. Reiter galoppierten vorbei, Schals flatterten aus Cabrios im Wind, muhende Kühe weckten Kindheitserinnerungen und der Duft von frischem Heu verführte zum Träumen.

Doch nach Castoris erfundenem Unglück wagten sich ein paar Mutige gerade bis ans Tor, und auch dass nur an guten Tagen.

Somit war entschieden, dass seine Nachbarn seinen Gästen nicht mit Enzian, Obstler oder ähnlich scharfem Zeug die Zunge lösten. Und mit unsinnigen Gerüchten nach seiner Approbation getrachtet wurde.

Castori hatte vor den bauernschlauen Dörflern gehörigen Respekt. Er erlebte sie als charakterstark, überlegen und immer für eine Unterhaltung zu haben. Bei der sie dann so ganz nebenbei, seine Aussagen auf den Prüfstand stellten, lebenserfahren nickten und vielsagend schwiegen. Selbst wenn er mit ihnen über die letzte Ernte plauderte, meinte er sein Herz auf der Zunge zu tragen und ihnen seine intimsten Geheimnisse anzuvertrauen.

Besonders unwohl fühlte er sich, wenn Philie in den Ferien ihre Mutter vertrat und das Sanatorium mit Gemüse, vom Bauernhof ihrer Großmutter, belieferte. Sie hatte trotz ihrer Jugend ein Leuchten, das man sonst nur bei Gottheiten fand und die Mächte der Finsternis mit Weisheit zu besiegen imstande schien.

Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings

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