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Der rätselhafte Traum

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Kurz nach Mitternacht schlief Philie mit dem Vorsatz ein: Morgen, sobald es dunkel ist, steige ich bei Castori ein.

Nach zwei Stunden wühlte sie, wild um sich schlagend, ihre Decke auf den Boden. Sie sah sich durch den Park des Sanatoriums hasten und auf Zehenspitzen mit einer Taschenlampe in die erste Etage schleichen.

Plötzlich zuckte sie, wie vom Blitz getroffen, zusammen: „Geh’ zurück und sperr’ die Tür ab“, dröhnte es durch die mit dunklem Holz vertäfelte Halle.

Sie hielt sich die Ohren zu und starrte auf die Galerie. Doch die Gäste, ebenso wie Castori von Medikamenten benebelt, schlummerten friedlich in ihren Betten.

Philie hörte das Schloss der Eingangstür knacken. Hoffentlich komme ich heil wieder hier `raus. Über ihr knarrten die Dielen. Sie knipste die Taschenlampe aus. Überall im Haus knarrte und knackte es. Philie atmete auf. Die alten Balken arbeiten. Sie schaltete ihre Taschenlampe wieder an und schlich weiter.

Auf halber Höhe erschreckten sie Schritte. Sie verstaute die Taschenlampe in ihrer Hosentasche und wartete ab. Selbst das kaum hörbare Geräusch des Ausknipsens erschien ihr jetzt verräterisch laut.

Nach sechzig endlosen Sekunden schabte eine Tür über das Parkett. Dann ging das Licht an. Jetzt ist es Zeit abzuhauen.

Sie rannte zur Eingangstür. Abgesperrt. Verdammt. Als jemand über die Stufen polterte, flüchtete sie ins nächste Zimmer. Jemand lief aus sie zu.

Sie suchte mit der Taschenlampe fahrig die Wände ab. Entdeckte einen Kamin, stürzte hinein, fiel hin als dessen Rückwand nachgab und landete auf einem Podest. Sie drückte den Kamin zu und starrte durch einen Schlitz zwischen den Fugen in das ausgeleuchtete Zimmer.

Castori schleuderte die Vorhänge zur Seite, durchsuchte eine Truhe, sah unter eine Kommode, stutzte und stürmte zum Kamin.

Philie rutschte ihr Herz in die Hose. Sie hastete über eine Steintreppe in den Keller, knickte um, landete auf dem Bauch, schlitterte kopfüber die eklig feuchten Stufen hinunter und warf sich herum. Castori zielte frech grinsend mit einer Pistole auf sie. Sie sprang auf, rannte zu einer Holztür, rüttelte daran und hörte es knallen.

Philie schoss in die Höhe und rang schweißgebadet nach Luft. Erst die roten Leuchtziffern ihres Weckers beruhigten sie wieder. Dann zuckte sie zusammen. Am Dachboden rumorte und raschelte es. Jemand sauste über sie hinweg, scharrte im Eck und krabbelte über die Hauswand auf den Balkon.

Sie pfiff: „Oh, when the Saints go marching in“ vor sich hin und sagte: „Mach dich nicht verrückt. Das sind keine Einbrecher. Auf dem Dach tummeln sich nur wieder die Marder.“

Sie zog sich die Decke über den Kopf, schlief über der vertrauten Unruhe ein und wachte erst um kurz nach zehn wieder auf. Ihr Alptraum steckte ihr noch in den Knochen. Sie schaute unters Bett, nahm all ihren Mut zusammen, wagte sich ins Treppenhaus und zögerte vor dem Kühlraum.

Kurze Zeit später raste sie ins Tal. An der Abbiegung zum

Sanatorium, ging sie vom Gas und fuhr gemächlich zum Eingang.

„Halb zwölf, also noch genug Zeit“, murmelte sie.

Dann setzte sie alles auf eine Karte. Sie vergewisserte sich, dass ihr aus dem Park niemand gefolgt war und schlüpfte in die Halle. In ihrem Augenwinkel erschien eine Tür: Das ist sie.

Der verschnörkelte Türgriff brannte in ihrer Hand, sie biss sich auf die Unterlippe und betrachtete ungläubig den Kamin, der sich von dem aus ihrem Traum durch nichts unterschied.

„Was erlauben Sie sich?“, fauchte Castori.

Philie drehte sich seelenruhig um und log: „Herr Professor Castori, da sind Sie ja. Ich habe nach Ihnen gesucht.“

Sie kann so liebenswürdig sein, dachte Castori überrascht. Philie strahlte ihn unermüdlich an und lobte sich: Gut, dass ich auf so eine Situation vorbereitet war.

Castori sagte: „Dann folgen Sie mir bitte. Sie sind schon wieder zu früh.“

Philie öffnete die Eingangstür, schlug die Augen unschuldig auf und bat: „Herr Professor Castori, würden Sie mir bitte die Tür aufhalten. Ich möchte den Mittagsschlaf ihrer Gäste nicht stören.“

Sie ist wie verwandelt, gar nicht mehr wiederzuerkennen, wunderte sich Castori, während er Philie dabei zusah, wie sie die Kisten behutsam in die Halle trug.

„Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen und bis morgen“, verabschiedete sich Philie.

Castori begleitete Philie zu ihrem Wagen und sagte: „Es wird mir eine Freude sein, Sie bald wieder hier bei mir begrüßen zu dürfen.“

Philie unterließ es Vollgas zu geben, um den verhassten Castori in eine Staubwolke einzunebeln und betörte ihn mit einem honigsüßen Lächeln.

Castori jubelte. Ein erster Erfolg, so wohlerzogen hat sie mich noch nie beliefert.

Philie war erleichtert. Das ist ja noch einmal gut gegangen. Ich konnte mich kurz im Haus umsehen und als er mich erwischt hat, hatte ich eine wasserdichte Ausrede parat.

Er muss mich für nett, naiv und gutgläubig halten. Dann habe ich meine Ruhe.

Vor dem Tor, erweckte ein junger Mann, durch unschlüssiges auf der Stelle treten, bei Philie den Eindruck, als könnte er sich nicht entscheiden, zu einem Spaziergang aufzubrechen.

Sie hielt an, beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster herunter.

„Hi! Kann ich Dir vielleicht irgendwie helfen?“

Der Schlaksige im mausgrauen Anzug rückte seine altmodisch gepunktete Krawatte zurecht und schlurfte auf Philie zu.

Komischer Vogel, charakterisierte ihn Philie.

„Helfen? Mir? Nein, nein, Sie können mir nicht helfen“, antwortete eine traurige Stimme verschreckt.

„Wohin soll es denn gehen? Ich kann Dich ein Stückchen mitnehmen?“

„Zurück, zurück, ich muss zurück“, antwortete Specht zerstreut und stolperte davon.

Philie machte sich kopfschüttelnd aus dem Staub.

Specht saß auf einer Bank und grübelte. Ich wollte die Tablette im Wald entsorgen. Bis zu Professor Castoris Besuch wäre ich wieder in meinem Zimmer gewesen. Ich hatte mir fest vorgenommen, das Sanatorium für eine gute halbe Stunde zu verlassen und mich den Gefahren der Wildnis auszuliefern. Doch dann kam dieses Mädchen und rief lauthals hinaus, dass ich Professor Castori hintergehe. Hoffentlich hat sie niemand gehört.

Nach einer halben Stunde, in der sich weder im Park noch im Sanatorium etwas ereignete, das Anlass zur Sorge gab, sein Ausflug könnte entdeckt worden sein, trottete Specht in sein Zimmer zurück. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich morgen noch einmal zu überwinden.

Philie saß in ihrem Zimmer über einem Malblock. Sie hatte ihr Kinn in die Hände gestützt und ließ sich vom geschäftigen Glockengebimmel einer Kuhherde, die unter ihrem Fenster graste, ablenken.

Schließlich riss sie sich doch von den friedlichen Klängen des Bergsommers los und verglich das Kaminzimmer im Sanatorium mit dem aus ihrem Traum. Das eine ist ein Abbild des anderen. Es gibt keinen Unterschied. Ich bin noch nie in diesem Zimmer gewesen und man kann doch nur von etwas träumen, dass man auch kennt. Wer kann Orte, an denen man nie gewesen ist, in fremden Träumen erscheinen lassen? Und wer kann einen davon überzeugen, dass sie das wirkliche Leben sind? Seltsam, wenn mich Castori heute Nacht nicht erschossen hätte, dann könnte ich schwören, dass ich letzte Nacht wirklich durchs Sanatorium geschlichen bin. Von einem Alptraum lasse ich mich jedenfalls nicht aufhalten. Heute Nacht gehe ich wirklich hin.

Sie trällerte: „Du musst deinen Träumen vertrauen, du musst deinen….“ und rief plötzlich: „Amira, es war Amira, die mir zugerufen hat, dass ich die Tür verriegeln soll. Sie will mich zwingen, über meinen Traum nachzudenken.“

Philie malte die Szenen aus ihrem Traum mit Buntstiften auf und betitelte sie.

„Tür, Treppe, Stimme, Tür abschließen, Kaminzimmer, Geheimgang, Holztür, Tür, Treppe, Stimme, Tür abschließen…“, wiederholte sie und malte dabei Kringel aufs Papier.

„Das kann doch nicht so schwierig sein.“

Sie schloss widerwillig die Augen und wagte sich noch einmal in Castoris düstere Villa. Ihr war unheimlich zumute.

„Der Geist eines Ortes, an dem jemand Böses lebt, ist selbst in der Erinnerung noch beklemmend. Ich stelle mich ihm entgegen, das bin ich Dad schuldig, und Mum und Grandma auch“, schwor sie sich, während sie die hell erleuchtete Halle durchquerte und ins Kaminzimmer spazierte.

Zwischen den Gästesesseln rief sie aus: „Jetzt hab’ ich ´s. So könnte es sein. Zwischen dem Schlüssel für das Kaminzimmer im Verwalterhaus und dem Kamin muss es eine Verbindung geben. Das Kaminzimmer war offen, aber die Tür vor der mich Castori erschossen hat, war abgeschlossen. Ich warte noch einen Tag und hole den Schlüssel. Nur, warum wurde die Haustür verriegelt? Egal, nicht jedes Traumbild muss auch eine Bedeutung haben.“

Philie turnte vom Balkon und eilte in die Scheune. Aus einer Ansammlung von ausrangierten Dreschflegeln, Wagenrädern und Mistgabeln, die in einer verstaubten Ecke an alte Zeiten erinnerten, suchte sie eine Sense heraus. Zwei Dreschflegel fielen um und blieben liegen. Sie warf sich die Sense und einen Rechen über die Schulter und machte sich zu einer der Bergwiesen auf, die zum Bauernhof gehörten.

Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings

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