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Düstere Vorahnungen

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Am nächsten Morgen weckte Philie das muntere Gezwitscher einer Spatzenfamilie. Sie blinzelte in die Sonne, die vom wolkenlosen Himmel strahlte, reckte und streckte sich auf dem Balkon und gähnte genüsslich dazu.

„Ein Traumtag, zum Niederknien schön“, rief sie begeistert.

Plötzlich stutzte sie. Durch den Park des Sanatoriums, für sie aus dieser Entfernung nur schemenhaft zu erkennen, lief eine dunkel gekleidete Person.

Das kann nur Castori sein.

Am Horizont hinter Castori erschien das traurige Gesicht von Amira. Aus ihren Augen quollen schwarze Schmetterlinge und verdunkelten den Himmel.

Philie flüsterte: „Castori ist der Träger des schwarzen Zeichens.“

„Er hat den Auftrag, Deiner Welt das Licht zu rauben“, hörte Philie Amira heiser flüstern.

Er will alle, die mir lieb sind, töten. Meinen Dad behalten, mich mit Verlusten zermürben und mich auf Friedhöfen die Zeit zurück drehen sehn.

Während die schwarzen Schmetterlinge das Firmament wieder freigaben, erwiderte Philie: „Lange bevor wir zusammengeführt worden sind, hat Castori sich selbst verraten. Seine heuchlerische Maskerade und die finsteren Töne in seiner bemüht warmherzig klingenden Stimme waren mir Warnung genug. Er ist mehr als nur der harmlose Professor eines Sanatoriums. Durch Dich wurden aus Ahnungen Gewissheiten. Wenn ich erst einmal in seiner dunklen Villa bin, reiße ich ihm das Kostüm des Liebenswürdigen vom Leib.“

Die Augen der Alten wurden zu strahlendhellen Sonnen und ihr Gesicht löste sich mit einem Lächeln auf. Castori verschwand in einem kleinen Wäldchen und Philie trottete unter die Dusche.

Beim Einseifen fiel ihr Blick auf die Uhr neben dem Spiegel: „Schon nach Zehn. Ich muss Gas geben. Castori will um Punkt zwölf seine Sachen haben und ich muss die Kisten noch einladen.“

Sie schlang ein Handtuch um ihren triefendnassen Körper und eilte, kleine Pfützen hinterlassend, in ihr Zimmer. Dort zerrte sie eine Jeans aus dem Schrank, durchwühlte einen umgefallenen Kleiderstapel nach ihrem karierten Lieblingshemd, fuhr hastig hinein, ließ sich aufs Bett fallen und schlüpfte in ihre nagelneuen Turnschuhe.

Auf der Kommode neben der Balkontür erzählten sechs Halstücher, akkurat aneinandergereiht, die Geschichte zweier Frischverliebter. Farbige Souvenirs an die erste Reise ihrer Eltern in die Toskana. An einem Samstag am Strand von Forte dei Marmi hatte ihre Mum ihrem Dad ein grünes Tuch geschenkt. Das Rote erinnerte an einen Montag in den Palästen von Florenz, das Gelbe an den Sonnenuntergang eines Dienstags in Grosseto, das Blaue an einen romantischen Mittwoch in Lucca, das Orange an einen Donnerstag auf der Piazza Grande in Arezzo und das Türkise an einen Freitag in der Altstadt von Viarreggio.

Ihr Dad wäre niemals ohne eines seiner geliebten Tücher aus dem Haus gegangen.

Philie knotete sich das grüne Samstagstuch um.

Das siebte Halstuch fehlte. Ihr Dad hatte das weiße Andenken aus Pisa, an seinem letzten Sonntag, in seine Welt hinter den Sternen mitgenommen.

An Sonntagen, an denen die Trauer um ihren Dad übermächtig lebendig wurde, verkroch sich Philie mit einem schwarzen Tuch an ihrem rechten Handgelenk in einer einsamen Berghütte. Dort träumte sie sich, von Weinkrämpfen geschüttelt, in die viel zu kurze Zeit mit ihrem Dad zurück. Sie spielten zusammen Fußball, bestiegen die höchsten Berge und sie sehnte sich nach seinen Strafpredigten für geschwänzte Schulstunden und unpünktliches Erscheinen.

Philie wischte ihre Tränen fort und kletterte, einer alten Gewohnheit aus Kindertagen folgend, vom Balkon auf den Tisch vor dem Küchenfenster. Ein paar rote Geranienblüten brachen ab und segelten auf die Tischplatte.

Das Klirren des Geschirrs schreckte zwei Hühner auf, die unter dem Tisch nach Futter pickten und laut gackernd das Weite suchten.

Eine Thermoskanne kreiste bedenklich schnell auf die Tischkante zu. Philie fing sie auf und stellte sie wieder zurück. Sie füllte eine Tasse, setzte sich auf den Tisch, trank ihren Kaffee und blickte ins Tal.

„Mums Kaffee ist der Beste, den es gibt“, sagte sie anerkennend. Sie stellte die Tasse ab, sprang auf, eilte durch den Flur ins Kühlhaus und trug die Kisten für Castori zu ihrem Polo.

Hoffentlich habe ich alles. Dieser Bösewicht ist ja ziemlich pingelig.

Sie kurbelte die Autofenster herunter und brauste, von Freddie Mercury angeheizt, ins Tal.

Castori ruhte sich, von einer schrecklichen Migräne geplagt, auf dem Bett aus.

Plötzlich dröhnten laute Bässe durch den Park und er murrte genervt: „Ferien.“

Er angelte seine Armbanduhr von einem satinierten Aluminiumtisch und schimpfte: „Viertel vor Zwölf! Zu früh, wie immer.“

Er strich seinen Anzug glatt und drückte die Hand auf seine schmerzende Stirn.

Das Gegröle verstummte und Castori seufzte erlöst: „Gott sei Dank.“

Philie hupte drei Mal und rief: „Herr Professor Castori! Ich bin da.“

„Sie bringt mich noch um den Verstand.“

Castori schleppte sich auf die Galerie und quälte sich, langsam und jede Erschütterung vermeidend, ins Erdgeschoss. Jeder Schritt entzündete unter seiner Schädeldecke einen barbarisch brennenden Feuerregen.

Sie hat eine Kiste als Türstopper zweckentfremdet. Dabei weiß sie genau, dass ich auf die vornehme Kühle der Dunkelheit bestehe. Es genügt, das Wesentliche ins Licht zu rücken. Und das Wesentliche bin ich und nicht die Welt, in der ich mich gezwungenermaßen noch bewege. Erst, wenn sich mein sehnlichster Wunsch erfüllt, werde ich die gleißende Helligkeit der Sieger um mich dulden.

Castori hatte gerade den Fuß der Treppe erreicht, als Philie zwei Kisten mit Kartoffeln auf den Boden knallte.

„Guten Tag“, presste Castori kurz angebunden heraus.

„Gleich“, erwiderte Philie und stürmte hinaus.

Specht, den Philies Hupkonzert aus dem Bett gescheucht hatte, stand schlaftrunken hinter seiner Zimmertür. Er hatte Castori aus der zweiten Etage in die Halle gehen hören und fragte sich eifersüchtig: „Wem wird er wohl jetzt seine Aufmerksamkeit schenken?"

Er umklammerte die Türklinke und flüsterte: „Das, was ich zu tun gedenke, bricht alle Regeln des guten Benehmens.“

Doch anstatt das Verbotene zu unterlassen, wartete er, bis Castori Philie begrüßt hatte, dann gab es für ihn kein Halten mehr. Er presste seine rechte, von Schweißperlen übersäte Gesichtshälfte gegen den kühlen Lack der Zimmertür und beobachtete das Geschehen in der Halle.

Das tue ich nur, damit ich Professor Castori endlich besser kennenlerne. Ich weiß so wenig über ihn, rechtfertigte er sich schuldbewusst.

„Ungeheuerlich“, sagte Castori verärgert und dachte: Jetzt muss ich dieser ungehobelten Person schon wieder erklären, wie sie sich zu verhalten hat und sie wird wieder lauthals verkünden: „Ich bringe nur frischen Wind in die alte Bude und der wird Ihnen und Ihren Gästen gut tun.“

Jedes Mal, wenn ihn Philie mit dieser Unverfrorenheit konfrontierte, ballten sich Castoris feingliedrige Hände zu zornigen Fäusten zusammen und er schleuderte ihr stumm entgegen: „Lassen Sie sich nie wieder hier blicken!“

Allein der Gedanke, es sich damit mit Philies Mutter zu verscherzen und den Argwohn der Einheimischen zu wecken, hielten ihn davon ab, Philie für immer aus seinem Dunstkreis zu verbannen.

Überhaupt Philies Mutter. Er sah sie noch vor sich, als sei es gestern gewesen: Sie stellte ihm ihr Sortiment vor, legte die Liefertermine fest, kam ihm beim Preis entgegen, berührte seinen Arm, war einfach entzückend und eroberte sein Herz im Sturm. Damals hatte er sich spontan dazu entschlossen, die Ware selbst in Empfang zu nehmen, um so Philies Mutter langsam näherzukommen.

Jetzt war Philies Vater ein Jahr tot und bei passender Gelegenheit wollte er ihre Mutter zum Abendessen ausführen.

Die Unruhe, die ihm bei jeder Begegnung mit Philie zuschaffen machte, würde sich schon noch legen. Außerdem gab es genügend Mittel und Wege sie zu zähmen oder nötigenfalls sogar ganz aus dem Weg zu schaffen.

Philie knallte die Heckklappe zu, flitzte in die Halle, stellte Castori eine Kiste vor die Füße und verkündete fröhlich: „So, das ist die Letzte.“

Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und blickte ihn erwartungsvoll an.

Castori räusperte sich und sagte: „Mein liebes Fräulein Sommer, meine Gäste pflegen um diese Zeit ihren täglichen Mittagsschlaf zu halten. Ich möchte Sie zum wiederholten Male bitten, sich den Gepflogenheiten dieses Hauses anzupassen und das Ruhebedürfnis meiner Gäste zu respektieren.“

Wenn Castori Philie: „Mein liebes Fräulein Sommer“, nannte, dann betonte er das „Mein“ derart militärisch, dass Philie sich beinahe wie seine Leibeigene fühlte, die ihm zu Diensten zu sein hatte.

Das Besitzergreifende „Mein“, war, neben Castoris Bestreben, sie keinen Schritt weiter als in die Halle zu lassen und ausnahmslos Personal aus Osteuropa zu beschäftigen, das selbst einen Gruß nur zurückhaltend erwiderte, aber meistens unsichtbar seine Pflichten erfüllte, der Grund warum sie sie sich zu der Behauptung hinreißen ließ: Er hat Dreck am Stecken und ist vermutlich sogar in krumme Geschäfte verwickelt. Denn wegen einer stinknormalen Psychiatrie müsste er nicht so einen Aufwand betreiben.

Philie musterte Castori wie ein Torero seinen Stier und schleuderte ihm stumm entgegen: Du kannst so viele falsche Fährten auslegen wie Du willst. Amira und ich tappen dir niemals in die Falle.

Castori, der sich von Philies forschendem Blick überführt fühlte, drehte sich um und tat, als würde er den Inhalt der Kisten prüfen.

Castori behandelte Philie stets freundlich und pflegte seinen Ruf als Philanthrop, dem das Wohlergehen Anderer über alles ging. Selbst Philies Mutter schwärmte von seiner galanten Höflichkeit.

Bei Philie jedoch hinterließ Castori von der ersten Sekunde an den Beigeschmack eines scheinheiligen Blenders, der seine Umgebung mit perfekten Manieren und Liebenswürdigkeit zu gewinnen versuchte.

Castori wartete auf Philies: „Ich bringe nur frischen Wind ….“

Doch Philie, darauf erpicht, die oberen Etagen zu besichtigen, enttäuschte ihn.

Erstarrt und wie durch einen Schleier, hörte Castori sie herausposaunen: „Herr Professor Castori, Sie haben ja so recht. Könnte ich die Vi…?“ Philie brachte es gerade noch fertig, die: „Die Villa der dunklen Gedanken“, zurückzuhalten.

Sie lachte keck und korrigierte sich: „Würden Sie mich einmal durch das Sanatorium führen?“

Castori zuckte kaum merklich zusammen, täuschte einen Hustenanfall vor und sagte: „Ich begleite Sie hinaus.“

Er komplimentierte Philie vor die Tür und sagte knapp: „Wir sehen uns morgen.“

Philie heuchelte Enttäuschung und drohte stumm: Dich kriege ich schon noch.

Ein Geräusch in der ersten Etage lenkte Castori ab. Specht ist wach, stellte er mit geübtem Ohr fest.

Jedes Schloss der Gästezimmer klickte in einem eigens für ihn komponierten Ton und erlaubte Castori, jeden zu identifizieren, der sein Zimmer verließ oder heimlich ins Treppenhaus lauschte. Nächsten Monat wollte er versteckte Mikrofone einbauen und jede Bewegung aufzeichnen lassen.

Unglaublich! Dieser Wicht fordert mich geradezu heraus. Ich habe sein neues Medikaments doch zu niedrig dosiert, empörte er sich, während er auf Spechts Zimmertür zueilte.

Er war kurz davor aus der Haut zu fahren und dieser Ausgeburt an Ungehorsam eine Standpauke zu halten, als er sich eines Besseren besann. Warum soll ich ihm die Arbeit abnehmen und ihm mit einer Rüge die Absolution für seine Sünden erteilen?

Specht, der ahnte, dass Castori ihn ertappt hatte, erstarrte zur Säule.

Das Spinnennetz des Schwarzen Schmetterlings

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