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Wenn er nur nicht so ein Suffkopp gewesen wäre, mein Hermann, dachte Emmi Nichterlein in verdrießlicher Erinnerung, aber eigentlich ganz ohne Anlass, und betrachtete misstrauisch die Zahnpasta auf ihrer Bürste. Seit wann war da ein roter Streifen in der Mitte des Stranges?

Und dann, während das Radio im Esszimmer nebenan fröhlich verkündete, Tief Violetta schwenke endlich und im Sturmschritt nach Osten ab, aber Wilhelmine rücke bereits mit zornigem Gegrummel vom Atlantik her nach, grinsten sie aus dem Badezimmerspiegel ihre falschen Zähne an und sie stockte, die Zahnbürste schon drohend erhoben. Was für ein Dämlack, dieser Doktor Mirkowitz. Mit Sicherheit trug kein anderer Koppstedter in seinem Mund Zähne spazieren, die es an Scheußlichkeit mit denen ihres neuen Oberkiefergebisses aufnehmen konnten. Nicht, dass sie gelblich oder bräunlich schimmerten oder sogar schlierig aussahen, o nein, an der Farbe lag es nicht. Sie leuchteten reinweiß im Sinne des Wortes, und zwar vom hintersten strahlenden Backenzahn bis zu den vorderen blitzenden Schneidezähnen.

Und einzeln betrachtet ließ sich an den Zähnen ebenfalls nicht mäkeln. Einer wie der andere ein beeindruckendes Beispiel zahnärztlicher Klonkunst. Auf Mirkowitz‘ Visitenkarte stand bescheiden Atelier für angewandte Zahnkunst und nicht Zahnarztpraxis, und er betonte gern und häufig, dass er jedes Gebiss, vom Abdruck bis zur fertigen Kreation selbst modellierte. Seit dem Tag, an dem Emmi auf der dringlichen Suche nach der Praxistoilette eine Tür aufgerissen und hinter der Tür ein verhärmtes Männchen mit kunststoffverschmierten Händen aufgeschreckt hatte, das von halb fertigen Gebissen umgeben war, wusste sie, dass er log.

Es war die Symbiose, diese Aneinanderreihung völlig identischer Klone, die dem Gebiss seine Lächerlichkeit verlieh. Dies und die kleine Neigung der Zähne vom Kiefer weg Richtung Oberlippe zu streben. Sobald sie lächelte, zeichnete sich selbst in verdrießlichen Gesichtern eine leise Heiterkeit ab, und hinter ihrem Rücken tuschelte es von Überbiss und entzückend. Am meisten machte ihr jedoch ihre Zunge zu schaffen, die sich beim Sprechen nur schwer an die auseinanderstrebenden Zähne gewöhnen konnte, und sich vor allem in den ersten Wochen immer wieder arg lispelnd in den Lücken verhedderte.

Niedlich, sagten die Kinder und grinsten sich eins.

Emmi schüttelte missmutig den Kopf.

Am Wochenende ist zwischen heftigen Regenfällen und kurzen Gewittern etwas Sonne in Aussicht, aber es bleibt weiterhin für die Jahreszeit zu nass, und der wettermedizinische Dienst von Guten Morgen Koppstedt empfiehlt allen Kreislaufpatienten, auf Grund der anhaltenden Schwüle, zu Hause zu bleiben. Die Zeit – es ist acht Uhr und fünf Minuten. Die nächsten Nachrichten hören Sie ...

Mirkowitz selbst lehnte jede Verantwortung für diese Fehlkreation ab. Nicht, dass er nun doch gestanden hätte, einen Helfershelfer im Hinterzimmer mit den Gebissen zu beauftragen. Er griff seinerseits an, und beschuldigte ihre eigenen, noch im Unterkiefer verwurzelten Zähne das Gesamtensemble zu stören. Grau verfärbt, fauchte er, abgenutzt, verplombt, Giraffenhälse und insgesamt einfach scheußlich. Monstrositäten! Überdies fällt Ihnen die Hälfte davon ohnehin binnen eines Jahres aus. Erwägen Sie eine Extraktion, und ich kreiere Ihnen persönlich ein Gebiss, das zu den oberen Zähnen passt. Erwägen Sie wohlwollend! So weit Doktor Mirkowitz.

Emmi hatte erwogen, zwar nicht eben wohlwollend, aber mittels eines langen Blickes in den Spiegel und eines noch längeren auf die Zahnarztrechnung, und noch in derselben Stunde einen verbissenen Kampf für die Erhaltung ihrer Monstrositäten gestartet. Immerhin biss man sich seit Jahrzehnten in traulicher Gemeinsamkeit durch die Widrigkeiten des Lebens. Sie kaufte eine Munddusche, massierte das Zahnfleisch, schluckte Vitamin C gegen Parodontose und Kalzium zur Härtung des Schmelzes, und mühte sich nachts mit offenem Mund zu schlafen, aus Furcht vor zähneknirschenden Träumen. Morgens überprüfte sie mit Daumen und Zeigefinger den Grad der Wackligkeit einzelner Sorgenkinder und seufzte schwer, weil ihr dabei ihre Kinder einfielen - und deren Wackligkeit.

Emmi bleckte erneut die Zähne, und die Munddusche rumpelte los wie ihre Waschmaschine im Schleudergang. Es hörte sich auf beruhigende Weise drastisch an, auch wenn ihr bei dem harten Strahl immer noch das Zahnfleisch blutete. Aber sie tat etwas gegen ein Vollgebiss. Gegen Zähne, die im Munde klapperten, auch wenn es gerade nichts zu sagen gab, die sich bei falscher Haftcreme außerhalb des Mundes im Schinkenbrot verbissen wie ein Pitbull im Pudel und die einen nachts aus dem Wasserglas höhnisch angrinsten, sobald man die Nachttischlampe anknipste.

Sie packte den Griff der Düse energischer. Nein, ein Vollgebiss kam nicht infrage. Lieber mümmelte sie sich unten herum nackt bis zum Grab durch. Und wenn sie am Fegefeuer des Schwarzen Hermann wiedertraf, denn dass Petrus mit dem goldenen Schlüssel winkte, schien ihr doch eher unwahrscheinlich, war der bestimmt selbst schon längst über sein eitles Gehabe hinaus. All die Jahre in der Hölle schadeten mit Sicherheit dem Teint.

Der Strahl der Munddusche fiel abrupt in sich zusammen. Sie hängte die Düse in die Halterung und trocknete sich das nasse Kinn ab. Das Weiß des flauschigen Handtuchs brachte ein feinmaschiges Netz geplatzter Äderchen auf ihren Wangen zum Glühen.

„Apfelbäckchen“, sagten die Kinder.

„Bah“, sagte Emmi Nichterlein angewidert und suchte mit wütender Ungeduld und wieder einmal nach der Abdeckcreme. Ab und an gelang es ihr, sich an die Vorstellung nächtlings herumwuselnder Gnome zu klammern, die eigens zu dem Zweck erschienen, Cremes, Schlüssel und dringliche Überweisungen an unmöglichen Orten zu verbergen, um dann morgens lachend um sie herumzutanzen und ihr eine lange Nase zu zeigen, während sie in zunehmender Verbissenheit auf der Ablage herumfuhrwerkte, das Rattanregal ausräumte und die Türen des Aliberts aufriss. Gestern war es besonders schlimm gewesen. Statt der Zahnpasta hatte die Fußpilzsalbe im Becher gesteckt, Kopf an Kopf mit der Zahnbürste, während sich die Zahnpasta später im blauen Kosmetikköfferchen wiederfand, inmitten des Sammelsuriums halb aufgebrauchter Tablettenschachteln, Röhrchen mit abgelöstem Etikett und ungewissen Inhaltes und den unzähligen Apothekenpröbchen teurer Lotionen, Cremes und Düften, die sie für Julia und Christina aufhob und dann doch immer vergaß, wenn eine der beiden sie besuchte. Was für ein widerlicher Geschmack den ganzen Tag über. Vor allem in der Seele.

Emmi seufzte und streckte sich die Zunge heraus. Schadenfroh lachende Gnome, die Sachen versteckten, na klar. Schließlich wartete ja auch am Ende eines jeden Regenbogens ein überquellender Goldtopf! Nein, es gab nur sie, die zunehmende Vergesslichkeit ihrer siebzig Jahre und das Eingeständnis, dass ihr Kopf immer öfter streikte. Anfangs nur sporadisch, mit lachhaftem oder ärgerlichem Ausgang, aber mittlerweile in lästiger Häufung, und es nagte immer noch böse an ihr, dass sie drei Wochen zuvor die Brille in Einzelteilen aus der frisch geschleuderten Wäsche angelte und sich empfindlich in den Finger schnitt, während die Socke, die sie eigentlich und nachträglich in die Waschmaschine hatte stecken wollen, spurlos verschwunden geblieben war. Gegen Alzheimer war der alberne Überbiss natürlich lachhaft.

Freitags, wenn sie am Kiosk in der Weidenstraße die neuste Ausgabe der Äskulapschlange kaufte, las sie als Erstes die Fortsetzungsartikel über Willi, den Alzheimerpatienten aus Nürnberg zum Frühstück und schauderte bei jedem neuen dramatischen Verfall.

Schrumpfung des Gehirns. Schwere senile Demenz: Gedächtnisstörungen, Unruhe, Sprachstörungen. Vor allem aber Schrumpfung des Gehirns! O ja, und wie es geschrumpft war in den letzten Jahren, woher sonst sollte diese seltsame Leere im Kopf kommen, die sie selbst auf simple Fragen nach Antworten ringen ließ, weil ihr die passenden Worte fehlten? Und Willige aus Nürnberg war bereits gänzlich verstummt.

Die Symptome stimmten eines wie das andere. Auch die häufigen Kopfschmerzen. Mussten nicht die Hirnnerven rebellieren, wenn ein mörderisches Protein wahllos Zellen abtötete und andere verquirlte, mochte der Kühne auch fantasieren, was er wollte? Altersbedingte Kalkablagerungen, hatte er nach der Computertomografie gesagt und gegrinst wie eine Ratte vorm Speck. Aber was wusste der schon vom alzheimerschen Beta-Amyloid-Protein? Diese jungschen Ärzte gaben sich doch heutzutage gar keine Mühe mehr, verzogen das Gesicht, wenn sie Hausbesuche machen sollten. und gingen lieber in die Disco oder zum Segeln, anstatt sich weiterzubilden und die Äskulapschlange zu lesen. Ärzte, wie den alten Frisch, richtige Hausärzte, die ihre Patienten mit Namen kannten und auch schon mal im Theaterfrack kamen, wenn ein Kind am Samstagabend fieberte, gab es offensichtlich nur noch in der Erinnerung ihrer Generation. Aber so war die Welt. Alles ging den Bach hinunter. Die Werte, die Vorbilder und der alte Frisch. Der Schlag hatte ihn getroffen, morgens vorm Frühstücksei, und als sie irgendwann später den Kühne, seinen Praxisnachfolger, anrief, mit Herzklabastern und Atemnot, da schickte der Stiesel lediglich den Notarzt samt Ambulanz, anstatt sein faules Hinterteil selbst aus dem Fernsehsessel zu mühen.

Altersbedingte Kalkablagerungen! Was für ein unfähiger Scharlatan.

„Ha!“, sagte Emmi Nichterlein ärgerlich.

Ob er sich ihre aphasichen Anfälle überhaupt notiert hatte? Stand auf ihrer Karteikarte tatsächlich: Die Patientin ist mitunter unfähig, selbst einfache Gegenstände zu benennen oder verbale Anweisungen zu verstehen. Da war dieser seltsame Ausdruck in seinem Gesicht gewesen, fast so als suche er ein Lächeln zu verbergen, als sie ihm schilderte, wie sie immer häufiger mitten im Satz stecken blieb, vergeblich nach den korrekten Ausdrücken alltäglicher Gegenstände suchte und doch nur verzweifelt Du weißt schon, das Dingsbums mit den Zacken über die Lippen brachte, wenn sie den Kamm meinte.

Amnestische Aphasie oder die Unfähigkeit ein gesuchtes Wort zu finden. So stand es in der Äskulapschlange. Kein Wunder, dass Willi verstummt war.

Die Abdeckcreme fand sich ganz oben auf dem Stapel der verwaschenen Handtücher wieder, und während Emmi die verhassten Apfelbäckchen bleichte, grübelte sie darüber nach, wieso ihre Kinder, immer wenn sie versuchte, ihnen die Symptome ihres zerfallenden Gedächtnisses zu beschreiben, abrupt unterbrachen und ungeduldig behaupteten, ihnen erginge es genauso! In deren Alter! Und genervt hörten sie sich an. Nicht schon wieder, stöhnten sie wortlos durch den Telefonhörer, und es klang auch ungesagt laut genug. Und dann auch noch Alzheimer. Ach du meine Güte. Was will sie denn noch alles haben?

Hast du schon gehört, David, was sich Mutter nun schon wieder einredet? Alzheimer! Aber Christina und ich haben uns besprochen, und es scheint mir das Beste zu sein, wir ignorieren ihre ständigen Krankheiten. Die Ärmste wird wohl langsam etwas senil!

Aber wartet mal ab, dachte sie, wenn ich erst ein Pflegefall bin und mir dann einer von euch die Windeln wechseln und den Hintern abwischen soll, dann werdet ihr bereuen, mir nie richtig zugehört zu haben. Emmi wiegte einen Moment lang bedächtig den Kopf, dann schüttelte sie ihn energisch. Nein, im Ernstfall würde wohl keines ihrer Kinder auch nur in der Nähe sein, wenn sie tatsächlich einmal einen Hinternabwischer oder Windelwechsler benötigte. Die Wahrscheinlichkeit sprach da eher fürs Pflegeheim. Vielleicht sogar das Neue unten an der Leineaue, an dem sie erst vor wenigen Tagen mit dem Fahrrad vorbeigefahren war. Auf den Bänken im Garten hatten die gesessen, die noch sitzen konnten. Ein Verein zahnloser Alter mit dreirädrigen Gehstützen, die stumm und apathisch auf den letzten Halt des Fahrstuhls warteten und doch erst aussteigen durften, wenn ihre Ersparnisse verbraucht waren und auch die Kinder Konkurs angemeldet hatten. Emmi schüttelte sich. Grauslicher Gedanke. Wie zäh wohl die Zeit in einem Pflegeheim vertröpfeln mochte, wenn einem ungeduldige Teilzeitkräfte den Löffel in den Rachen stießen und mit dem umgebundenen Lätzchen die Milch vom Kinn rubbelten, und wenn nachts die Ränder der Gummiunterlage durch das Laken drückten. Mit etwas Pech geriet man ohnehin an einen dieser Pfleger-Schläger-Trupps, von denen das Fernsehen so oft berichtete. Dieselben, die später vor Gericht wegen unzumutbarer seelischer Belastung freigesprochen wurden.

Emmi schraubte die Tube der Abdeckcreme wieder zu und steckte sie gedankenverloren in den Leinenbeutel für getragene Nylons, der an einem Haken über dem Wäschekorb hing. Wo war der Kamm? Das Dingsbums mit den Zacken!

Wie lange es wohl dauern mochte zwischen den ersten ernsthaften Ausfallerscheinungen, wie der Brille in der Waschmaschine und dem vollständigen Persönlichkeitsverlust. Vier Jahre? Zwei? Ein paar Monate? Oder kam es schwuppdiwupp von heute auf morgen? Wie lange hatte es eigentlich bei Willi gedauert? Ich muss die Artikel noch einmal nachlesen, dachte sie, seufzte schwer und starrte stirnrunzelnd in den Spiegel. Sah so eine Frau aus, die schon bald nicht mehr wissen würde, dass ihr das Gesicht gehörte, das aus dem Spiegel zurückstarrte?

Alzheimersche Amnesie! Die Kunze aus der Kaiserstraße schwor auf Knoblauchdragees und stank auch danach. Aber mit der Einnahme hätte man wahrscheinlich schon vor zwanzig Jahren beginnen müssen. Obgleich damals ja noch alles in bester Ordnung gewesen war. - Nein, das war gelogen. Die Gesundheit, gut, aber alles war erst später in bester Ordnung gewesen, nach Hermanns Begräbnis und dann auch nur für wenige Jahre. Und die Erinnerung an die Ereignisse dieser Zeit, die kleinen wie die großen und die positiven wie die negativen, wurzelte so tief in ihrer Erinnerung, dass sich kein alzheimersches Protein auch nur in ihre Nähe wagte. Die Jahre zwischen ihrem siebenundfünfzigsten Geburtstag und dem unseligen Volkshochschulkurs Anfang der Achtziger.

Mein Gott, dachte sie, noch einmal siebenundfünfzig sein!

Das Ende der Sorgen, der Nörgeleien und versteckten Schnapsflaschen. Die Kinder endlich aus dem Haus, Hermann unter der Erde und nur hier und da ein paar normale Zipperlein.

Emmi lächelte ihr Spiegelbild an, und ihr Spiegelbild zwinkerte verschwörerisch zurück. Wie rücksichtsvoll von Hermann so plötzlich nach dem Auszug seiner jüngsten Tochter Christina ebenfalls auszuziehen. Gut, es wurde nicht eben ein stiller, unspektakulärer Auszug mit all dem Blut und den Polizisten, die durchs Haus trampelten, aber letztendlich doch ein sehr befriedigender, obgleich natürlich sie hinterher die Schweinerei wegwischen musste.

Emmi spitzte die Lippen, flocht die langen grauen Haare zu einem langen grauen Zopf, und drehte ihn am Hinterkopf zu einer Schnecke zusammen. Seit dem Tag ihrer Hochzeit morgen für morgen die gleichen Handbewegungen. Kämmen, flechten, drehen, feststecken. Und warum? Weil Hermann, dieser Schluckspecht, bei langen Haaren immer so einen Rührseligen und Seufzerischen bekommen hatte. Weil er ihr eigenhändig die Schnecke lösen und die Haare bürsten wollte, damals im Bett, wenn die Kinder schon schliefen. Mit langen, kräftigen Strichen, bis ihr eine schimmernde kastanienbraune Matte über Schultern und Rücken fiel. Jedenfalls in den ersten Jahren ihrer Ehe. Später, als sein Rührseliger nur noch vom Saufen kam, bürsteten manchmal die Kinder, vor allem David, aber das war nicht dasselbe. Und weil alle zusammen, ob mit oder ohne Schnaps, vor Schreck immer laut gebrüllt hatten, wenn sie nur in die Nähe einer Schere kam oder vor dem Schaufenster eines Friseurladens stehen blieb. Auch als Dauerwellen längst große Mode waren. Hermann hatte einmal sogar mit Scheidung gedroht, und das war erst später gewesen, als er schon längst nicht mehr zum Bürsten ins Bett kam.

Sie seufzte. Seltsam - wieso war sie eigentlich nicht gleich nach Hermanns Ableben zum Friseur gegangen? Gleich nach seinem schmählichen Tod – dem würdigen Ende seiner schmachvollen letzten Jahre mit all der Trinkerei, die ihm die Leber aufblähte und die ersten tiefen Furchen ins Gesicht grub. Armer Hermann, nun gab es für ihn keine Abende im Schuppen des Nachbargartens mehr, keine rote Lola mit ihrem trostbereiten Busen, keinen Schnaps mit seinen Kumpels und kein Bier. Höchstens Manna, wenn es denn auch in der Hölle Manna gab. Und für sie, Emmi, waren die Abende vorbei, in denen sie frustriert zu Hause hockte und mit selbst gestrickten Socken, die niemand tragen wollte, die Truhe auf dem Flur füllte.

„Daran gemessen war dein Ende noch viel zu harmlos“, sagte sie grimmig, und die Emmi im Spiegel nickte ebenso grimmig zurück. Der Pathologe hatte nach der Autopsie sogar seiner Vermutung Ausdruck verliehen, Hermanns Hirn müsse von all dem Schnaps in seinen Adern so vernebelt gewesen sein, dass ihm wahrscheinlich nicht einmal sein Sturz sonderlich aufgefallen war, wofür tatsächlich sein nur mäßig erstauntes an die Decke starren sprach, als er zum Abtransport bereit auf der Trage lag und sie ein letztes Mal das Laken lupfte, um Hermann noch stumm das eine oder andere mit auf den Weg zu geben. Obgleich es ja eigentlich keine Rolle spielte; was zählte, war lediglich das Ergebnis.

Wie bedröppelt doch die Teilnehmer des tödlichen Skatabends bei Hermanns Begräbnis abseits gestanden hatten. Der Meier aus der Weidenstraße mit seiner roten Knubbelnase. Und Jochen Taube, Hermanns bester Freund und von seiner Ilse in ein viel zu enges Nadelstreifenjackett gezwängt. Am offenen Grab sprang dann auch tatsächlich ein Knopf vom Jackett ab, verfehlte Pastor Münchebergs Schulter nur knapp, und klapperte stattdessen in der ehrfürchtigen Stille nach dem letzten Amen überlaut auf den Sargdeckel. Die Blum war vor lauter Schreck in den Knien eingeknickt und hatte sich am Griesgram, dem alten Brunner, anklammern müssen. Und während der Pastor und der Abgesandte des Beerdigungsunternehmens noch darüber flüsterten, ob es moralisch vertretbar sei, Knopf und Hermann zusammen zu begraben, prasselte bereits die Erde aus Emmis Händen auf das Holz. Nachdrücklich und endgültig.

Fritze Woitzack konnte natürlich nicht kommen, er lag ja damals selbst schon seit ein paar Jahren unter der Erde, und eigentlich hatte er sowieso nie richtig dazugehört. Aber seine Witwe kam, die rote Lola, und hakte sich heulend bei dem Meier unter, so als sei nicht Emmi Hermanns Witwe, sondern sie, die Lola. An ihrer Stelle, hatte Emmi wütend gedacht, würde ich mich zu Hause unter meinem Lotterbett verkriechen und mich in diesem Leben nicht mehr blicken lassen. Diese Schlampe; die doch nun wirklich an allem die Schuld trug. Auch an Hermanns Tod. Stattdessen schniefte sie an Meiers Arm und schien willens, Hermann und Knopf in die Grube zu folgen, was den knubbelnasigen Meier noch nervöser machte und ihn veranlasste, Hilfe suchende Blicke in die Runde zu werfen.

Eine Woche nach der Beerdigung stempelte die Koppstedter Polizei Hermanns Akte endlich mit dem überdimensionalen Schriftzug UNFALL und schickte Emmi eine Kopie des amtlichen Protokolls zu. Sie steckte in der grünen Geldkassette ganz unten im Wollkorb, zwischen den Geburtsurkunden der Kinder und der Police über die Hausratsversicherung, und an den wenigen melancholischen Tagen, wenn sie nahe daran war, in vergesslicher Sehnsucht nach Hermann die Sockenwolle aus dem Korb zu kramen, meist so um Ostern oder Weihnachten herum, zwang sich Emmi das Unfallprotokoll zu lesen, was ihren Rührseligen in der Regel schleunigst in die Flucht schlug.

Die Fakten waren spärlich. Genau genommen gab es nur zwei belegbare Tatsachen. Erstens verließ Hermann gegen drei Uhr morgens in betrunkenem Zustand den Schuppen der Lola Woitzack, von allen lautstark verabschiedet, und zweitens stürzte er sich wenig später zu Tode. Und es gab die Aussage des alten Brunner, der in jener Nacht magengeplagt aus seinem Fenster stöhnte und grimmig zu Protokoll gab, Hermann habe, nachdem Jochen Taube und Hubert Meier längst nach Hause getorkelt waren, sich noch minutenlang mit einer flackernden Straßenlaterne unterhalten. Was er sagte, ließ sich nicht mehr ermitteln, weil der Brunner über seinem eigenen Stöhnen das heisere Geflüster nicht verstehen konnte. Es habe jedoch so ausgesehen, als seien beide, die Laterne und Hermann, in Streit geraten und außerdem habe er, Brunner, deutlich ein Knacken gehört, als Hermann dem streitlustigen Laternenpfahl einen Faustschlag versetzte, bevor er jammernd in der Dunkelheit verschwand. Tatsächlich diagnostizierte der Pathologe später einen angeknacksten Fingerknöchel an der rechten Hand.

So weit die peinlichen Fakten. Was weiterhin geschah, oblag der Spekulation, wenngleich einer sehr naheliegenden. So kam die Polizei zu dem Ergebnis, dass Hermann das Haus wahrscheinlich durch die Kellertür betrat, was er meistens tat, da er es nach den Skatabenden selten schaffte, die Vordertür aufzuschließen. Ab einem bestimmten Schnapspensum, so schien es Emmi zumindest, wurde das Schlüsselloch tückisch und wich dem Schlüssel nach allen Seiten aus. Also ließ Hermann, über die Jahre klug geworden, meist die Kellertür offen. Weiterhin vermutete die Polizei, dass er es irgendwie schaffte, durch den hinteren Kellerraum in den vorderen zu torkeln, was unbestreitbar war, weil er dort gelegen hatte, und sich dann die steinerne Treppe zum Esszimmer hochzuhangeln, was ebenso unbestreitbar war, weil er von oben wieder heruntergefallen sein musste. Der Bericht sprach sich dafür aus, Hermann sei just in dem Moment gefallen, in dem er eine Hand vom Geländer löste, um nach der Klinke der Esszimmertür zu greifen.

Emmi fletschte die Zähne und stupste mit der Nase beinahe an den Spiegel. War das Schwarze da unten am Zahnhals Karies? Sie griff nach der dicken Stopfnadel, die für die Fälle bereitlag, in denen die Munddusche versagte. - Nein, kein Karies. Nur ein Mohnkörnchen vom vorabendlichen Brötchen.

Es war wahrlich ein gruseliger Anblick gewesen, als sie Hermann am nächsten Morgen so verrenkt und in dieser gewaltigen Blutlache vor der Gefriertruhe fand. Mit einem Loch im Schädel, in dem gut und gern ihre ganze Faust Platz gefunden hätte - jedenfalls schien es ihr in der Erinnerung so groß, und genau genommen wuchs es sogar noch von Jahr zu Jahr. Und an der rechten oberen Ecke der Truhe klebte geronnenes Blut und noch etwas anderes, etwas Graues, das sie erst später und dann auch nur mit geschlossenen Augen abwischte. Erst einmal hatte sie zu Hermanns Füßen auf der untersten Treppenstufe gehockt und vor der Wucht des Todes ehrfürchtig mit den Zähnen geklappert, bevor sie, immer noch klappernd, in der Lage gewesen war, ins Nachbarhaus zu gehen, um die Taube zu holen. Jochen hatte sich nicht wecken lassen wollen, er kämpfte noch röchelnd mit dem Schnaps. Und die olle Taube stand kopfschüttelnd vor Hermanns Leiche und sagte in ihrer unnachahmlichen Art: „Sie, da müssen Sie man aber gleich die Sanitäter holen, auch wenn er wohl hin is’, der Suffkopp.“

Nach Aussage des von der Polizei beorderten Pathologen war Hermann Nichterlein, von pyknischer Konstitution, mit 3,2 Promille Alkohol im Blut infolge lokomotorischer Ataxie rücklings die Treppe hinuntergestürzt, für ihn, den Pathologen wenig verwunderlich, was zu ... Hier folgten eine Menge weiterer medizinischer Fachausdrücke, die Emmi mühsam hatte nachschlagen müssen, bevor sie herausfand, dass sich auf der Treppe ganz offensichtlich infolge des Suffs Hermanns Beine verheddert haben mussten, sodass er das Gleichgewicht verlor, rücklings die Treppe hinunterstürzte und sich an der Kante der Gefriertruhe den Kopf einschlug. Es verdross Emmi gewaltig, dass sie zum Übersetzten der medizinischen Hieroglyphen zwei Stunden gebraucht hatte, nur um das doch wirklich Offensichtliche bestätigt zu sehen. Und es verdross sie noch mehr, dass sie wegen einiger Wissenslücken ihres Lexikons nicht herausfinden konnte, ob Hermann eigentlich unmittelbar nach dem Aufprall an der Kante der Gefriertruhe gestorben war, oder erst später in der Nacht verblutete. Der Pathologe äußerte sich nur sehr schwammig darüber, vertrat jedoch mit Nachdruck die These, alles zu wissen, sei mitunter nur schädlich, und angesichts des eindeutigen Ergebnisses spiele dieser Punkt doch ohnehin keine Rolle mehr. Womit er ja eigentlich recht hatte.

Das fand Emmi schließlich auch, als sie nach der Obduktion ins Göttinger Klinikum fuhr - in Koppstedt gab es kein Krankenhaus - und einen Strauß roter Tulpen auf das weiße Laken legte, das ihren obduzierten Hermann zwar gnädig verbarg, ihre Fantasie jedoch über Gebühr erregte. Denn da, wo sie sein Gesicht vermutete, am Kopfende der Bahre, zeichneten sich lediglich die Konturen einer langen Nase erkennbar unter dem Tuch ab, während sich der Stoff im Bereich der Wangen, Augen und Lippen ebenso gleichmäßig wölbte wie über dem restlichen Körper. Außerdem schien die Gestalt viel kleiner zu sein als Hermanns. Lag da überhaupt ein Mensch unter dem Laken? Oder nur etwas Aufblasbares aus Gummi mit einer angeklebten Nase, das sie immer für derartige Abschiedszwecke benutzten? Konnte es sein, dass Hermanns Leiche längst in der Anatomie der medizinischen Fakultät der Universität gelandet war und der geschäftstüchtige Krankenhauspathologe zufrieden auf seine Brieftasche klopfte? Rissen sich in diesem Moment bereits die ersten Studenten um seine Arme und Beine? Und wer bekam wohl den Kopf? Der Primus oder der Herr Professor persönlich? Das alles war ihr in den Minuten dieses seltsamen Abschiedes durch den Kopf gegangen, und sie hatte sich tatsächlich beunruhigt gefühlt. Heute konnte sie über ihre kleinlichen Bedenken nur lächeln.

„Früher oder später wäre er ohnehin gestorben“, nuschelte der Pathologe nervös, schob sich zwischen sie und die Bahre und weigerte sich nachdrücklich, auch nur einen Fuß von dem Ding unter dem Laken aufzudecken, was ihre düsteren Befürchtungen noch verstärkte. „Fortgeschrittene Leberzirrhose! Äh ... wirklich wunderschöne Tulpen, die sie da mitgebracht haben.“

Hermann hatte Tulpen gehasst.

Emmi seufzte schwer und steckte sich zwei Haarklemmen hinter die Ohren. Der Strauß roter Tulpen war wirklich gemein gewesen. Damals, an dem Bett mit der spitzen Nase unter dem Laken - wem auch immer sie gehört haben mochte - da brach sie bei der Nachricht von Hermanns Leberzirrhose dann doch noch in Tränen aus und musste sich vom Pathologen ein Taschentuch leihen. Die plötzliche Erkenntnis, Hermanns tödlicher Sturz habe sie vor einem sabbernden Ehemann bewahrt, der auf der Suche nach Alkohol mit tropfender Unterlippe auf allen vieren durchs Haus krabbelte, krachte in ihre Fassung wie die Abrissbirne in eine Hausfassade. Mein Gott, was für eine grauenvolle Vorstellung!

Nein, Hermann, keinen einzigen Schluck Alkohol mehr, hat der Doktor gesagt. Nein, auch keine Schnapspraline. NEIN HERMANN!!! Und hör sofort auf, mir die Füße zu lecken.

Vor lauter Dankbarkeit hatte sie wegen der Tulpen bitterlich geweint.

Aber nicht lange. Mit Christinas Umzug nach Göttingen und Hermanns Umzug auf den Koppstedter Waldfriedhof - falls denn tatsächlich Hermann in dem Sarg lag und keine Gummipuppe - brach ein neuer, ein herrlicher Lebensabschnitt an. Der berühmte Silberstreif am Horizont blitzte verlockend. Aufstehen ohne Hermanns röchelndes Schnarchen neben sich - sein Alkoholspiegel rutschte meist erst gegen Mittag auf ein für alle erträgliches Maß ab - keine Meckereien der Kinder am Frühstückstisch („Wieso ist keine Orangenmarmelade da?“ „Käse? Nein danke, mir ist schon schlecht!“). Dafür einen zweiten Stuhl, um die Beine hochzulegen, das Marktblättchen mit den Wochenangeboten neben der Kaffeetasse, die Glanzpapierprospekte des Bauer’schen Kaufhauses und natürlich Hermanns geheiligten Anzeiger für‘s Koppstedter Land. Ein Ei, ein Brötchen mit Käse, vielleicht noch eins mit Schinken und jede Menge Zeit. Zum Mittagessen gab es ‚Himmel und Erde‘ („Schnell Hermann, Julia spuckt schon wieder!“), Puffer und Pfannkuchen (Stefan vertrug kein Fett und David keine Eier), Steckrüben („Mein Gott, Emmi, der Krieg ist vorbei!“) und Milchreis mit Zimt und Zucker („Hör auf der Stelle auf, diese unanständigen Geräusche zu machen, Christina!“).

Emmi leckte die Kuppe ihres Zeigefingers an und schob die Augenbrauen in Form. Eigentlich wiesen sie immer noch eine schöne Rundung auf, wenngleich die Brauen, wie alle haarigen Stellen ihres Körpers, im Laufe der Jahrzehnte merklich ausgedünnt waren. Aber immerhin, die Blum vom Ende der Sackgasse war sogar vollständig kahl über den Augen, und diese zwei dicken schwarzen Striche, verzweifelt in die Stirn gemalt, sahen wirklich abstoßend aus. Ganz zu schweigen von der billigen blonden Perücke auf der Glatze und diesen furchtbar aufgeschwollenen Lippen. Die olle Taube behauptete ja, die Blum habe sich auf Mallorca was beim Baden geholt. Fest stand nur, dass sie eines Tages glatzköpfig und dicklippig aus dem Urlaub zurückkam und seitdem fast so grimmig guckte wie ihr Nachbar, der magenkranke Brunner.

Ich sollte sie mir doch endlich abschneiden lassen, dachte sie und drehte den Kopf, um die trotz Ausdünnung doch noch recht stattliche graue Schnecke kritisch zu beäugen. Obgleich Dutts, in welcher Form auch immer, ja schon wieder als schick galten. Jedenfalls für die Jungschen. Das fortschrittliche Alter trug praktische Windstoßfrisuren, die rückständige Jugend Dutts und sogar Ohrschnecken. Die mit dem Ökotick waren die Schlimmsten. Sie verschandelten sich darüber hinaus noch mit diesen hässlichen dicken schwarzen Strümpfen, in denen vor dem Krieg und der Nylonära alle herumgelaufen waren. Schwarze Strümpfe und flache Gesundheitstreter, die zwei Nummern zu groß waren. Kein Wunder, dass die Zahl der lebenslangen Singles anstieg.

Selbst Julia, ihre Älteste, ließ sich mit zweiundvierzig Jahren die strähnigen Haare wachsen und drehte sie zu abenteuerlichen Gebilden auf dem Kopf zusammen. Dazu trug sie vorzugsweise – nach einer langen Lila-Latzhosen-Phase - blaue Arbeitsoveralls und Schnürstiefel mit dicken Sohlen. Scheußlich, aber dieser Bauerntölpel Rupert ließ sich trotzdem nicht davon abhalten, sie immer wieder zu schwängern. Christina, ihre jüngere Schwester, steckte mit grünen Haaren und orangefarbenen Kutten gerade in der Phase schriller Bettelmönch. Nur David trug nach wie vor unauffällig Konservatives. Zur Arbeit und in festlichen Momenten dunkelgraue Sakkos mit hellgrauen Hosen oder hellbraune Sakkos mit dunkelbraunen Hosen, passenden Socken und gewienerten Schuhen und in seiner Freizeit ab und an kariert.

Sollten sie rumlaufen. wie sie wollten, ihr konnte es piepegal sein.

Sie nickte energisch und verzog das Gesicht. Die fusseligen Nackenhärchen in der geflochtenen Schnecke ziepten.

Nur, dass es den Kindern nicht piepegal war, wie sie sich kleidete. Sie mäkelten, wo sie nur konnten, und ihr Mäkeln nahm von Jahr zu Jahr zu.

Mein Gott Mutter, du läufst herum wie Puttchen Brammel aus Koppstedt, mäkelte Christina und zupfte an ihrer orangefarbenen Kutte. Immer nur braun und grau. Oder dunkelblau. Wie wär’s denn mal mit pink oder gelb?

Verzeih, wenn ich dir das sage, aber deine Schuhe sind staubig, mäkelte David höflich.

Du willst dir die schönen Haare abschneiden lassen?, kreischte Julia entsetzt. Bist du denn ganz von Sinnen? Sieh doch mal in den Spiegel, wie niedlich das aussieht. Wie eine Bilderbuchoma, mit der Schnecke und den kleinen widerspenstigen Löckchen in der Stirn, und wenn du noch ein paar Jahre wartest, wirst du ein wunderschönes Silberweiß haben.

Pah! Eine Bilderbuchoma für wen? Wie oft im Jahr sahen die Enkel sie denn schon? An den Geburtstagen oder zu Weihnachten. In den Ferien fuhren sie zu der Oma mit dem Swimmingpool, nannten sie Großmutter, weil ihr Oma zu plebejisch war und ließen sich von diesen aufgedonnerten Schnepfen Fünfeuroscheine in die Hand drücken, da unten in dem Bungalow-Park für betuchte Senioren. Die Bestechlichkeit der Welt machte eben nicht einmal mehr vor Kindern halt. Schon gar nicht vor Julias verzogenen Gören. Obgleich sich die Zweckmäßigkeit bestechlicher Enkel durchaus nutzen ließ, wie Emmi aus Erfahrung wusste.

Jedenfalls benahmen sich die Enkel ihr gegenüber nicht gerade wie zu einer in Ehren ergrauten Bilderbuchoma. Meistens gaben sie sich so rotzfrech, dass Emmi befürchtete, die zunehmende Respektlosigkeit ihrer eigenen Kinder färbe nur allzu schnell auf die nachkommenden Generationen ab. Und warum? Weil ihnen die feste Hand fehlte. Kindern mussten Grenzen gesetzt werden. Ihre eigene Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, die hätte sich kein Du tickst ja nicht mehr richtig von ihr gefallen lassen ohne Backpfeife und Seifenlappen. Mit ausdrücklicher Zustimmung der Eltern, versteht sich. Aber heutzutage? Ein böser Blick und die Enkelkinder mussten jahrelang therapiert werden. Wohin sollte das noch führen?

„Abschneiden!“, sagte sie entschieden und zupfte die Nackenhärchen aus dem Dutt.

Ob Stefans zwei Söhne auch so frech waren? Auf den Fotos sahen sie eigentlich ganz lieb aus, vor allem auf dem Letzten, wo sie da am Strand standen, mit diesen ... diesen ... komischen Brettern im Arm, mit denen sich die Leute im Fernsehen in die Brandung stürzten. Beide Jungs von der Sonne goldgelb gebacken und mit wirren nassen Wuschelköpfen. Aber Australien war so weit entfernt. Kevin und Bart kümmerte es sicherlich wenig, ob sich ihre Grandma auf der anderen Seite der Erdkugel morgens die Glatze polierte oder die knöchellangen Haare flocht, sie kannten sie ja nicht einmal persönlich und schrieben nur zu ihrem Geburtstag nichtssagende Briefchen.

Und Hermann dürfte über Modefragen auch längst hinaus sein. In der Äskulapschlange las sie Monate nach seinem Begräbnis, Haare und Fingernägel wüchsen bei einem Toten weiter, und eine Zeit lang versuchte sie, sich Hermann als Struwwelpeter vorzustellen. Kein Fleisch auf den Knochen aber Haare bis zu den Hüften und Fußnägel, die sich durch das Holz des Sarges in die Erde bohrten.

„,Scheußlich“, murmelte sie voll Abscheu und zupfte die grauen Stirnlöckchen zurecht. „Bis die mal weiß werden, bin ich ebenfalls unter der Erde.“ Die Ratten, die im Krieg durch die Luftschutzkeller huschten und auf Trümmergrundstücken nach Leichen scharrten, die hatten eine ähnliche Farbe gehabt, vor allem die alten. Rattengrau - pfui Deibel! Die Sauerbach färbte sich die Haare schon seit Langem kastanienbraun und es sah nicht einmal schlecht aus. Sogar bei ihrem komischen Topfschnitt.

Die große Standuhr im Wohnzimmer schlug Viertel nach acht. Tempus fugit stand in Schnörkelschrift auf dem Zifferblatt. Die Zeit vergeht. Und mit ihr war der dicke rehbraune Zopf merklich ausgedünnt und ergraut, hässliche Altersflecken krochen von den Handrücken hinterlistig die Arme hinauf, das Kinn verdoppelte sich, und die Taille dehnte sich ungeniert aus.

Emmi zog den Bauch ein und ruckelte an dem Rockbündchen, bis der Reißverschluss hinten saß. Früher, in der schlechten Zeit nach dem Krieg, bevor David und Stefan, ihre beiden Ältesten, zur Welt kamen, da hatte Hermann immer voll Stolz ihre Taille mit seinen großen Händen umspannt und vor seinen Kumpels mit ihren Maßen geprahlt.

Das war lange vorbei. Die Erinnerung an diese ersten Jahre mit Hermann verblasste ebenso wie die gepressten Rosenblätter in Rilkes Cornet, von denen er bis zuletzt glaubte, es seien die Überbleibsel derselben Rose, die er bei seinem reichlich profanen Heiratsantrag übereichte. Weißt du, wo du doch schon mal schwanger bist, da könnten wir doch genauso gut ... Seinem Ego jedoch hatte es zeitlebens mächtig geschmeichelt, dass sie die Rosenblätter so sorgsam aufbewahrte und ab und an sogar wehmütig betrachtete. In Wirklichkeit waren sie wie der Cornet ein Andenken an ihre erste große Liebe Cord. Baron Cord von Herkenstein. Was für ein Mann! Er sah aus wie Errol Flynn und sprach wie Johannes Heesters. Ein Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle und immer schnieke, selbst in den wirren Kriegsjahren. Er brauchte wegen eines nervösen Leidens nicht an die Front und starb 1948 in Koppstedt an dem gezielten Huftritt eines Ackergaules.

Die Rose war eine von den drei langstieligen roten Rosen, die man Cord so stilvoll zwischen die kalten Finger geklemmt hatte, damals in seinem offenen Sarg in der Kapelle. Als man ihn schließlich in die Gruft hinuntertrug, umklammerte er nur noch eine, und Emmi rätselte mitunter noch heute über den Verbleib der zweiten Rose nach, wenngleich sie einen bestimmten Verdacht hegte.

Sie hielt inne und blickte versonnen ihr Spiegelbild an. Wie wohl ihr Leben an der Seite von Cord verlaufen wäre, wenn er sie denn gefragt hätte und wenn der hinterhältige Gaul nicht gewesen wäre. Kein hellhöriges Reihenhaus, sondern ein gepflegter Gutshof außerhalb der Stadt inmitten einer Parkanlage mit beschnittenen Buchsbäumen, bunt schillernden Pfauen und stolz wiehernden Hengsten. Keine abendlichen Saufgelage mit Bier und Schnaps, sondern das dezente Klirren von bauchigen Kristallgläsern, in denen der Wein im Kerzenschein blutrot glühte.

Nein!

„Saufen ist saufen“, sagte Emmi energisch und zwang sich an die glücklichen Jahre nach Hermanns Tod zu denken, während sie auf der Suche nach dem Lippenstift widerstrebend den Alibert ausräumte.

Im ersten Frühjahr hatte sie sich auf den kleinen Garten hinter dem Haus gestürzt und endlich einen Steingarten angelegt. Hermann hasste Steingärten. Sie pflanzte Goldkamille und rote Grasnelken, Storchschnabel und Sonnenröschen, Mauerpfeffer und Thymian, und konnte sie sich kaum sattsehen an der blühenden Pracht aus ihren eigenen Händen.

Sie fand Gefallen daran, über das rekonstruierte mittelalterliche Kopfsteinpflaster der Koppstedter Fußgängerzone zu stolpern, das Ergebnis einer unseligen Restaurierungsphase Anfang der neunziger, als historisch Radikale ernsthaft forderten, die Wasserversorgung in der Innenstadt wieder auf Ziehbrunnen umzustellen; sie liebte es, sich träge vom Touristenstrom an den bunten Holzeierständen vorübertreiben zu lassen, im Sommer Eis zu löffeln, im Winter im Museumskaffee heiße Schokolade zu schlürfen und einfach nur das bunte Treiben zu beobachten. Und in der Bücherei suchte ihr die nette Bibliothekarin historische Romane aus den Regalen. Moderne Familiengeschichten mochte sie in jener Zeit nicht, nur die, in denen fellbekleidete Urzeitmenschen keulenschwingend durch die Historie marschierten und ums Überleben kämpften. Oder Planwagentrecks durch die Weiten des Wilden Westens zogen und den Widrigkeiten des rauen Lebens trotzten. Das passte zu ihrer eigenen Aufbruchstimmung.

An den Abenden dann häkelte und strickte sie sich nach Tagesschau durch den Spielfilm, las bis weit nach Mitternacht und stopfte, Hermann ab und an eine grimmige Grimasse schneidend, Unmengen von Negerküssen in sich hinein. Manchmal kramte sie auch die Puzzle der Kinder wieder heraus und träumte sich unter die mühselig zusammengesetzten Palmen. Emmi lächelte. Was für eine wunderschöne Zeit! Friedvolle Wochen, Monate und Jahre, nur unterbrochen von den sonntäglichen Anrufen ihrer Sprösslinge, die damals noch fröhlich und unbeschwert klangen und voll kindlichem Eifer von ihren Unternehmungen berichteten. Davids plötzlicher Wechsel aus dem Natur- und Grünflächenamt zur Streifenpolizei, der erste Schlagstockeinsatz gegen aufmüpfige Gastarbeiter, sein erster Krankenhausaufenthalt, Julias Plan mit ihrem Ökobauern eine Fußballmannschaft zu zeugen, Christinas Engagement in der AKW-Nein-Bewegung und ihr erster umgekippter Güterwaggon auf dem Göttinger Bahnhof, der sie für vierundzwanzig Stunden in Untersuchungshaft brachte.

„Hallo, Mama, du sollst als Erste erfahren, dass ich schwanger bin. Na ja, nach Rupert natürlich.“ - „Hast du mein Bild nicht in der Zeitung gesehen, Mutti? Ich bin die ganz oben auf dem Castor-Behälter. Wow, ich sage dir, das war irre!“ - „Nein, Mama, wirklich nichts Ernstes. Nur fünf Stiche am Kopf und ein paar Brandwunden vom Molotowcocktail. Aber glaub‘ mir ruhig, diesem Pack haben wir es ordentlich gegeben.“

Und in ihrem Eifer überschlugen sie sich geradezu in ihrer Fürsorge um sie selbst. „Geht’s dir wirklich gut?“ „Also, meiner Meinung nach solltest du doch mal zum Arzt gehen!“ „Mit so einer Erkältung ist nicht zu spaßen, Mama.“ „Also, David sagt auch ...“ „Vielleicht komm ich ja mal am Wochenende vorbei!“ „Die selbst gehäkelten Hausschuhe sind klasse - äh - ehrlich!“

Emmi zog sich die Lippen in einem dezenten Altrosa nach. Wie spröde sie waren. Der Kühne, dieser Scharlatan, behauptete natürlich, sie würde zu wenig trinken und außerdem neige ihre Haut ohnehin zu pathologischer Trockenheit. So ein Unsinn. Keine geborene Rieffenbach neigte jemals zu pathologischer Trockenheit. Sie runzelte verärgert die Stirn, und das ganze Gesicht runzelte sich mit.

Ob sie sich damals wirklich zu passiv verhielt, als sie die Kinder am Telefon einfach reden ließ, um ihres eigenen Seelenfriedens willen, und über den hanebüchenen Unsinn nur stumm den Kopf schüttelte. Julia hielt ihr sogar heute noch die fehlende mütterliche Unterstützung vor. Aber was um Himmels willen hätte sie sagen können? Aber ja, liebe Julia, in der heutigen Zeit gibt es nichts Schöneres, als elf arbeitslose Söhne und Töchter durchs Leben zu schleppen. Meinst du nicht, liebe Christina, es sei weit wirkungsvoller sich in einen Castor-Behälter zu setzen als nur oben drauf? Mein lieber Junge, du solltest nicht nur diese aufmüpfigen Gastarbeiter niederknüppeln, sondern alle Ausländer. - O nein, die Kinder mussten lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, und wenn sie deshalb aus Enttäuschung über ihre Zurückhaltung seltener anriefen, bitte schön, sie konnte damit leben. Die Ausreden, zu denen ihr schlechtes Gewissen sie trotz allem zwang, waren natürlich albern.

„Entschuldige, ich wollte ja schon vor vier Wochen anrufen, aber erst war unser Telefon kaputt - es kam einfach kein Freizeichen, weißt du - und als das Telefon endlich wieder funktionierte, also das glaubst du nie, da biss doch das Meerschweinchen die Schnur durch ... Ist das nicht ulkig?“

Sehr ulkig! Pubertäre Rückfälle mit einem Hang zu ausschweifender Fantasie und die aggressive Reaktion auf ihre vorsichtigen Fragen ein klarer Ausdruck ihres schlechten Gewissens.

„Mein Gott, Mutter, ich habe nicht gesagt, Alice habe abgetrieben, sondern nur, dass wir beide vorerst keine Kinder wollen.“ „Nein, Raoul hat Durchfall und keine Würmer und wir haben auch keine Kräuterfrau geholt, sondern einen approbierten Arzt!“ „Ach du große Neune, das hast du ganz falsch verstanden, eine Wünschelrute ist nicht dasselbe wie ein Dildo.“

Kinder!

Und Ende der Achtziger schummelte sich zu allem Überfluss neben aggressiver Ungeduld und weinerlichem Vorwurf ein neuer Ton ein. Eindringliche Beschwörung, die schon fast an Panik grenzte.

„Hör zu, du bist schon über sechzig, da kannst du doch nicht einfach so in den Tag hineinleben!“ „Warum gehst du nicht öfter mal weg, ins Theater oder so?“ „Es werden doch so viele Butterfahrten angeboten, warum meldest du dich da nicht an?“ „Mein Gott, Mutter, entschuldige, wenn ich dir das sagen muss, aber solltest du deinem Leben nicht einen neuen Sinn geben?“ „Es ist doch nur, weil wir uns um dich sorgen!“

Emmi wischte sich den Lippenstift vom Kinn und verzog das Gesicht. Für wen schminkte sie sich eigentlich? Es kam ja doch keiner.

Nicht so wie am ersten Weihnachtsabend zur Dekadenwende, als sie niemanden erwartete, weil alle bereits im November ihre Ausreden parat hielten, und schon bettbereit, im Morgenmantel und mit offenen Haaren die Haustür öffnete, während auf dem Tischchen neben Hermanns Lieblingssessel ein letzter Becher Tee dampfte und das Weihnachtsrätsel des Anzeigers wartete. Da standen sie, Julia, Christina und David, und ihre Züge entgleisten förmlich bei ihrem Anblick. Sie schafften es gerade noch im Chor, ein einstudiertes Überraschung zu krächzen, dann drängten sie sich schon peinlich berührt an ihr vorbei in den Flur, und als sich bei Meiers gegenüber die Terrassentür öffnete, wurde sie hastig von der Türschwelle gezerrt. Als sie ihnen zehn Minuten später mit Kleid und Dutt erneut gegenübertrat, fläzte sich David in ihrem Sessel, Christina nippte an ihrem Tee, und Julia zupfte an einem mitgebrachten Weihnachtsstern herum, dessen feuchter, erdiger Topf die Rätselseite des Anzeigers braun färbte.

Es war dann doch noch ganz nett geworden. Christina schmückte die Hauspalme mit Lametta, Julia spielte auf einer Blockflöte O du fröhliche, David brummte Unverständliches dazu, Emmi nestelte hastig Hunderter in Briefumschläge - und bekam - welch Wunder - in einem Moment schweigender Ergriffenheit ihrer Kinder ebenfalls einen Briefumschlag in die Hand gedrückt. Ohne Geldschein zwar, aber mit der Anmeldebestätigung für einen Volkshochschulkurs: Wie ich meinen Lebensabend sinnvoll gestalte. 30% Seniorenermäßigung.

„Aufsprengen der Isolation“, hatte Christina, die gerade mit dem Gedanken spielte, ihr Amerikanistik-Studium gegen Psychologie einzutauschen, David ins Ohr geflüstert und ihren Hunderter im Strumpf verschwinden lassen. „Ab einem gewissen Alter schaffen’s die Leute nicht mehr selbst, und wenn man sie drin lässt – pathologische Fälle!“

„Ich hätte ihr gleich eine scheuern sollen“, murmelte Emmi wütend und setzte sich auf den Toilettendeckel, um die Nylonsocken überzustreifen.

Aber eine gewisse Rührung und die, wenn auch erst verspätete Freude über diesen unerwarteten Weihnachtsabend im Kreis ihrer Kinder überwogen an jenem Tag ihren Ärger, und sie hatte sich taub gestellt und Anfang Januar mit dreißig unglücklich dreinblickenden Senioren in einem stickigen Klassenraum des Koppstedter Mädchenlyzeums wiedergefunden, wo ein spitzbärtiger Medizinstudent breitbeinig auf dem Lehrerpult hockte, den langen knochigen Oberkörper wohlwollend der Klasse zugeneigt, und mit gewichtig tremolierender Stimme fragte: Warum altern wir? Nach zweimal fünfundvierzig Minuten einseitigen Philosophierens, lediglich von einer fünfminütigen Verschnaufpause unterbrochen, entschied er sich vor einer mühsam die Augen offen haltenden Klasse für die Schicksalstheorie, handelte in der zweiten Woche die psychosozialen Gefahren des Alterns ab, als da seien Verwahrlosung, zunehmende Suizidgefahr und Depressivität infolge selbst gewählter Isolation und pries mit warmen Worten Volkshochschulkurse an.

Mein Gott, sie ging ja damals auch nur zu den Abenden, um die Kinder nicht zu enttäuschen, denn der Sinn ihres Lebens war ihr mitnichten abhanden gekommen nach Hermanns Tod. Im Gegenteil, zum ersten Mal seit Langem genoss sie doch die Tage vom morgendlichen Erwachen bis hin zur abendlichen Lesestunde im Bett und fühlte sich rundherum wohl. Jedenfalls bis zu jenem denkwürdigen Abend, an dem der Spitzbart, in leichter Abwandlung seines Kursthemas, damit begann, nach den psychosozialen nun auch die medizinischen Gefahren des Alterns aufzuzählen. Im Verlauf der folgenden sechzehn Doppelstunden schlich sich nicht nur bei Emmi der Virus der Erkenntnis ein, an weit mehr als den üblichen Zipperlein zu leiden. Während sie alles über Altersdiabetes, Lungenemphysem, degenerativen Veränderungen am Stütz- und Bewegungsapparat, Arteriosklerose, Zerebralsklerose, Koronarsklerose, Nephrosklerose, Raucherbeine, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Gicht und Emphysembronchitis lernten, neigte der Ausdruck auf den Gesichtern der Kursteilnehmer mehr und mehr zu spontaner Verschrecktheit. In den Pausen begann sich die Gruppe, krankheitlich vorsichtig abzutasten und mit zunehmendem Mut gar zu überbieten. Am Ende des Kurses gab es einschließlich Emmi keinen Kursteilnehmer mehr, der sich guten Gewissens gesund nennen durfte, und die letzte Kursstunde diente denn auch der kritischen Aburteilung Koppstedter Arztpraxen aufgrund einer Werteskala von eins bis zehn. Dann verabschiedete sich der weise Medizinstudent mit den unheilschwangeren Worten Nascentes morimur – Kaum geboren sterben wir - und sie schüttelten ihren Banknachbarn die schweißigen Hände, blickten sich gegenseitig in ihre schicksalsergebenen Gesichter und schlurften von der Last ihrer Jahre gebeugt nach Hause.

Emmi schüttelte den Kopf. Ob alle Teilnehmer des Kurses noch lebten? Der spitzbärtige Medizinstudent war jedenfalls zwei Wochen später im Fernsehen gewesen. Na ja, eigentlich nur sein Auto auf der Allee zwischen Koppstedt und Göttingen. Ein zerknäuelter rauchender Blechhaufen an einer unbeteiligt wirkenden Platane. Nascentes morimur.

Sie konnte sich noch daran erinnern, dass schon während des Kursus die ersten Schlafstörungen und Verdauungsprobleme auftraten, im rechten Ohr plötzlich ein Tinnitus pfiff, und Christina sagte, ihre Seele fände keine rechte Balance mehr zwischen Yin und Yang. Es half auch nichts, Kalorientabellen und Klosterfrau Melissengeist zu kaufen, vom Schwein die Schwarte zu schneiden und rohe Mohrrüben zu mümmeln, bis sie glaubte, ein Kaninchen zu sein. Und die Kinder begannen am Telefon zunehmend verhaltener zu reagieren, wenn sie versuchte, ihnen diesen seltsamen Dauerton zu erklären, der ihr rechtes Trommelfell in Schwingungen versetzte, und als David überraschend vorbeikam („Nach dem Rechten sehen wollte“, wie er verlegen murmelte), brachte er auch für ihre Verdauungsprobleme nicht das rechte Verständnis auf.

„Wie wär’s denn mit einem Volkshochschulkurs über Handarbeiten?“, fragte er hoffnungsvoll, bevor er wieder nach Frankfurt zurück düste.

Und sie? Sie saß damals lange Abende ergeben im Wohnzimmer, dachte über das Phänomen nach, noch ein halbes Jahr zuvor beschwerdefrei gewesen zu sein, während es in ihrem Ohr ununterbrochen rauschte und bimmelte und beschloss, einen Arzt zu konsultieren. So machte sie die Bekanntschaft von Doktor Kühne, weil der Frisch bereits am Schlag verstorben war. Treten Sie einem Chor bei, Frau Nichterlein. Dann hören Sie den Tinnitus nicht mehr! Was für ein Dämlack. Wo doch die Rieffenbachs so unmusikalisch krächzten wie ein Rudel heiserer Raben und auch sonst eine gewisse Distanz zu den schönen Künsten hielten. Mit Ausnahme vielleicht von Uronkel Heinrich, dem bei genauerer Betrachtung ein verhaltenes Maß an künstlerischer Begabung nicht abzusprechen war. Es gab da eine fast vergilbte Daguerreotypie, die ihn am Ostseestrand von Heringsdorf vor einer Sandburg zeigte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Neuschwanstein besaß.

Emmi lächelte in Erinnerung. Jedes Rieffenbach’sche Kind war mit Uronkel-Heinrich-Geschichten aufgewachsen. Wie er als Junge in Garmisch-Partenkirchen versuchte, den Wetterhahn von der Kirchturmspitze zu stibitzen und von der Bergwacht gerettet werden musste, wie er während seiner Marburger Studienzeit mit einer selbst gebastelten Rakete versehentlich den hoffnungsvollsten Achter der Verbindungsruderer versenkte, und wie er schließlich, nach Dutzenden ähnlicher Streiche von der Verwandtschaft nach Amerika geschickt wurde, wo ihn nach seiner Ankunft in der Matagorda Bay die Cholera jämmerlich dahinraffte. Uronkel Heinrich war ohne Frage der exzentrischste Rieffenbach gewesen, wenn auch nicht weniger unmusikalisch als der Rest der Familie.

Emmi jedenfalls hatte an einen Chor keinen Gedanken verschwendet, da ihr Ohrgebimmel sie jedoch in den Wahnsinn zu treiben drohte, in einem verzweifelten Ablenkungsmanöver weitere Volkshochschulkurse belegt. Sie töpferte, klöppelte und makrameete, und die Stimmen der Kinder am Telefon klangen gleich viel wohlwollender. Nur, dass sie diesmal zu Weihnachten keine gefüllten Briefumschläge verschenkte, sondern selbst getöpferte Aschenbecher, geknüpfte Blumenampeln und bestickte Topflappen, dämpfte die wohlwollende Stimmung vorübergehend. In den folgenden Jahren malte sie mit bimmelndem Ohr Obstschalen in Öl, Blumensträuße als Aquarell und sogar nackte Männer in Bleistift. Sie grub Maulwürfe aus ihren Gängen, suchte mit Metalldetektoren Stoppelfelder nach römischen Münzen ab und fand eine Handvoll germanischer Speerspitzen, lernte chinesische Schriftzeichen und isländische Vokabeln und belegte schließlich in einem letzten verzweifelten Versuch den Kurs: Lateinische Redewendungen für den Hausgebrauch. Sie gewöhnte sich daran, mehrere Abende in der Woche in dumpfen Klassenzimmern zu hocken und glaubte bereits eine leichte Verbesserung des Tinnitus zu verspüren, als ihrer Jüngsten, Christina, plötzlich der Sinn menschlicher Existenz abhanden kam, ganz allgemein, aber auch höchst persönlich, und sie auf der Suche nach einem weisen und hilfsbereiten Guru nach Indien flog und irgendwo in den Häuserfluchten Bombays verschwand.

Emmi schob die Nase näher an den Spiegel heran und starrte sich in die Pupillen. Ein seltsames Gefühl zu wissen, dass die linke Linse künstlich war. Man schnitt ganz einfach in den Augapfel, zog mit einer Pinzette die eigene, die natürliche Linse heraus, schob etwas Künstliches in den Schnitt und nähte ihn wieder zu. Einfach so. Ersatzteilchirurgie. Nur wäre die nicht nötig gewesen, wenn der Oberarzt beim Starstechen eine Lupe verwendet hätte. Und das Starstechen wäre nicht nötig gewesen, wenn Christina in Indien nicht so plötzlich aufgehört hätte, Ansichtskarten zu schreiben. Und daran konnte nur dieser mysteriöse Guru schuld sein.

Was für eine aufregende Zeit. Obgleich sie selbst sich anfangs nicht die Bohne sorgte, Christina neigte schließlich von klein auf zu ungewöhnlichen Handlungen, die absonderlichen Gehirnwirren entspringen mussten, gingen die Anrufe besorgter Verwandte und Freunde und die ständigen Erkundigungen der Nachbarn nicht spurlos an ihr vorüber.

„Hast du denn immer noch nichts von deiner Tochter gehört?“

„O Gott, sie hat dir vor vier Wochen die letzte Karte geschrieben? Das ist ja entsetzlich!“

„Indien? Ist das nicht da, wo die Hisbollah immer Touristen ermordet?“

„Warum unternimmst du denn nicht endlich was? Was bist du nur für eine Rabenmutter! Deine Tochter könnte ermordet irgendwo in einem Graben liegen und du ...?“

„Ich habe gerade in den Nachrichten gehört, dass es im Norden entsetzliche Erdrutsche geben soll nach all dem Regen im Himalaja!“

„Wusstest du eigentlich, dass der Ganges von Piranhas nur so wimmelt? Was wenn ...“

„Meinst du nicht, du solltest die deutsche Botschaft verständigen?“

Schließlich steckte sie die allgemeine Panik dann doch an, und das Schicksal nahm seinen verhängnisvollen Lauf.

So hockte sie eines Nachts schlaflos am Wohnzimmerfenster und schniefte in Gedanken wieder einmal an einem von Christinas unzähligen und fernöstlich geschmückten Gräbern, als mit einem Mal draußen grellbunte Regenbögen die strahlenden Köpfe der Straßenlaternen umtanzten. Außen rot und innen violett und dazwischen gelbe und blaue Kreise. Es sah wunderschön aus, doch dann schien ihr Kopf zu platzen, und sie raste mit einem Taxi ins Göttinger Klinikum.

Akuter Glaukomanfall, diagnostizierte der Augenarzt, viel zu hoher Augeninnendruck, und sie fand sich nur wenig später auf einem Operationstisch wieder, wo ihr ein mitleidloser Anästhesist eine lange Betäubungsspritze in die Schläfe jagte.

Emmi stand vom Toilettendeckel auf und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ach du meine Güte, der grüne Lidschatten leuchtete viel zu stark. Sie rubbelte mit der Zeigefingerkuppe über die Lider. Ein dezentes Grünlich sollte ausreichen. Es war ja auch nur, damit die Augen nicht so in den Höhlen verschwanden. Auch ein Zeichen des Alterns. Die Augen zogen sich in ihre beinernen Höhlen zurück. Verabschiedeten sich langsam aber sicher von der Welt und sahen aus größerer Distanz.

Die Kinder behaupteten natürlich später, das sei Quatsch und sie habe nur geträumt damals auf dem OP-Tisch. Das Beruhigungsmittel sei wahrscheinlich so stark gewesen, dass sie trotz der örtlichen Betäubung ab und an mal wegduselte. Was die schon wussten, die Kinder. Wollen Sie keine Lupe nehmen?, hatte der Assistenzarzt zaghaft gefragt und vom Oberarzt die unwirsche Antwort bekommen: Lupe? Unsinn. Ab der hundertsten Operation braucht man keine Lupe mehr. Und dann war irgendetwas schiefgegangen mit dem Stechen des Stars und die Linse verletzt worden. Natürlich bestritten beide Ärzte energisch diesen Dialog, ja, sie drohten ihr sogar mit Klage, sollte sie ihre Zunge nicht in Zaum halten, aber Emmi wusste genau, was sie gehört hatte, und woher sonst sollten die massiven Sehstörungen kommen, die nach der Operation ihr Leben veränderten? Schwarzer Buchstabensalat in den Büchern, doppelte Zeitungsüberschriften und das Gesichtsfeld links so eingeschränkt, dass sie erschrocken zusammenzuckte, wenn sie auf dem Gehweg von einem Passanten überholt wurde. Von plötzlich vorbeirasenden Autos mal ganz zu schweigen.

Was für schreckliche Monate. Nicht einmal bei Christinas unerwarteter Rückkehr aus ihrem fernöstlichen Grab konnte sie der allgemeine Begeisterungssturm mitreißen. Und als das Mädchen ein paar Tage zu Besuch kam, im Lotossitz auf dem Wohnzimmerteppich hockte und mit geschlossenen Augen und offenen Händen Ommmm – Ommmmm – Ommmm murmelte, waren ihre Blicke nicht ganz so freundlich auf die Jüngste gerichtet gewesen, wie es der Anlass der Auferstehung vielleicht gefordert hätte.

Nichts ging mehr in jener Zeit. Nicht einmal die Volkshochschule, und sie saß hinter verschlossenen Türen mit ihren verquer blickenden Augen und dem klingelnden Tinnitus, und eine vage Ahnung stieg in ihr auf, wie der Anfang vom Ende aussehen könnte.

Emmi fand die Wattestäbchen in dem Karton mit dem Schuhputzzeug ganz unten im Regal, bohrte sich energisch eins ins Ohr und betrachtete missmutig den braunen Schmalz an der Watte.

Nach der zweiten Operation, die Ärzte sprachen nach dem verpfuschtem Starstechen beschönigend von postoperativen Korrekturen und pflanzten ihr eine neue Linse ein, entwirrte sich der Buchstabensalat wieder zu einigermaßen geordneten Zeilen, dafür aber trat ein anderes irritierendes Phänomen auf. Sie vertrug kein Licht mehr und hockte stundenlang im Dämmer und dachte an Christina und ihren Guru. Egal, aus welcher Quelle das Licht kam, ob von oben, unten, rechts oder links, es BLENDETE. Sogar das Tageslicht, und beim Versuch zu lesen, verquirlte das Auge die Reflexion der weißen Seiten mit den schwarzen Buchstabenreihen zu einem grieseligen Muster ohne erkennenswerte Konturen, und morgens knabberte sie appetitlos an ihren Brötchenhälften und starrte missmutig die jungfräulich zusammengefaltete Zeitung an.

Sie lernte Straßenlaternen, Sonne, Lampen und sogar den Fernseher zu hassen und wenn eines ihrer Kinder kam, um sie zum Essen auszuführen, pustete sie dem Kellner die Kerze unter den Fingern aus und hoppelte mit ihrem Stuhl um den Tisch, bis sie den Platz fand, an dem es am wenigstens blendete und die Kinder vor Verlegenheit rot anliefen.

„Ich werde die Kleine heute Abend anrufen“, murmelte Emmi und schloss die Badezimmertür hinter sich. „Und Hermann könnte ich eigentlich auch mal wieder begießen.“

Killerwitwen

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