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6.

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„Weißt du, Hermann“, sagte Emmi Nichterlein am nächsten Morgen und zupfte Grasbüschel aus der Grabschale mit den Ringelblumen und Sommerastern. „Ich musste in letzter Zeit oft über uns beide nachdenken. Eigentlich ist es schade, dass du so ein Suffkopp und Schürzenjäger gewesen bist. Manchmal frage ich mich, wie unser Leben andernfalls verlaufen wäre ... Die Rosenstock und ihr Herbert sitzen immer noch ganz friedlich zusammen auf der Terrasse und trinken Kaffee. Und ich müsste nicht alle Naselang hier hochfahren, um dir die Läuse vom Pelz zu klauben. Wenn du bloß sehen könntest, wie das Gras in diesem Jahr wuchert! – Was sagst du? - Gern? Ach Gottchen, wer geht schon vor seiner Zeit gern auf den Friedhof? Und dass mein Prolaps beim Bücken vor Freude jauchzt, kann ich auch nicht gerade behaupten. Aber das ist wieder mal typisch Hermann Nichterlein! Bis ins Knochenmark ein Egoist. Erst säufst du dich halb zu Tode, ohne auch nur einen Gedanken an mich oder die Kinder zu verschwenden, aber kaum unter der Erde, soll ich dich nicht nur entkrauten, sondern ich soll es auch noch gern tun! - Deine Liebchen kommen wohl nicht mehr, dass du ausgerechnet auf mich zurückgreifen musst, was? Soll ich mich vielleicht ins Efeu hocken und Witze erzählen? Oder dein knochiges Händchen halten? Mein Gott, Hermann, denk doch mal nach. Ausgerechnet ich ... !

Weißt du eigentlich, dass ich dich ohne schlechtes Gewissen vertrocknen lassen würde, wenn nicht der halbe Birkenpfuhl auf dem Waldfriedhof begraben läge und die andere Hälfte jeden Sonntag hier heraufstapft, um sich die Mäuler über die Gräber der Nachbarn zu zerreißen? Was meinst du wohl, wie die erst tratschen würden, wenn ich dich einfach mit Unkraut zuwuchern ließe.

Apropos der halbe Birkenpfuhl - hat dir eigentlich die Marianne schon ihren Antrittsbesuch gemacht? – Welche Marianne? - Na, wie viele Mariannen kennst du denn? Ich meine natürlich unser Mariannchen, oder besser dein Mariannchen. Die schielende Kleine mit den Plattfüßen. - Mensch, die Älteste vom Schmidt. Du weißt schon, der mit der Lungenfibrose. – War noch nicht da, nein? Na wart’s ab, die kommt bestimmt mal vorbei und wird froh sein, im Jenseits jemand Bekanntes zu treffen, so verhuscht wie sie schon im Diesseits war. Nur’n büschen hingelegt hat sie sich und als sie denn aufstehen wollte, kippt sie um und bums, weg isse, hat die olle Taube erzählt. Mit 48 Jahren. Und der Schmidt ist im Pflegeheim. Sei man froh, dass du deiner Leberzirrhose zuvorgekommen und hier oben gelandet bist, statt unter meiner Fuchtel. Ich hätte dich mit Sicherheit nicht so betuttelt wie diese dumme Gans ihren Vater! Von wegen mit Aletebrei füttern, Babypuder in die Büxen und wer weiß, was sonst noch alles ... Die Lehmann’sche hat erzählt, der tat immer nur so krank, und wenn die Marianne einkaufen war, hätte sie ihn ganz munter im Haus herumspazieren hören. Eins kannst du jedenfalls unbesehen glauben - wenn du mir so tückisch gekommen wärst, wie der Alte seiner Marianne, die Flausen hätte ich dir nach zwei Tagen schon ausgetrieben, und das kannst du schriftlich kriegen!“

Emmi lächelte grimmig und schnitt die wuchernden Efeutriebe der Grabumrandung ab. „Gestern musste ich an den Fritze Woitzack denken und wie er sich auf unserem Gitter aufspießte. Weißt du noch? - Ach nein, kannst du ja gar nicht, du lagst ja gerade im Krankenhaus mit deinem Blinddarm, und dein Freund Jochen lag bei der roten Lola. Und als der Fritze begraben wurde, da habt ihr anderen alle in der Dicken Wirtin am Tresen gehockt und Trübsal geblasen. Wenn ich mich nicht irre, kam von euch angeblichen Freunden doch nur der Meier aus der Weidenstraße zur Beerdigung. - O nein, mein Lieber, die Ausrede mit den Zahnschmerzen glaube ich auch heute noch nicht, es sei denn, die Wissenschaft hätte mittlerweile bewiesen, dass Zahnschmerzen ansteckend sind und sich vorzugsweise an Biertresen ausbreiten. Gib’s doch ruhig zu, das schlechte Gewissen hat euch gezwickt, weil der Fritze mit einem Mal mausetod war, und ihr ihn zu Lebzeiten doch nur ausgenutzt und hintergangen habt. Und plötzlich fiel er vom Dach! Bums und aus! Aber eins schwöre ich dir - wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich heute weiß, dann wäre der Fritze mit Sicherheit nicht vom Dach gefallen und mit Sicherheit nicht so schnell gestorben. Aber tot wäre er trotzdem, dieser widerliche kleine Wurm. Weißt du noch, was dich Christina am Tag nach der Beerdigung fragte? - Nein? Dann werde ich deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen, du Alzheimer-Leiche, du! Papa, hat sie damals gesagt, Papa, den Herrn Woitzack, den lässt der Petrus aber nicht in den Himmel, oder? Und du Trampeltier, du hast ihr vor lauter schlechtem Gewissen eine geklebt. Wenn du mit deiner Hand nicht so schnell gewesen wärest, hätten wir bestimmt schon an dem Tag erfahren, was für ein Schwein der Fritze war. Einer Zehnjährigen unter das Röckchen zu grapschen!“

Emmi sammelte die abgeschnittenen Efeutriebe ein und stopfte sie in die Plastiktüte für Abfälle. Der Rücken tat ihr weh, und eine Hand auf dem zweiten und dritten Lendenwirbel, ihrem Prolaps, richtete sie sich ächzend auf.

„Weißt du, wann mir Christina die Geschichte erst erzählt hat, dank deiner Ohrfeige? Letztes Jahr! Und weißt du, wann er sich an ihr vergriffen hatte? Zwei Wochen vor seinem tödlichen Sturz, als der Fritze unser mickriges Klo kacheln musste, weil Jochen blau war und du zur Lola wolltest! Na und ich hatte mir wahrscheinlich das Fahrrad geschnappt und bin zum Aldi gefahren, um euer Gestöhne nicht hören zu müssen. Woher sollte ich denn ahnen, dass so ein ... ein Perversling neben uns wohnt?- Ach du mein Güte, Hermann, komm mir jetzt bloß nicht wieder mit dem Märchen von dem Weihnachtsgeschenk. Erstens hattest du gar kein Geld für eine Pelzstola - genau genommen nicht einmal für einen Kaninchenkragen, wenn du dich wenigstens daran erinnern könntest - und zweitens kannst du an dem Tag gar nicht in Göttingen gewesen sein. Erklär mir doch mal, wie es in Göttingen - wie hast du dich damals ausgedrückt? - zwei brutale Schläger mit Skimasken über den Köpfen anstellten, dich auszurauben, während die Lehmann’sche in Koppstedt beobachtet, wie sich ein gewisser Hermann Nichterlein hintenherum zur Lola ins Haus schleicht. Na? Da bist du platt, was? Also spar dir in Zukunft deine Flunkereien, ich glaub‘ dir ohnehin kein Wort.

Übrigens habe ich Julia mal gefragt, ob sie ebenfalls vom Fritze angefasst wurde, und weißt du, was mir deine Älteste antwortete? Ach geh doch, sagte sie, lass mich mit den alten Geschichten zufrieden. Ich will nichts mehr davon wissen! Na, sagt das nicht alles? Ich schwöre dir, es hat mich richtig gepackt vor Wut! Du kannst dem Fritze bei euren mitternächtlichen Geistertreffen ruhig ausrichten, dass ich mich schon darauf freue, ihn wenigstens im Jenseits noch in die Finger zu bekommen. So was verzeiht eine Mutter nie! Und falls du noch irgendwelche väterlichen Regungen in dir spürst, dann schlag ihm meinetwegen die Zähne ein. Viel mehr wird ja wohl kaum noch von ihm übrig sein. - Ach was, hör doch bloß auf mit deinem blöden Rumgerede. Warum um alles in der Welt sollten sich deine Töchter so etwas ausdenken? Glaubst du, die haben einen Knacks? Na ja, Christina vielleicht - manchmal - aber doch nicht Julia. Nicht, dass ich damit ausdrücken möchte, das wäre alles normal mit ihrem Maurer-Bauern und der Fußballmannschaft, aber unter einer so verlogenen Fantasie wie du hat sie, dem Himmel sei Dank, noch nie gelitten. Ich schwöre dir bei allem was mir heilig ist, der Fritze hat deine Töchter wirklich angegrapscht. Weißt du überhaupt, wie oft ich mir den Kopf über Christina und das zugeklappte Dachfenster zerbrochen habe? All die Jahre wusste ich doch nicht, warum. Ich meine, was dahintersteckte. - Wovon ich rede? Ach Gottchen, Hermann, habe ich das noch gar nicht erzählt? Nein? Komisch - aber vielleicht auch besser so. Lass man gut sein, ein Toter braucht schließlich nicht mehr alles zu wissen!“

Seufzend bückte sie sich wieder und begann mit der dreizackigen Kralle die Erde rund ums Grab aufzulockern.

„Manchmal glaube ich, du spukst hier tatsächlich noch irgendwo als Geist herum, und du und deine Saufkumpane, ihr sitzt abends auf den Grabsteinen mit euren Bierflaschen und prostet euch zu. Na ja, irgendwie muss man ja wohl die Ewigkeit über die Runden bringen. Da fällt mir übrigens ein, dein anderer Freund, der Jochen, der liegt jetzt neben den Zigeunern vom Ribbenkopp. Sagt jedenfalls die olle Taube. Der Bauer Hippel hat sein Bohnenfeld an die Stadt verkauft, und die hat es an den Friedhof angegliedert. Grundgütiger, Hermann, die Olle hat sich vielleicht aufgeregt. Nüscht gegen die Ausländer, Frau Nichterlein, aber die da oben am Ribbenkopp ... Du kennst ja ihr dummes Gerede. Deine kleine Gaitana würde das bestimmt nicht gern hören. Carmelita hieß sie, nicht? Meinst du, die liegt jetzt aus Versehen neben dem Jochen anstatt neben dir? Wenn du willst gehe ich auf dem Rückweg mal an den Gräbern vorbei und gucke nach den Namen. Obwohl du ja eigentlich aus erster Hand wissen müsstest, wer hier noch so alles rumspukt. - Woher ich das weiß mit deinem Zigeunerliebchen? Ach du liebes Lieschen, Hermann, komm von deiner Wolke runter, der ganze Pfuhl hat sich damals das Maul über euch zerrissen, nicht nur die olle Taube. Aber wenn die noch mal anfängt mit ihrem Jochen, dem Unschuldslamm ... Na ja, Schwamm drüber. Aber weißt du was ich dir wirklich übel nehme, Hermannchen? – Nein, ich rede jetzt nicht von deiner Sauferei, die steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber was mich tatsächlich immer noch fuchst, ist, dass du bei mir in all den langen Jahren nie sooo gestöhnt hast wie bei der roten Lola.“

Sie hatte sich rückwärts zum Weg vorgearbeitet, blieb einen Moment schwer atmend in der Hocke, stach dann mit dem alten Küchenmesser das Unkraut zwischen den Steinen aus und kicherte leise.

„Weißt du, Hermann, wenn ich es so recht bedenke, inzwischen gönne ich dir deine Carmelita sogar. Wenn sie jung sind, diese Liebchen, nichts als Augen und Beine, aber später ... Also wenn ich mir vorstelle, dich besucht jetzt Abend für Abend eine Zweizentnerfrau mir nichts als Falten im Gesicht und hopst dir auf den Schoss. Mein lieber Schollie! Na, lassen wir das. Du bist jetzt sicherlich auch keine Augenweide mehr, wenn dir das verschlissene Hemd so um die nackichten Rippen hängt. Und ehrlich gesagt, diese ganze Sauferei hat dich schon zu Lebzeiten verhunzt. Aber egal. Vorbei ist vorbei!“

Emmi nahm den Handfeger und fegte den Dreck von den Steinen. Danach begoss sie ihren Hermann sehr ausgiebig und wischte sich schließlich aufatmend die nassen Hände an der Strickjacke ab.

„So, jetzt bist du frisch gewaschen, deine Haare sind geschnitten und den Dreck unter den Fußnägeln kannst du dir selbst rauspulen. Meine Pflicht habe ich getan, und ich sag’s dir noch einmal bevor ich gehe: Es ist deine eigene Schuld, dass du da unten liegst, und weißt du was? Wenn ich dich so reden höre, bin ich immer noch froh darüber. Und wenn ich noch zehn Jahre durchhalte, dann wird man deine Knochen wieder ausbuddeln, weil die fünfundzwanzig Jahre Pacht abgelaufen sind, und dann, mein Lieber, kaufe ich die Grabstelle ganz für mich allein. Oder hast du im Ernst gehofft, wir beide würden noch einmal im selben Bett landen? Vielleicht lass ich mir sogar irgendetwas zur abschreckenden Erinnerung an dich geben, wenn man dich ausbuddelt. Ein Fingerknöchelchen oder so. Wobei mir einfällt - neulich war dein Sohn zu Besuch. - Ja, natürlich meine ich David, deinen anderen, du weißt schon wen, den hast du mit deinem Gemeckere ja bis ans Ende der Welt getrieben. Du wirst seinen Namen nie mehr in meiner Gegenwart nennen, Emmi! So ein hirnverbrannter Blödsinn. Du bist genauso eine Mimose wie David. – Na jedenfalls war der Junge da und hat mal wieder gegramt. Dein Gesicht kann im Augenblick auch nicht steifer sein, als seines bei dem Besuch war. Und dann diese fürchterliche Empfindlichkeit. Dabei unterhielten wir uns nur ein bisschen, und schon spuckt er das gute Mittagessen wieder aus. Rouladen mit Sahnesoße und Kroketten. Aber du warst genauso. Ein Wort mal nicht auf die Goldwaage gelegt und Hermannchen lief grün an. – Glaubst du nicht? Seltsam. Ich war nämlich die, die dir beim Essen immer gegenübersaß. Emmi, deine Frau.“

Emmi verstaute die Grabutensilien in ihren diversen Plastiktäschchen, die diversen Plastiktäschchen in einer großen Plastiktüte, wischte mit einem Papiertaschentuch den Staub vom Boden der Handtasche, streifte die dreckigen Schuhsohlen an der Kante des Grabsteins von Hermanns Nachbarn ab - las stirnrunzelnd Thomas Meinert, Gott verzeihe ihm - und sah schließlich einen Moment lang sinnend auf die Grabschale, unter der sie Hermanns skelettierten Kopf vermutete.

„Die Kinder gucken immer noch ganz bedröppelt, wenn die Rede auf den fehlenden Grabstein kommt“, sagte sie langsam. „Aber sag mal ehrlich, welche Inschrift hätte ich denn guten Gewissens eingravieren lassen sollen: Meinem geliebten Mann, treu bis in den Tod oder Hier liegt Hermann Nichterlein, Schluckspecht und Hurenbock? Weißt du, ich glaube, wir lassen die Kinder einfach weiter bedröppelt gucken. Und falls ihnen deine Steinlosigkeit das Herz zerreißen sollte, können sie dir ja einen eigenen Grabstein mit eigener Inschrift kaufen. Unserem geliebten, treu sorgenden Vater zum ewigen Gedenken. Er brachte uns immer ein paar Bierdeckel aus der Kneipe mit. Oder so etwa Ähnliches. - Da fällt mir übrigens noch was ein. Nicht, dass ich neugierig wäre, aber David fragte letztlich danach. Sind bei dir eigentlich die Larven geschlüpft, oder bist du jetzt eine dieser Wachsleichen? – Ja, ja, schon gut, du Pingel, ich gehe ja schon. Tschüsschen und lass die Finger von der Marianne.“

Sie stapfte schwerfällig den Hauptweg hinunter und atmete tief durch. Unten in der Stadt schlugen die Kirchturmuhren halb neun, und erst wenige Frühaufsteher beugten stumm die Rücken über verwandtschaftlichen Gräbern oder kreuzten, ächzend unter dem Gewicht überschwappender Gießkannen, die Wege. Noch gaben Hunderte zwitschernder, tschilpender und tirilierender Vögel auf dem Friedhof den Ton an, und zehn Meter vor Emmi hoppelten zwei aufgeschreckte Wildkaninchen mit angelegten Löffeln und weiß blitzender Blume über den Weg, die Reste bunter Grabsträuße noch zwischen den großen Raffzähnen. Aus dem Ribbenkopp’schen Buchenwald hinter den Gräbern stieg der Morgennebel auf, und erste zaghafte Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zur Erde. Die Luft war lau.

Ein schöner Morgen, dachte Emmi tief durchatmend und blieb dann plötzlich stehen. Schon wieder der Alzheimer. Da erzählte sie Hermann allen möglichen Brimborium, aber das Wichtigste, dass die rote Lola auszog und heiratete und dass angeblich Sauerbachs und Sauerbachs Verwandtschaft die Mittelhäuser aufkaufen wollten, vergaß sie schlichtweg.

Wieso?

„O Mann!“, schimpfte sie ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf. „Am Montag muss mir der Kühne irgendwas gegen die Vergesslichkeit verschreiben!“ Sollte sie kehrtmachen und den Hügel wieder hochstiefeln? Nein, Hermann konnte gut und gern bis zum nächsten Mal warten, zumal, wenn er derart dummes Zeug schwätzte.

Sie gähnte lauthals, als sie das Friedhofstor durchschritt und sich mit dem klemmenden Fahrradschloss abmühte. Eine schlaflose Nacht mehr, mit all den krausen Erinnerungen und dem Wissen um eine ungewisse Zukunft. Was würden die neuen Nachbarn sein? Krakeelendes Pack? Naserümpfende Etepetetes? Oder Abziehbilder ihrer Verwandten, den Sauerbachs? Schmidtchen Schleicher, hatte Hermann den Erwin immer genannt und von Perdita als von Schmidtchen Schleichers Pusselchen gesprochen.

Böse Vorahnungen plagten sie, als sich Emmi gähnend in den Sattel schwang und die schmale Nussbaumallee hinunterrollen ließ. Die waldbestandenen Hügel jenseits der Leine schienen zum Greifen nahe. Kein Schönwetterdunst hing über dem Tal, und nur aus den Wäldern dampfte es noch hier und da. Irgendwann in der Nacht war sie nach einem gewaltigen Donnerschlag hochgeschreckt, und am Morgen hatte der Anzeiger düster orakelt: Gewitter in der Vollmondzeit, verkünden Regen lang und breit. Es sah tatsächlich nach Regen aus.

Kurz nach neun bog Emmi in die Weidenstraße ein und ließ ihre Blicke geistesabwesend über die Häuser der Buchenhain-Siedlung schweifen. Das Gartencenter öffnete gerade seine Tore, und die ersten Autos rangierten vor den wenigen freien Parkplätzen. Der Meier saß im Rollstuhl vor seinem Haus und winkte ihr matt zu, das griesgrämige Gesicht in schiefe Falten gelegt. Sein dritter Schlaganfall machte ihm zu schaffen. Eine Haustür weiter, im Eckhaus zur Sackgasse Im Birkenpfuhl, werkelte Annemarie Sipkov im Vorgarten herum. Als sie Emmi sah, richtete sie sich mit schmerzverzogenem Gesicht auf, eine Hand im Rücken, und rief etwas Unverständliches.

Emmi winkte dem Meier und der Sipkov halbherzig zurück und schnitt gedankenverloren und schwungvoll die Kurve. Eine Schrecksekunde später stand sie auf der Bremse. Sipkovs hohe Buchenhecke hatte ihr die Sicht versperrt, und sie kam gerade noch mit schlitterndem Hinterrad vor dem Kühlergrill eines großen blauen Möbeltransporters zum Stehen. Die beiden Fahrer, die sich in kurzen Hosen im Führerhaus Rücken an Rücken auf den Sitzen lümmelten, die nackten Beine zum Fenster rausbaumeln ließen und spitzfingrig dampfenden Kaffee aus Pappbechern schlürften, grinsten unverschämt, als sie mit zitternden Knien abstieg.

„Na, Gnädigste, immer schön langsam“, rief der Mann hinter dem Lenkrad aus dem Fenster. „Wir sind ja nicht mehr die Jüngste, und bei Ihrem Alten zu Hause, da dauert‘s bestimmt auch noch ‘ne kleine Weile, bis er einen hochkriegt!“

Einen Moment lang verdrehten die Beiden hinter der Windschutzscheibe die Köpfe, um sich verdutzt anzusehen, dann rissen sie gleichzeitig die Zähne auseinander, brachen in ein schallendes Gelächter aus, klatschten sich auf die nackten Oberschenkel und suchten sich mit verrenkten Oberkörpern gegenseitig in die Rippen zu boxen. Der Kaffee schwappte schwarz und heiß über, und in das Gelächter mischten sich kleine Schmerzensschreie.

„Mann, das kam einfach so raus, sag ich dir.“ Der Fahrer, ein breitschultriger Bursche mit schon hohem Haaransatz und pockennarbigem Gesicht, rang keuchend nach Atem.

„Mensch, ich glaub, ich pinkel mich ein. Bei dem Alten zu Hause ... Du Schorsch, das ist der Witz des Jahres, den musst du heute Abend unbedingt dem Chef erzählen.“ Der Beifahrer, einen halben Kopf kleiner, mit eingefallenen Wangen und schmalen Lippen, krümmte sich japsend und blickte bewundernd.

„Ach nein“, keuchte Schorsch und verfärbte sich bescheiden. „Nein, ich weiß nicht. Meinst du denn wirklich? Ich dachte, der Schulze wär so ein Vornehmer, der unsereins links liegen lässt.“

„Da ... da liegst du aber voll daneben. So einer ist das nicht. Wenn’s hart auf hart kommt, steht der wie eine Eins hinter seinen Leuten, und für einen guten Witz ist er allemal zu haben. Mensch, nee, sowas aber auch ... Glaub mir ruhig, der lacht sich reinweg schimmelig.“

„Na, wenn du’s sagst. Ist aber auch wirklich ein guter Witz, oder?“

„Ehrlich, sowas hätte ich dir gar nicht zugetraut. Warte mal“, der Beifahrer beugte den Oberkörper und streckte den Kopf aus dem Fenster. „Nichts für ungut, junge Frau, aber ein klasse Witz war das doch, was? Bei deinem Alten dauert‘s auch noch ’ne Weile ...“

„’Ne kleine Weile“, unterbrach Schorsch eifrig. „Ich habe kleine Weile gesagt!“

Der Beifahrer lachte gutmütig. „Eine kleine Weile, richtig. Das klingt auch viel besser. Weißte, was meine Oma sagen würde, wenn sie noch lebte? Das bringt die Kacke erst richtig zum Dampfen! Ich sage dir, die hatte Sprüche drauf, dass meine Mutter einen Kopf kriegte wie eine Tomate vorm Platzen!“

Emmi stand starr. Das Blut schoss ihr in die Wangen, sie öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Es gab nichts, was sie in diesem Augenblick hätte sagen können, die maßlose Empörung hatte alle Worte in ihrem Kopf getilgt. Hilflos starrte sie nach oben, durch die Windschutzscheibe direkt in die aufgerissenen Münder der beiden Männer, und ihre Hände krampften sich mit weißen Knöcheln um die Lenkstange des Fahrrades. Abscheulich war das erste Wort, das ihr schließlich wieder einfiel.

„Das ist ... ist ab-scheu-lich!“, wiederholte sie mechanisch. „Wirklich ab-scheu-lich!“

Im Möbelwagen schwappte erneut die Heiterkeit über. Man klappte die Oberkörper nach vorn, ließ sich Köpfe zusammenknallend zurückfallen und trommelte mit den aus den Fenstern baumelnden Beinen in wilden Wirbeln Beulen in den blauen Lack der Türen.

Es war schließlich die rote Lola, die quer durch ihren Vorgarten hetzte und die empörende Szene beendete. Sie packte den Beifahrer mit festem Griff an der zappelnden nackten Wade, und einen Moment lang dachte Emmi tatsächlich verblüfft, sie täte es, um den Mann zu strafen und ihr zu helfen. Doch die rote Lola selbst belehrte sie gleich darauf eines Besseren.

„Aber meine Herren! Meine Herren, nicht doch – sie müssen doch nicht so ungemütlich in ihrem Häuschen da oben Kaffee trinken und an einem Keks knabbern. So große, kräftige Männer wie Sie brauchen ein ordentliches Frühstück. Kommen Sie man rein, ich brat’ Ihnen ein paar Eier mit Schinken und dazu gibt’s ein schönes kaltes Bier!“

Und die beiden großen kräftigen Kerls zogen brav ihre Waden ein, hopsten aus den aufgerissenen Türen und ließen sich, noch immer kichernd und ohne Gegenwehr, von der roten Lola unterhaken und ins Haus geleiten, Emmi und ihrer Empörung einfach die zuckenden Rücken zuwendend. Das letzte, was sie hörte, war ein dezentes Aufquieken, als zwicke irgend jemand irgend jemanden irgendwohin.

„Also, das ist doch ...“

Was für ein schamloses Weib. Da schickte sie sich an, einen Professor Doktor Doktor zu heiraten, einen Studierten mit bestimmt mehr als nur einem Bücherregal im Haus, und quiekte trotzdem geschmeichelt auf, sobald sie der erstbeste Möbelpacker zwickte - der Himmel mochte wissen wohin. Ließ sich zwicken, obgleich sie mit angehört haben musste, wie derselbe zwickfreudige Möbelpacker sie, Emmi, kurz zuvor in schweinischer Weise angepöbelt hatte. Ließ sich zwicken von einem liederlichen, verruchten Subjekt mit bestimmt nicht mehr als Hauptschulabschluss und nackten Stachelbeerbeinen, das auf der Straße wehrlose Frauen mit schlüpfrigen Witzen belästigte. Was für ein Glück, dass die endlich auszog!

Emmi schnaufte wie eine Lokomotive am Berg. Sie bog in den Kiesweg ein, stellte das Fahrrad vor ihrer Haustür auf den Ständer, ohne der rosa Pracht der in diesem Jahr spät blühenden Heckenrosen auch nur einen Blick zu gönnen, und ließ sich im Esszimmer auf einen Stuhl fallen. Bei dem Alten zu Hause dauerts bestimmt auch nochne kleine Weile, bis er einen ... So eine bodenlose Frechheit. Aber so war er, jawohl! So war der Ton, den die heutige Jugend gegenüber der älteren Generation anschlug. Eine bodenlose Frechheit! Eine Unverschämtheit sondergleichen! Und warum? Weil die Eltern ihren Kindern keinen Respekt mehr vor dem Alter einbläuten. Bleibt ruhig sitzen, sagten sie im Bus zu ihnen, wenn einem krückenbewaffneten Neunzigjährigen die Beine unter dem Hintern wegzuknicken drohten, wir haben schließlich auch bezahlt! O ja, so war die heutige Einstellung. Aber dass der Mann zwei Weltkriege und vielleicht sogar seine Frau und ein halbes Dutzend Kinder überlebt hatte, nur um jetzt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus an Lungenentzündung einzugehen, das interessierte die Jungschen nicht. Genauso wenig, wie es sie interessierte, wenn eine alte Frau auf der Straße von zwei schweinischen Möbelpackern angepöbelt wurde.

Ha! - Sie schnaufte immer noch. Ihr Herz bummerte wütend gegen die Rippen, die Füße zuckten unter dem Tisch, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Dieser verflixte Hermann. Wenn er nicht so eine gewaltige Schnapsdrossel vorm Herrn gewesen wäre, dann würde er jetzt noch leben. Und wenn er noch lebte, dann würde er jetzt mit Sicherheit auf die Straße stürmen. Und wenn er stürmte, dann, um sich mit seinen Kumpels die beiden unverschämten Kretins zur Brust zu nehmen und ihnen die Hucke vollzuhauen. Sauferei hin oder her, ihr Hermann und auch sein Freund Jochen, das waren wenigstens noch zupackende Männer gewesen. Männer mit Mumm in den Knochen, die mit derlei Gesindel kurzen Prozess zu machen pflegten und nicht erst lange nach dem Wie oder Warum fragten.

Und David? Ach du liebes Lieschen. Der doch nicht. David würde sich einen Stuhl heranziehen, ihr tief in die Augen blicken und sagen: „Mama, es ist dein gutes Recht, dich darüber aufzuregen. Aber weißt du, es ist nicht gut, wegen jeder Kleinigkeit einen Streit vom Zaun zu brechen. Natürlich bist du wütend, aber im Grunde genommen ist es doch nur eine Nichtigkeit. Sieh mal, du musst die beiden verstehen. Sie haben einen miesen Job und sitzen tagaus, tagein in ihrem Lastwagen oder schleppen Möbel, und wenn ihnen ab und an mal eine Bemerkung über die Lippen rutscht, die nicht so ganz koscher ist, dann bin ich natürlich der letzte, der so etwas entschuldigen würde, aber Mutter ...“ Und so weiter und so fort. Emmi schüttelte gereizt den Kopf.

Lag es eigentlich an ihr oder an Hermann, dass aus ihren Kindern so selbstgerechte Dummschwätzer geworden waren? Bis auf Christina, von den Nervenzusammenbrüchen mal abgesehen, hatte keins den Mumm der Eltern geerbt. Stefan war vor seinem streitbaren Vater sogar bis nach Australien geflohen. Und David und Julia? Weichknochige, rückgratlose Feiglinge, alle beide. Kümmerlinge! Vor allem aber David!

Wie fassungslos er sie damals angeblickt hatte, bei der Sache mit Christinas Meerschweinchen. Wie ein Äffchen, das höflich gebeten wird auf einem Seziertisch Platz zu nehmen.

„Du hast waaaas getan?“ Sie hörte förmlich noch sein asthmatisches Japsen.

„Einer musste ja schließlich etwas unternehmen, und wie du weißt, ist dein Vater zu Tante Hildegards Beerdigung nach Husum gefahren.“

„Aber ... „

„Aber was? Wolltest du etwa losziehen und den Kühlwagen suchen?“

„Mein Gott, Mama, der arme Kerl konnte doch gar nichts dafür, dass ihm Tinas Meerschweinchen vor den Reifen lief?“

„Er hätte ja bremsen können!“

„Eine Vollbremsung für ein Meerschweinchen. Ja bist du denn noch ganz dicht?“

Emmi nickte energisch. Damals fing das schon an mit diesem respektlosen Ton den Älteren gegenüber, und wenn David nicht schon über dreiundzwanzig und sie nicht so fuchtig auf den Lastwagenfahrer gewesen wäre, hätte sie ihm sicher eine geklebt.

„Wenn du mir noch einmal so frech kommst, mein Junge, kannst du den Sack schmutziger Wäsche am nächsten Wochenende deinem Spieß zum Waschen geben. Mir jedenfalls nicht mehr. Als ob in einer so großen Kaserne nicht irgendwo eine Waschmaschine herumsteht!“, hatte sie stattdessen empört gesagt. „Und vielleicht denkst du mal darüber nach, was hätte passieren können, wenn Christina dem Meerschweinchen nachgelaufen wäre! Auf dem Friedhof gibt es eine Extraecke für Kindergräber. Wusstest du das schon? Oder warst du in der letzten Stunde wenigstens mal oben in ihrer Kammer und hast deine Schwester getröstet? Nein? Dachte ich’s mir doch!“

„Nein ... ich meine ja, natürlich ... ach um Himmels willen, Mama, du verstehst mich nicht. Wenn ... wenn dich der Lastwagenfahrer nun gesehen hat? Was, wenn es Zeugen gibt? Heute ist Sonntag und bestimmt halb Koppstedt unterwegs bei dem schönen Wetter. Und ... und überhaupt, die ganze Sache wäre doch nie passiert, wenn du Tina nicht immer erlaubt hättest, dieses verdammte Meerschweinchen mit nach draußen zu nehmen. Sie ist doch erst vier!“

„Ach? Nun bin ich wohl wieder an allem Schuld. Wenn ihr großer Bruder ab und an mal etwas Zeit erübrigen könnte, um sich um seine kleine Schwester zu kümmern, bräuchte sie auch keine Meerschweinchen durch die Gegend zu schleppen. Du weißt ganz genau, wie sehr ihr Stefan fehlt, und dass sie sich langweilt, weil Julia mit deinem Vater nach Husum ist. Du kümmerst dich ja nie! Wenn du an den Wochenenden nach Hause kommst, dann stellst du dich an, als müsstest du tot umfallen, sobald dich Mama nicht mehr von vorn bis hinten bedient. Und dass du vierundzwanzig Stunden Schlaf am Tag brauchst, ist doch wohl ein Witz! Mein Gott, David, du bist lediglich beim Bund und arbeitest nicht in einer Holzeierfabrik im Akkord, wie dein Vater in deinem Alter. Aber ab jetzt wird sich hier einiges ändern, mein Lieber, und damit Basta! Und vielleicht kümmerst du dich dann auch endlich mal um deine Beförderung, oder willst du dich für den Rest deines Lebens anbrüllen lassen und auf Befehl irgendeines nichtsnutzigen Burschen durch den Schlamm robben?“

„Mama ...“

„Basta hab’ ich gesagt!“

„Das ist nicht fair. Was soll ich denn tun? Dem Feldwebel in den Hintern kriechen oder dem General die Stiefel lecken? Außerdem, Mama ...“

„Das haben auch andere vor dir getan, aber so ein Pingel wie du ...“

„... darum geht es doch jetzt gar nicht. Was machen wir, wenn es gleich klingelt und die Polizei vor der Tür steht. Mama, so etwas darf man nicht. Das ist strafbar. Du ... du kannst nicht einfach hingehen und fremde Reifen zerstechen!“

„Schluss mit der Debatte. Aus und vorbei! Ich habe getan, was ich tun musste und ...“

„Wir werden ja sehen, was Pap ... Papa dazu sagt.“ Dem Jungen hatten mit einem Mal tatsächlich die Zähne geklappert.

„Deinen Vater werden wir mit solchen Kleinigkeiten nicht belästigen!“ Zugegeben, Hermann war in seinen nüchternen Zeiten ein ganzer Mann gewesen, und was er tat, bewunderte er selbstredend, während sich bei den Taten anderer - besonders bei den ihrigen - seine Stirn über Wochen zweifelnd fältelte. Es war doch besser, ihn mit derlei Nichtigkeiten zu verschonen.

„Ich werde es ihm trotzdem sagen“, hatte David heftig und mit Tränen in den Augen gerufen.

„Mein lieber David“, hatte sie ruhig aber bestimmt erwidert. „Ich lege genauso wenig Wert darauf, dass du deinem Vater diese Geschichte erzählst wie du wahrscheinlich Wert darauf legst, dass ich deiner zukünftigen Frau Tante Mathildens David-Geschichten erzähle und wie sich ein gewisser David, den wir beide kennen, dabei immer vor Angst in die Hosen pullerte.“

David sprach dann doch nicht mit Hermann über Meerschweinchen und angestochene Reifen, sondern schmollte nur über drei oder vier Wochen. Und als er das erste Mal seine Alice mit nach Koppstedt brachte, mein Gott, mit welch flehentlichem Blick er seine Mutter zu bannen suchte. Armer Junge. Was hatte Tante Mathilden da nur angerichtet.

„Hat dich auch wirklich niemand gesehen?“

„David, es reicht. Was bist du aber auch für ein Jammerlappen. So groß und stark und nichts als Pudding in den Knochen. Und jetzt lass mich erst mal meine Jacke ausziehen und bring das Fahrrad in den Keller. Es muss ja nicht unbedingt im Garten stehen bleiben!“

„Wo ... ich meine, wo genau...“

„Auf dem Parkplatz vom Supermarkt, wie ich es mir schon dachte!“

„Und wenn es der Falsche war?“

„Was glaubst du wohl, mein Sohn, wie viel Kühlwagen pro Tag mit den Resten eines Meerschweinchens in den Reifenrillen durch Koppstedt fahren?“

Und David war würgend aus dem Zimmer gerannt.

Niemand kam damals und forderte Rechenschaft.

„Keine Zeugen, keine Anklage“, murmelte Emmi und spitzte nachdenklich die Lippen. Ob den Lastwagenfahrer auch nur die leiseste Ahnung beschlichen hatte, wem er die beiden platten Vorderreifen verdankte? Eher wohl nicht. Ein Meerschweinchen unter einem so dicken Reifen huckelte wahrscheinlich nicht einmal, und im Anzeiger stand am nächsten Tag nur, Zeugen hätten zwei dunkelhäutige Männer in der Nähe des Tatortes gesehen, was die Suche der Polizei auf das Asylantenwohnheim im Nachbarort Kleinheim beschränkte.

Der Gefreite David Nichterlein robbte währenddessen bereits wieder durch die Lüneburger Heide.

Neben dem Hängeschrank in der kleinen Küchenecke hing ein grünlackiertes Holzbrettchen mit einer Rolle abreißbarer Einkaufszettel. Meiner lieben Mami stand in rotem Lack über der Rolle und darunter Deine Julia. Emmi seufzte. Wie lange war das nun schon her, dass Julia das letzte Mal Mami zu ihr gesagt hatte. Als sie älter wurde und die Kinder in der Schule anfingen sie zu hänseln, wechselte sie zu Mutti über, im Erwachsenenalter zu Mutter, und seit ihrem dreißigsten Lebensjahr sparte sie sich die Anrede ganz. Ihre eigenen Kinder sagten Julia zu ihr oder blöde Kuh. Je nach Laune.

Wenn dich niemand sieht, Emmi ...

„O nein!“ Sie zerrte so heftig am Papierstreifen, dass der Nagel aus der Wand riss. Das grünlackierte Brettchen schepperte zu Boden, und drei Meter Einkaufszettel ringelten sich luftschlangenartig um ihre Beine.

„Schockschwerenot, das reicht jetzt!“ Wütend trat sie nach dem Brettchen, Holz kratzte über Linoleum, und die Rolle wickelte sich vollends ab. Sie bückte sich schnaufend und zerknüllte die sich windende Schlange zu einem handlichen papierenen Ball, der zusammen mit dem Meiner-Mami-Brettchen in den Abfalleimer wanderte. Diese Zeiten waren endgültig vorbei, und das nostalgische Kleben an staubigen Erinnerungsstücken löste nur melancholische Seufzer und schlaflose Nächte aus. Julia war neun gewesen, als sie das Brettchen lackiert hatte. Eine spillerige bezopfte Göre mit Zöpfen, die drei dicke Stücke Buttercremetorte verdrücken konnte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Wer hätte gedacht, dass sich der Floh zu dieser großen, kräftigen Frau mit dickem Bauch und gebärfreudigem Becken auswachsen würde, die eine Horde Kinder aufzog, zehn Kühe melkte und die eigene Butter stampfte.

Emmi riss ein Blatt vom Briefblock und schrieb mit Schwung:

Champignon-Baguettes, tiefgefroren

Butter

Äpfel (nicht die harten grünen)

Toastbrot

Orangensaft vom Aldi

Nägel

Sie stutzte. Nägel? Wozu um alles in der Welt brauchte sie Nägel?

Das weißt du doch, flüsterte das kleine Teufelchen in ihrem Kopf. Für den Möbelwagen da draußen. Du bist doch noch keine tatterige Oma, die sich nicht zu wehren weiß, oder?

„Halt den Rand“, sagte sie laut und strich Nägel energisch durch.

Schokolade

Nein, auch keine Schokolade, davon wurde man zu griffig.

Trockenpflaumen

Mineralwasser

Gouda (1/4)

Mülltüten

Nägel

„Also, das ist doch!“, murmelte sie empört. „Ich hab’ Hunderte von Nägeln im Keller. Wozu sollte ich welche kaufen?“ Und versank für Minuten in eine tiefe innere Einkehr und nagte gedankenverloren am Bleistift. Wie diese Kerle aber auch gebrüllt hatten vor Lachen, und wie peinlich es gewesen war, als die rote Lola kam und alle drei sie so einfach auf der Straße stehen ließen. Bei dem Alten zu Hause dauert‘s bestimmt auch nochne kleine Weile, bis er einen ... Es musste doch am Alter liegen, dass sie die Beleidigungen so stumm hinnahm. Oder am Alzheimer. Blieb ihr diese aphasische Stummheit nun bis an ihr Lebensende erhalten? Und wo bitte schön war denn der Mumm in ihren eigenen Knochen? Kümmerling, würde Hermann hetzten, du bist schon genauso ein Kümmerling wie dein feiger Herr Sohn! Wehr dich gefälligst.

Baldrian-Dragees, schrieb sie mit angenagtem Bleistift auf den Einkaufszettel. Darunter: Schlaf- und Nerventee. Klopapier, aber nicht wieder den billigen Krepp aus dem Osten, mit dem man sich die Haut vom Po scheuerte. Was noch? Marmelade? Zitronen? Mohrrüben? Ja, Zitronen vielleicht. Aber nur, wenn sie nicht so grün waren wie die letzten. Zucker? Salz? Einen Hammer? Nein, ein Hammer lag im Kellerregal neben der Keksdose mit den Nägeln. Aber das Salz könnte sie mitbringen. Jetzt gab es ja nicht nur welches mit Jod, sondern auch mit ... mit ... ? War das nicht dasselbe Zeugs, das man neuerdings gegen Fußpilz in öffentliche Freibäder schüttete? Dieses ... dieses ...

„Alzheimer“, rief sie wütend und begann, um den Esszimmertisch zu wandern. Sollte sie oder sollte sie nicht? Wenn du es nicht tust, flüsterte das Teufelchen eindringlich, dann gehörst du auch schon zu den alten Schnepfen, die sich kampflos rupfen lassen.

„Na schön“, nuschelte sie unterlippeknabbernd, „aber sag hinterher bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

Etwas wurde ihr nur zu deutlich bewusst, als sie bedächtig die Kellertreppe hinunterstieg, den Blick fest auf die Kühltruhe gerichtet, an deren rechter oberer Ecke vor fünfzehn Jahren dieses graue Zeugs aus Hermanns Kopf geklebt hatte. Das Alter forderte Tribut. Bei der Sache mit dem Meerschweinchen waren weder Entschluss noch Ausführung der Bestrafung ein Thema gewesen, und jetzt zitterten ihr schon die Knie, wenn sie bloß in den Keller sollte, um das Werkzeug zu holen.

Sie schüttete eine Asselfamilie aus der Einkaufstasche, klaubte im hinteren Keller Hammer, Kneifzange und die blecherne Nagelkeksdose aus dem Regal, und stieg mit Butterknien die Treppe wieder hinauf. Die meisten Nägel waren verrostete Reliquien aus Hermanns halbherziger Handwerkerperiode Anfang der Sechziger. Meist kleine ungeeignete Bildernägelchen. Aber es gab auch ein paar größere, und einer davon schien ihr durchaus geeignet. Er war lang, dünn und spitz, besaß aber einen breiten Kopf. Ob es derselbe war, den sie damals benutzt hatte?

Durch das Esszimmerfenster sah sie Kreszentia Kuhn gebückt den Weg hinter den Gärten entlangschlurfen, in der linken Hand die gelbe Sprühdose Ameisentod, rechts die rote Dose mit dem durchgestrichenen pinkelnden Hund auf dem Etikett. Beides nutzte wenig, aber die Zimtzicke Kuhn zeichnete von jeher eine außergewöhnliche Hartnäckigkeit aus, und sie schien wild entschlossen, in verstärktem Maße nach der Flucht ihres Karls, keinerlei persönliche Niederlagen mehr dulden zu wollen. Emmi ächzte vor Aufregung. Was, wenn vor ihrem Haus ebenfalls jemand herumschlich und sie bei ihrem Treiben überraschte. Was, wenn Sauerbachs sie aus ihrem Wohnzimmerfenster beobachteten, oder der gelähmte Meier in seinem Rollstuhl irgendwo zwischen den Büschen seines Gartens lauerte. Was, wenn die Taube hinter der Gardine hockte? Was, wenn die beiden großen stämmigen Möbelpacker sie auf frischer Tat erwischten und gewalttätig wurden?

Emmi ließ sich schnaufend auf einen Stuhl fallen und versuchte, das Gedankenwirrwarr zu enttoddern. Ihre Finger schlossen sich um den langen kalten Nagel. „Hab Vertrauen, Emmeline“, murmelte sie dumpf. „Steh auf und tu es einfach.“

Sie gehorchte, schlich auf Zehenspitzen in den Flur, als gelte es einen Eindringling rücklings zu überfallen, und horchte an der Wand. Stimmengewirr und Geschirrklappern. Die rote Lola bewirtete noch ihre Gäste. Die Einkaufstasche am Arm trat Emmi vor die Tür und schloss mit unruhigen Fingern das Fahrrad auf. Die Aufregung pulste durch ihre Adern, eine Hitzewallung trieb ihr kleine Schweißtröpfchen auf die Stirn, und am Gartentor blieb sie mit weichen Knien stehen und sah sich unauffällig um.

Also wirklich, alt zu werden war einfach nur lästig.

Sie zauderte. Im vorderen Reihenhaus stand in Meiers Schlafzimmer der eine Fensterflügel offen, und der Wind blähte die Gardine. Konnte der Meier sie noch sehen, wenn sie hinter Sipkovs hoher Buchenhecke hockte? Sie peilte die Linie Fenster-Hecke an und schüttelte erleichtert den Kopf. Nein, der nicht, dafür aber mit Sicherheit die olle Taube, sollte sie auf die Idee kommen, sich hinter die halb vorgezogene Gardine ihres weit aufgerissenen Wohnzimmerfensters zu stellen. Die hatte es gerade nötig auch noch die Fenster aufzumachen, die alte Hexe, dabei besaß sie ohnehin schon die unheimliche Gabe, jedes Ereignis im Birkenpfuhl aus dem Effeff und in allen intimen Einzelheiten weiterzutratschen, auch wenn sie zu dem Zeitpunkt nachweislich nicht einmal in der Stadt gewesen war, und die Beteiligten sich am nächsten Laternenpfahl aufzuhängen drohten, wenn sie der Taube gegenüber auch nur die Andeutung einer Andeutung angedeutet hätten. Hieß es da nicht das Schicksal herausfordern, sich trotz des schon vorbereiteten Taube‘schen Logenplatzes an den Reifen zu wagen?

Emmi stöhnte gequält, von Zweifeln geplagt. Sollte sie oder sollte sie nicht? Ja oder nein? - Nein, sie würde es nicht tun. Es war viel zu riskant. Hier gab es keinen verlassenen Parkplatz vor einem sonntäglich verrammelten Supermarkt in der Abenddämmerung, wie damals bei dem Kühlwagen, sondern nur einen buntkiesigen knirschenden Weg zwischen zwei Reihenhäusern an einem Samstagmorgen zur besten Einkaufszeit. Langsam schob sie das Fahrrad den Weg hinunter, schielte erst über die Heckenrosenhecke in Woitzacks Garten und dann über die Buchenhecke in Sipkovs Garten. Niemand zu sehen. Weder in den Gärten, noch auf der Straße, so weit sie für Emmi einsichtig war. Auch nicht im Führerhaus des Möbelwagens, der hoch und blau quer vor der Mündung des Weges parkte. Dafür stand aber die Haustür der roten Lola weit offen. Und eben, als sie ein weiteres Mal zehenspitzig spähte, und sich gerade streng zur Ordnung rief, schwing dich auf dein Fahrrad, Emmeline, und fahr einfach einkaufen, da tönte doch aus dem dunklen Schlund des Hauses ein dröhnendes Gelächter, und ertappt zuckte sie zurück und spürte hitzig den Blutandrang im Kopf. Die schon wieder! Sicher saßen sie jetzt alle zusammen, wiederholten ein ums andere Mal diesen schweinischen Witz und lachten über die drollige Alte, die nur ein Un-mög-lich über die Lippen gebracht hatte. Nun gut, es reichte. Das Lachen würde ihnen bald vergehen. Nagel und Hammer waren griffbereit. Entschlossen und angestachelt durch die nicht enden wollenden Heiterkeitsbekundungen aus dem Woitzack’schen Hause stellte sie das Fahrrad auf den Ständer, hockte sich vor dem rechten Vorderreifen des Möbelwagens auf den Weg und blickte sich hastig um. Sipkovs Hecke verbarg sie vollständig vor den Blicken der vorderen Reihenhausbewohner, sie selbst konnte nur noch den Dachfirst sehen, und zur linken verdeckten die Heckenrosen Lolas offene Tür. Emmi spitzte zufrieden die Lippen. Damit setzte sie sich allenfalls der Gefahr aus, dass plötzlich Sauerbachs hinter ihr den Weg hinuntertrippelten, um zum samstäglichen Einkauf in den Supermarkt zu fahren - Schmidtchen Schleicher und sein Pusselchen. Oder die olle Taube am Fenster hockte. Sie sah sich noch einmal um. Sauerbachs Wohnzimmerfenster füllte eine gelbe Jalousie aus, und Taubes Gardine hing schlaff herunter.

Nur eine Frage der Schnelligkeit, dachte Emmi, schlang hastig das Handtuch um den Hammerkopf, setzte die Spitze des langen dünnen Nagels in eine der tiefen Reifenrillen und schlug kräftig zu. Der Nagel federte zurück und ließ ihren ganzen Körper erzittern. Sie stutzte und schlug ein zweites Mal zu! Der Nagel federte zurück. Emmi runzelte die Stirn. Waren die beiden Reifen des Kühlwagens nicht viel durchgängiger gewesen? Längst nicht so hartnäckig? Sollte sich in den knapp dreißig Jahren so viel in der Reifenherstellung geändert haben? Gab es vielleicht sogar schon nagelsichere Reifen? Emmi biss die Zähne zusammen und hob den Hammer so hoch es ihr ratsam schien, um den Nagelkopf und nicht ihre Finger zu treffen, als sie mit einem Mal das knirschende Geräusch über Kies gehender Füße vernahm.

Noch in Hockstellung fuhr sie in Panik herum und blickte, bevor sie das Gleichgewicht verlor und unsanft auf dem Hintern landete, den langen leeren Kiesweg bis zu Sauerbachs Haus hinunter. Kein Mensch zu sehen. Nichts! Nur ihr Kopf, der verrückt spielte und sich mit akustischen Angsthalluzinationen quälte. Ihr Atem ging stoßweise, als sie sich wieder aufrappelte, und einen Moment lang lehnte sie blind mit dem Rücken am Reifen, während ein Wirbelsturm durch ihren Kopf brauste.

Beim nächsten Versuch schlug Emmi zwar kurz aber ausgesprochen heftig zu. Der Nagel bohrte sich auf Millimeter ins dicke Gummi und blieb schwankend stecken. Zwei Schläge später steckte er bis zum Anschlag im Reifen. Sie ruckelte vorsichtig mit der Kneifzange am Nagelkopf. Pfff machte es. Sie ruckelte kräftiger. Aus dem dezenten Pfff wurde ein deutlich hörbares Pfffffffffff. Emmi stand auf, stemmte den rechten Fuß gegen den Reifen und zog, mit der Kneifzange heftige Kreisbewegungen beschreibend, den Nagel mit Brachialgewalt wieder heraus. Das Pfffffffffffffffffffffffffffffff war nicht nur deutlich hörbar, es war ausgesprochen laut, und die kleine gebündelte Luftfontäne über dem Loch pustete ihr die Löckchen aus der Stirn.

Emmi trat rasch einen Schritt zurück und - traf auf etwas großes Weiches, das unter ihrem Fuß entsetzlich zuckte. Ein schmerzerfülltes Jaulen gellte durch die klare Morgenluft, und einen Moment lang jaulte sie erschrocken mit, dann hopste sie wie eine aufgescheuchte Springmaus wieder nach vorn und prallte hart gegen die Tür des Möbelwagens. Dackel Dreizehn wankte krummbeinig und mit eingezogenem Schwanz zur Seite, und blickte sie aus triefenden braunen Augen anklagend an.

„Grrrrrrr“, knurrte er vorwurfsvoll, „grrrrrrrr!“

„Schleich dich!“, flüsterte Emmi wütend und stupste ihn mit dem Fuß an, während ihre Blicke besorgt umherschweiften.

Im nächsten Augenblick stieß sie einen erstickten Laut aus, und fuhr sich mit beiden Händen zum Mund. Das Taubesche Wohnzimmer! Die Fensterflügel standen nicht mehr offen, sondern waren fest verschlossen, dafür war nun die Gardine vollständig aufgezogen. Sie starrte auf die gleißende, die Morgensonne reflektierende Glasscheibe und fragte sich entsetzt, ob die Taube, für sie, Emmi, unsichtbar, hinter dem Fenster stand und zurückstarrte.

Natürlich! Sie hätte es wissen müssen, und hatte sie es nicht auch zumindest geahnt? Das Einschlagen des widerspenstigen Nagels konnte tatsächlich nicht mehr als eine Minute gedauert haben, aber ausgerechnet in dieser einer Minute, einer von siebenhundertzwanzig möglichen eines Zwölfstundentages, entschloss sich die Taube, ihr Fenster wieder zu schließen. Zufall oder Hexenwerk? Spökenkiekerei oder Eingebung?

Emmi beeilte sich, in den Sattel des Fahrrades zu kommen und bog mit sehr gemischten Gefühlen in die Weidenstraße ein, während Dackel Dreizehn mit fliegenden Ohren an ihrem Hinterrad klebte und heisere Wuffs bellte. Erst an der Abzweigung zur Kastanienallee gab er die Verfolgung auf und humpelte hechelnd aber stolz erhobener Schnauze wieder zurück.

„Dussliger Kläffer!“, murmelte sie geistesabwesend, den Kopf bereits voll mit Schreckensvisionen über die Konsequenzen und das Ausmaß der Katastrophe, falls die Taube sie tatsächlich beobachtet haben sollte. Meine Mutter?, würde David mit Sicherheit seinem Chef antworten, wenn er wegen des Fernsehberichtes zur Rede gestellt wurde. Ach um Himmels willen, wo denken Sie denn hin. Meine Mutter ist schon lange unter der Erde. Und dann würden er sie einweisen lassen. David und seine dünkelhafte Moral.

Der laue Fahrtwind wehte ihr um die Nase, und das gleichförmige Treten der Pedalen, rundherum und immer wieder rundherum, wirkte beruhigend auf ihr Gemüt. „Nein“, entschied sie bereits am Ende der Kastanienallee. „Nein! Keine zehn Pferde hätten die Olle daran gehindert, herauszukommen, um mich in flagranti zu ertappen! Oder zumindest auf dem Fensterbrett zu liegen und quer durch die Siedlung zu brüllen: Sieeee, Frau Nichterlein, was machen Sie denn da? Oder: Mein Thomas, wissen Sie, der wo mein Ältester is’, der hätt‘ Sie das aber viel besser machen können! Oder: Wenn Sie sich so dusselig anstellen tun, wird das nie nich’ was!“ Emmi lachte grimmig.

„Nein“, wiederholte sie beruhigt und bog auf den Parkplatz des Supermarktes ein. Eine Heimliche war die Taube nicht. Der machte es viel zu viel Spaß, jemandem unerwartet von hinten auf die Schulter zu tippen. Zum Beispiel dem Herbert Rosenstock mit seiner schwachen Blase, wenn er in Sipkovs Hecke pieselte. Nein, die Wahrscheinlichkeit sprach eher für eine momentane Unaufmerksamkeit der ollen Taube, als sie das Fenster schloss und die Gardine aufzog. Vielleicht eine Mücke im tränenden Auge? Durchs schrillende Telefon abgelenkt und über die Schwiegertochter und ihren Hiesterischen geschimpft? Dem Müller von gegenüber dabei zugesehen, wie ihm die Bissen des Frühstücksbrötchens wieder aus dem schiefen Mund fielen, und seine Schwiegertochter, die nun manchmal zum Pflegen kommen musste nach dem dritten Schlaganfall, verkniffenen Gesichtes das Kehrblech hervorkramte?

Oder aber die olle Taube hatte sie zwar vor dem Möbelwagen hocken sehen, jedoch bar jeglichen Argwohns angenommen, sie binde ihre Schnürsenkel oder angele nach einem blinkenden Fünfziger im Rinnstein. Aus dieser Entfernung einen Nagel als Nagel zu erkennen - na ... ? Den Hammer mit Sicherheit, aber was sprach dagegen, dass ihn just in diesem Moment ihr Oberkörper verdeckte, als die Taube am Fenster stand? Und im schlimmsten Fall konnte es so ausgesehen haben, als zwinge sie eine plötzliche Blasenschwäche in die Hocke. Schließlich schaffte es der Rosenstock auch nie bis nach Hause.

Dennoch überkam sie mit einem Mal das dringende Bedürfnis, sich des verdächtigen Werkzeuges zu entledigen, auch wenn es ihrer Sparsamkeit arg widerstrebte. Sie bremste vor den Müllcontainern, wickelte Hammer, Kneifzange und Nagel in das alte Handtuch und warf das Bündel in den Trichter. Es schepperte mörderisch, und mehrere Leute stoppten abrupt und suchten mit neugierigen Blicken den Verursacher des Lärms. Emmi lächelte verzerrt. Nur Weißglas einwerfen, stand unter dem Einwurftrichter, Nur für Müll auf dem Container daneben. Was für ein Tag! Sie hob den Blick zum dicken Buckel des Ribbenkopp, der breit, behäbig und buchenbestanden gleich hinter dem Supermarkt anstieg, und seufzte ergeben.

„Morgen muss ich in den Kleingärten nach dem Rechten sehen“, murmelte sie und schob ihr Fahrrad zu den langen Reihen ineinandergeschobener Einkaufswagen hinüber. Da hinten, an der Laderampe hinter dem Supermarkt, da hatte der andere Lastwagen geparkt. Der große Kühlwagen mit Pieps, dem Meerschweinchen, in seinen Rillen.

Alles im Leben wiederholt sich, dachte sie, philosophisch gestimmt, eine halbe Stunde später, als sie in der langen Schlange vor der Kasse stand. Obgleich sie heute keine Veranlassung sah, ihr Gewissen zu beunruhigen wie damals, an jenem Abend an Christinas Bett, als sie ein Pflaster auf die kleine Bisswunde am Finger ihrer Tochter klebte.

„Schätzchen, woher hast du denn die Wunde? Hat dich das Dackelbiest von Rosenstocks gebissen?“

Und Christina? Christina blickte sie aus ihren rot verheulten, geschwollenen Augen an und schüttelte nur heftig den Kopf.

„Nein?“

„Neeeiiin!“

„Der olle Kater von Kuhnerts?“

„Neeeiiin!“

„Na, wer dann? Komm Schätzchen, sag es deiner Mama.“

„Piiiieeeps!“

„Dein Meerschweinchen?“, hatte sie erstaunt gefragt. „Hast du es deshalb fallen gelassen, weil es dich gebissen hat?“

„Neeeiiin!“ Sie war vor Schluchzern schon keines vollständigen Satzes mehr fähig gewesen. „Schooon vorher gebisssssen. Es war böööse!“

Und da war dann in ihr doch ein dumpfer Verdacht aufgestiegen, der sie eine ganze Weile nicht wagen ließ, die nächste Frage zu stellen.

„Schätzchen, hast du das Meerschweinchen absichtlich vor den Laster geworfen?“

So war es damals gewesen mit Christina und Pieps dem Meerschweinchen.

Diesmal aber nicht, dachte Emmi und angelte auf dem Grund des überdimensionalen Einkaufswagens nach der Packung Baguettes, um sie auf das Fließband der Kasse zu legen. Diesmal bin ich eindeutig im Recht.

Sie hatte lange gegrübelt und es sich beileibe nicht leicht gemacht, Christina aber dann doch nicht bestraft. Geschehen war geschehen, wie Hermann immer sagte, obgleich er von dieser Geschichte nie erfuhr. Letzthin erschien es ihr sinnvoller, Christina lediglich zum Stillschweigen zu verdonnern und ihr die möglichen Folgen eigenmächtiger Lynchjustiz zu erklären, so weit sie für eine Vierjährige verständlich waren, was darauf hinauslief, ihr mit Hausarrest, Puppenentzug und dem Ausbleiben von Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenken zu drohen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Ein paar Jahre hielt sie sich auch daran, dachte Emmi und lächelte. Bis zu dem Tag, als Fritze Woitzack vom Dach fiel. Sie drehte das Portemonnaie um und schüttete eine Handvoll Kleingeld auf das stehen gebliebene Fließband, von der anwachsenden Schlange Ungeduldiger hinter ihr mit drohendem Murren zur Kenntnis genommen.

Als sie, zwei pralle schaukelnde Plastiktüten am Lenker, in Schlangenlinien und im Schneckentempo die Kastanienallee zurück radelte, schob sich eine breite schwarze Wolkendecke drohend über die Hügelkette jenseits des Flusses, und der Wind frischte merklich auf. Es war schwül geworden, und die Luft roch nach Gewitter. Ob sie es noch bis nach Hause schaffte? Beide Dachfenster standen weit offen.

Killerwitwen

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