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2.

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Der Anzeiger für‘s Koppstedter Land brachte auf der ersten Seite Dramatisches. Tragischer Todesfall überschattet Endspiel zwischen SV Achternhausen und TUS Bienstock. Ein verwirrter Rotfuchs, der am Vorabend aus dem Wald gehetzt kam, über den Rasen wetzte und zwischen den Beinen der ebenfalls hin- und herwetzenden Fußballspieler die Orientierung verlor, war so unglücklich unter die Spikes eines Stürmers geraten, dass er noch auf dem Spielfeld seinen schweren Verletzungen erlag. Allerdings erst, nachdem er wild um sich geschnappt und diverse Waden erwischt hatte, was im Nachhinein zu einer allgemeinen Panik führte, als man am Maul des Fuchses grünlichen Schaum entdeckte.

Der Hundertjährige Kalender verkündete für den zweiten Tag im Heumond:

Regnet’s am Tag unsere lieben Frauen,

da sie das Gebirg tät beschauen,

so wird sich das Regenwetter mehren

und 40 Tage nacheinander währen.

„Ach du liebes Bisschen“, murmelte Emmi Nichterlein und spähte aus dem Esszimmerfenster in den blauer Himmel, über den noch ein paar zerzauste Wölkchen huschten; die Nachboten des Orkans, der tags zuvor recht halbherzig über Koppstedt gefegt war. Es würde ein schöner, trockener Sommer werden, mochten die Wetterfrösche auch noch so unken. Die Schafskälte Anfang Juni war ausgeblieben, der Siebenschläfer knochentrocken gewesen und oben am Ribbenkopp, dem Koppstedter Hausberg, blühten seit zwei Wochen die Winterlinden. Der mickrige Sturm zählte nicht.

Später am Vormittag beugte sich Emmi über die wuchtige Emaillebadewanne im hinteren Kellerraum - dem einzigen Erbstück ihrer Mutter - und ließ Wasser in die grüne Gießkanne laufen. Das übrige Mobiliar aus dem Elternhaus war, samt Charlotte Nichterlein selbst, durch eine als Ballast über Koppstedt abgeworfene Bombe eingeäschert worden, während Emmi in einer Göttinger Munitionsfabrik am Fließband stand und ihr kleiner Bruder die bayerische Verwandtschaft in den Bergen heimsuchte.

Wie immer ärgerte sie sich angesichts der Wanne im Keller. Dieser Hermann! Wenn er damals bloß gleich zum Wohnungsamt gefahren wäre, als im Anzeiger der Artikel über die neu erbaute Reihenhaussiedlung Am Birkenpfuhl erschien, vielleicht hätten sie dann noch eines der Eckhäuser mit den großen Badezimmern ergattern können. Aber nein, Hermann musste natürlich erst einmal seinen heroischen Entschluss, Hausherr zu werden, in der nächstbesten Eckkneipe feiern, und als sein Kater endlich aufhörte, so kläglich zu miauen und die Augen wieder aufschwollen, da waren die Eckhäuser bereits an Ausgeschlafenere wie Sauerbachs und Woitzacks vergeben.

Typisch!

Und dann dieses dämliche Getue und all das verlogene Theater, als er mit den Papieren für eines der Mittelhäuser vor ihrer wütenden Nase herumwedelte und sich als Held feiern lassen wollte. Wie er beim Einzug am 1. Juli alles in den Himmel lobte. Die hellhörigen Pappwände zu den Nachbarn, die knarrenden Holztreppen, die Leitungen, die nicht einmal unter Putz verlegt worden waren und sogar diese quadratische kleine Abstellkammer hinter der Haustür, zu der sie fortan Badezimmer sagen sollte. Und abends betrank er sich, weil Lübke Bundespräsident geworden war und nicht Carlo Schmid von den Sozialdemokraten.

Wie oft träumte sie in jenen Tagen, am Arm Cord von Herkensteins in atemberaubendem Ballkleid die große Freitreppe des Gutshauses hinunterzuschweben, umtost von frenetischen Beifallsrufen Hunderter geladener Gäste, ein kleines silbernes Krönchen in der Lockenpracht, während Kindermädchen mit sanften Liebkosungen die Herkenstein’schen Erben in den Schlaf wiegten.

Was für ein Traum!

Stattdessen schnarchte ihr besoffener Hermann so laut seinen Rausch aus, dass die Nachbarn gegen die Wand klopften, und in den provisorisch hergerichteten Dachkammern stritten sich drei quengelnde Gören über kindliche Nichtigkeiten. David ging zum Zeitpunkt des Einzuges bereits in die dritte Klasse, Stefan wurde nach den Sommerferien eingeschult, Julia war zwei und von dem vierten ihrer Kinder, welches das Schicksal und Hermanns Sperma für sie bereithielten, wusste sie Gott sei Dank noch nichts. Das Leben jammerte auch so im Tal, und Emmi jammerte stumm um Cord von Herkenstein, der aussah wie Errol Flynn.

Und als sich Christina, ihr viertes Kind, dann auch noch anmeldete – ach du liebes Lieschen. Zu einem Zeitpunkt, wo sie sich auf der Straße nach Centstücken bückte, weil Hermanns großprotzige Zukunftsvisionen kläglich im Doppelkorn ertranken, und Emmis Hoffnungen längst vom Treibsand des Alltags verschluckt waren. Sie fuhr heimlich mit dem Bus aufs Land, aber die alte Hebamme, die noch vor dem Krieg all die kleinen Korrekturen vorgenommen hatte, über die man nicht sprach, wurde just im Moment ihrer Ankunft mit den Füßen voraus aus ihrer Kate getragen. Als auch die heißen Bäder und die schwere körperliche Arbeit das Ei nicht veranlassen konnten, seine verbissene Umklammerung mit der Gebärmutter aufzugeben, fügte sich Emmi notgedrungen in ihr Schicksal. Christina kam als rosiger Wonneproppen auf die Welt, ein süßes Baby mit schwarzen Haaren und blauen Augen, die heute noch so blau leuchteten wie damals. Mit ihrer später sommerbesprossten Stupsnase und dem entschlossen vorgereckten Grübchenkinn geriet sie weder dem Nichterlein’schen noch dem Rieffenbach’schen Familienzweig nach, und Emmi durchfuhr gleich beim ersten Anblick der Gedanke, sie sehe aus wie der längst verblichene Cord von Herkenstein.

„Bist du sicher, das Kind ist von mir?“, hatte Hermann dann auch misstrauisch im Krankenhaus gefragt und sich kritisch im Spiegel über dem Waschbecken beäugt.

Emmi stellte die halb gefüllte Gießkanne ächzend in der Wanne ab. Der harte Wasserstrahl aus dem Hahn prasselte auf das grüne Plastik, und es spritzte ihr kalt ins Gesicht.

Ob sie wohl auch mit dem Wissen jeden Samstag zum Baden in den Keller geschickt zu werden so verbissen darauf bestanden hätte, auf die Welt zu kommen?, dachte Emmi. Und vor allem so holterdipolter. Ich hab’s damals ja kaum bis ins Krankenhaus geschafft.

Christina und ihre Spinnenangst. Wie sie schon als Kleinkind unter ihrem Arm gebrüllt und gezappelt hatte, und wie sie später immer erst nackt und bibbernd um die Ecke des weißen Plastikvorhanges schielte, ob auch keine Spinne von der feuchten Decke gefallen war und mit schwarzen haarigen Beinen im Wasser paddelte, um sich auf sie zu stürzen, sowie sie in die Wanne stieg. Jede Woche aufs Neue ein Kampf. Tränen, Geheul und schließlich das ganze Repertoire elterlicher Machtworte mit diversen Androhungen. Und von jenseits der Kellerwand brüllte Ilse Taubes Thomas, der zwar keine Spinnen fürchtete, aber unter einer ebenso unheilbaren Wasserphobie litt.

Und dann, eines Tages, nahm das Drama tatsächlich seinen Lauf, und auch Hermanns wütendes Brummen später, die Weiber hätten das Ganze schlichtweg herbeigeredet, viel zu viel Aufhebens um Christinas Spinnenangst gemach, und die Kinder verweichlichten bei diesen modernen Erziehungsmethoden nur, konnte die Folgen der Tragödie nicht mildern.

Was für ein Sonnabend. Das Mädchen hockte zitternd im heißen Wasser und schrubbte sich unter angstgepeinigtem Umherspähen in Windeseile ab, als über ihr an der Decke ein altersschwacher Methusalem von einem Weberknecht wasserdampfbetäubt den Halt verlor und keine Elle vor Christinas Brust ins Wasser segelte. Als Emmi bei dem Gekreisch herumfuhr und vor Schreck ein Zwetschgenglas aus dem Kellerregal mit dem Eingemachten fegte, kam es gerade zur Katastrophe. Christina sprang in wilder Panik auf, ihr hochschnellender Körper hinterließ im Wasser einen Hohlraum, der augenblicklich eine kräftige Unterströmung auslöste, und als sie stand, pappte der noch zappelnde Weberknecht an ihrem Bauchnabel fest.

Emmi schüttelte lächelnd den Kopf und drehte den Wasserhahn zu.

Am Abend vor ihrer Konfirmation war das gewesen. Mein Gott, wie konnte ein kleines Mädchen nur so laut brüllen. Und um sich schlagen. Schließlich musste sie mit einer halben Adumbran zu Bett gebracht werden, und bei dem feierlichen Gottesdienst am nächsten Morgen schlief sie ein und rutschte unter die Kirchenbank.

Eine Woche später – wie erbittert Hermann und sie sich in diesen Nächten über das Trinken und die unerreichbaren Eckhäuser mit den großen Badezimmern gestritten hatten - da saß Christina wieder in der Wanne, mit zusammengepressten Lippen und diesem seltsamen Blick in den aufgerissenen blauen Kinderaugen, während Emmi - Hermann war wohlweislich in die Dicke Wirtin geflüchtet - mit verschränkten Armen auf der Badematte stand und das Mädchen beaufsichtigte.

Und am nächsten Tag, dachte Emmi und schloss die Kellertür zum Garten auf, habe ich mir den linken Arm gebrochen, als ich die Treppe hinunterging und auf einen ihrer Rollschuhe trat, der halb verborgen im Schatten der letzten Stufe stand. Und Hermanns ganzer Stolz, seine Streichholztitanic, lag zerquetscht unter dem dicken Weltatlas, der auf unerklärliche Weise aus dem Bücherregal gerutscht war.

Was ihre Fähigkeit zu konsequentem Handeln betraf, schlug Christina eindeutig dem Rieffenbach’schen Familienzweig nach.

Emmi schleppte die schwere Gießkanne die Steinstufen der Kellertreppe hinauf. Jenseits der großen, vom Regen hässlich gewordenen Bastmatte - sie trennte die Terrassen der beiden Mittelhäuser voneinander - hörte sie das monotone Schrubben der ollen Taube. Wieder einmal. Seit vierzig Jahren jeden zweiten Tag dasselbe Geräusch. Erst schrubbte sie die Terrasse, dann die Steine des Gartenweges. Energisch und unermüdlich. In Kittelschürze und mit nach hinten gebundenem Kopftuch, die Wangen vor Anstrengung gerötet, die großen grauen Augen mit dem schwarzen Wimpernkranz blitzend vor Genugtuung, der hölzerne Stiel des Schrubbers in festem Griff. Sie schrubbte alltags, an Sonn- und Feiertagen, bei Hitze und Kälte. Selbst nach einem Eisregen im Winter sah man sie gelegentlich auf Socken über die Steine schliddern, einen dampfenden Eimer mit heißem Wasser in den rot gefrorenen Händen. Erst wurde abgetaut, dann geschrubbt

Die Luft roch nach Seifenlauge und Grillwürstchen. Eine Schwalbe segelte im Tiefflug über Emmis Kopf und ließ sie ärgerlich die Stirn runzeln. Sollte etwa der Wetterfrosch im Radio mit seiner Unkerei doch recht behalten?

„Unsinn“, wisperte sie energisch, „es wird ein schöner Sommer.“ Und schlich sich auf Zehenspitzen längs der Hecke zum Steingarten. Nur keine schrubbende Nachbarin wecken.

Heute konnte sie darüber lachen, wenn sie an Hermann und seine erste Begegnung mit Ilse Taube zurückdachte, aber damals? Eine neuerliche Bestätigung seiner schwerenöterlichen Veranlagung. Seiner Bereitschaft, sie für jeden flatternden Frauenrock beiseitezuschieben, was er auch buchstäblich tat, als er Ilse Taube erblickte, obgleich sie keinen flatternden Rock trug, sondern lediglich eine geblümte ärmellose Kittelschürze. Ein göttlicher Anblick. Eine kittelbeschürzte Aphrodite mit schulterlangen schwarzen Haaren, einem hellen Teint, großen grauen Augen, von dichten schwarzen Wimpern gerahmt und hohen Wangenknochen, die sich erwartungsvoll röteten. Rosenrot stieg zu Hermann aus dem Märchenbuch herab, und Hermann schmolz wie ein Schneemann auf einer Sonnenbank.

Dass vom Eckgrundstück auf der anderen Seite eine spatenbewaffnete, busenwogende Walküre mit tizianroter Lockenpracht über frisch aufgeworfene Erdschollen herüberstapfte, bekam er in seiner Verzückung überhaupt nicht mit. Die Blendung der nymphenhaften Elfe mit dem poetischen Namen Ilse Taube überstrahlte alles. Ilsekind, wie ihr Mann sie rief. Oder Täubchen. Was für ein peinlicher, entwürdigender Augenblick. Hermanns Gestalt wuchs, seine Muskeln strafften sich, er zog den Bauch ein und drückte die Brust heraus, und Emmi konnte sich noch genau daran erinnern, sich just in dem Moment, als die kittelbeschürzte Aphrodite auf langen schlanken und nackten Beinen über die schmale Grenzrinne der brachen Grundstücke sprang und mit ausgestreckter Hand auf Hermann zuschwebte, sich unwillkürlich nach dem Fleischmesser auf dem Terrassentisch umgesehen zu haben. Überflüssigerweise, wie sich gleich darauf herausstellte, denn Hermanns Ego erschütterte nur Momente später ein Schock, der ihn zeit seines Lebens ungläubig den Kopf schütteln ließ.

Rosenrot blieb stehen, ihre zarten Finger verschwanden in Hermanns rauer Pranke, das wohlgeformte Näschen kräuselte sich, sie öffnete die rosigen, fein geschwungenen Lippen und krähte mit durchdringender Kastratenstimme: „Siiiieee, is’ das man die Schubkarre von Sie, die mein Jochen, der wo mein Männeken is’, in die Gasse da vorn den Weg versperrt?“

Nie zerplatzte ein Traum fixer als in diesem Moment. Hermann zuckte wie von einer Flintenkugel getroffen zusammen, seine Augen weiteten sich in maßloser Verblüffung, sein Brustkorb sank ein, die Schultern sackten nach vorn, und ein grämlicher Ausdruck bohrte sich in seine Mundwinkel. Ach Gottchen, wie schadenfroh sie damals feixte nach der ersten Verwirrung. Viel zu früh und viel zu unbedarft. Das war’s dann wohl, mein Lieber, flüsterte sie bereits, während doch das Drama erst seinen Anfang nahm. Nicht Ilse Taube sollte ihr den Hermann wegnehmen, sondern die rothaarige Walküre, die ihm wenig später von hinten auf die Schulter tippte, mit grünen Augen anblitzte, in denen goldene Lichter vielversprechend funkelten, und mit einem warmen, etwas heiseren Alt sagte: „Mein Name ist Lola Woitzack und wir sollten einmal auf gute Nachbarschaft anstoßen, Herr Nichterlein.“ Und Hermann versank zum zweiten Mal an diesem Morgen – und zwar für die Dauer von siebenundzwanzig langen Jahren - zwischen wogendem Busen und kräftigen Schenkeln. Bis zum Vorabend des Tages, an dem ihn das Beerdigungsunternehmen Heimkehr in den Sarg nagelte, ihren Hermann und seine vom Anstoßen versteinerte Leber.

Diese Schlampe! Emmi spähte in den verwilderten Woitzack’schen Garten und verzog das Gesicht. Innen pfui und außen pfui. Bah!

Doch gleich darauf lächelte sie wieder zufrieden. Wie immer, wenn sie ihren Steingarten betrachtete. Schön sah er aus im Sommer. Die blauen Glockenblumen wiegten sich im Wind, die Hornveilchen, weiß, gelb und lila, wuchsen bunt durcheinander, der Goldflachs strahlte mit der Sonne um die Wette, der Thymian duftete gegen Seifenlauge und Grillwürstchen an, und die Nachtkerzen hatte der Sturm geplättet. Zwei dicke Hummeln rauften sich um die Stachelnüsschen, der Zitronenfalter auf dem Storchschnabel klatschte mit den Flügeln behäbigen Beifall, und über dem kleinen Teich am Fuße des Steingartens, einer eingebuddelten, zerbeulten Zinkwanne, schwebte majestätisch eine bunt schillernde Libelle.

Sie atmete tief durch und hangelte sich dann mit der schweren Gießkanne von Trittstein zu Trittstein. Und plötzlich schoss ihr die verrückte Idee durch den Kopf, auf Hermanns Grab einen zweiten kleinen Steingarten anzulegen, und bei der Vorstellung an sein empörtes Knochenklappern prustete sie laut los. Ein schwerwiegender Fehler, denn die Schrubbgeräusche auf Nachbars Terrasse endeten abrupt, und Emmi biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Natürlich, man konnte schleichen, wie man wollte, die olle Taube hörte alles. Und das, obgleich sie immer klagte, sie litte unter einem schrecklichen Tinnitus in beiden Ohren und höre rein gar nichts mehr! Emmi schüttelte wütend den Kopf. Sie wusste, was ein Tinnitus war und wenn die Taube wieder mit ihrem eingebildeten anfing, würde sie ihr diesmal ganz bestimmt ein paar Takte dazu sagen. Alte Hexe, die!

Eilige Schritte näherten sich, dann knarrte die Kiste, welche die olle Taube seit zwei oder drei Jahren brauchte, um über die Ligusterhecke sehen zu können. Obgleich die Hecke in all der Zeit immer auf die gleiche Höhe zurückgestutzt wurde - mit angelegter Messlatte - standen die Nachbarinnen eines Tages in ihren Gärten und stellten verblüfft fest, sich nicht mehr in die Augen sehen zu können. Es lag an dem vermaledeiten Rückwärtswachstum. Irgendwie schrumpfte der Körper mit zunehmendem Alter. Eine Zeit lang unterhielten sie sich noch von Haarschopf zu Haarschopf, bis auch diese hinter dem grünen Blättergewirr entschwanden, und gerade, als Emmi sich, nach dem Verstummen jeglicher Heckengespräche und damit auch der Taubeschen Seitenhiebe, dieses erfreulichen Aspektes ihres Rückwärtswachstums bewusst wurde, kramte die erfindungsreiche Taube einfach nach einer Kiste.

Füße schabten auf Holz, Emmis Nackenmuskulatur spannte sich, und die Kopfhaut begann erwartungsvoll zu kribbeln. Gleich würde die Nachbarin sie ansprechen. Egal, womit sie sich beschäftigte, ob sie Zeitung las, im Liegestuhl auf der Terrasse schlummerte oder Kaffeegäste bewirtete, die olle Taube krähte ungeniert dazwischen. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal den Mund halten, wenn sie, Emmi, auf der Wäscheleine einen Stepptanz probierte. Sie zwang einem die Unterhaltung auf, wie eine Mutter ihrem brüllenden Sprössling im eisigen Winter die Pudelmütze aufzwingt. Es gab kein Entrinnen. Nichts half. Kein Abwenden, keine plötzlichen Hustenanfälle oder gekonnte Stakkatonieser, kein heiseres Krächzen und stumm mit dem Finger auf den gebrochenen Kehlkopf zeigen. Höchstens tot umfallen, obgleich ihr bestimmt auch dazu noch das eine oder andere einfiele. Die Taube begann zu krähen, wann sie wollte, krähte, solange sie wollte, und hörte ebenso abrupt wieder auf, wenn sie des Krähens müde wurde.

Ein lautes Räuspern ertönte. Emmi ignorierte es und bückte sich, um einen Grashalm aus dem Ehrenpreis zu zupfen. Wie lange mochte es wohl gedauert haben, bis die Evolution in der Taubeschen Ahnenreihe diejenigen Sprachgene ausgemerzt hatte, die weniger als zehn Worte pro Sekunde hervorbrachten und weniger als drei Seitenhiebe pro Rede. Meist blieb nur, den ungehemmten Wortschwall der ollen Taube stumm über sich ergehen zu lassen, die hinterhältig ausgelegten Fußangeln zu extrahieren und, wenn einem, was eher selten war, eigene Redezeit vergönnt war, gebührend zu kontern.

Hermann hatte immer mit unwilliger Bewunderung gebrummelt: „Wenn die mal stirbt, muss man ihr das Maul noch extra totschlagen!“ Und nun lag Hermann auf dem Friedhof, und die olle Taube quasselte ungerührt weiter. Wen sie in Grund und Boden schwatzte, schien ihr egal; Müllmann oder Generaldirektor, niemand blieb verschont. Die Lehmann’sche von gegenüber behauptete sogar, sie ab und an auf den Stachelbeerbusch einreden zu hören.

Zu allem Überfluss verfügte die Taube über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, das sie jederzeit und in wohldosierten Häppchen abrufen konnte. Sie wusste, wer mit wem, wann, warum und wie lange, wieso Brunners Enkel nicht zu Ostern aber Meiers Tochter zu Weihnachten kam, warum Anskar Blum zum Geburtstag von seiner Großmutter eine Ohrfeige erhielt und was er daraufhin seinen Eltern schrieb und an welchen Zaunpfählen Rosenstocks Dackel Dreizehn bevorzugt sein krummes Bein hob.

Sie wollen etwas über Emmi Nichterlein, geborene Rieffenbach, wissen? Aber gern doch:

In Koppstedt geboren. Vater Ludwig Rieffenbach, Holzfabrikbesitzer, Mutter Charlotte, Ehemann Hermann, Suffkopp und verstorben, Kinder David, (50 Jahre), Stefan (48), Julia (43) und Christina (31); Enkel: Raoul (13), Magdalena (11), Roberto (5) und Friederike (9 Monate). Zu welchem Thema darf ich Ihnen nähere Informationen präsentieren? Gewicht, Schuhgröße, Liebschaften?

O nein Sie, dem ihr Oller trug man nur die gute Unterwäsche von Schiesser, als ob die’s so dicke hätten!

Emmi blieb gebückt, während sich das Kribbeln von der Kopfhaut nun auch die Wirbelsäule hinuntertastete, und zupfte einen verirrten Erdrauch aus dem Steinbrechpolster. Lautlos begann sie zu zählen: eins – zwei – drei …

„Morgen Frau Nichterlein!“, krähte die Taube in einer Lautstärke, das ein weiteres Ignorieren unmöglich machte.

Sie richtete sich ächzend auf, und während ihre Füße auf dem schmalen Trittstein umeinander herumtapsten, zwang sie ein unverbindliches Lächeln in die Mundwinkel.

„Morgen Frau Taube.“

Der Startschuss war gefallen, das Rennen begann.

„Was für ‘ne hübsche Bluse Sie da anhaben, Frau Nichterlein. Na ja, manchen steht ja grün nich’, die meisten sehen so ausgespuckt aus, wissen Sie, aber das kommt wohl auch auf den Farbton an. Frau Lemke ihre Tochter, die hat auch so eine grüne. Die Schwester von der, die Sophie, Sie wissen schon, das is’ die, wo immer so verquollen aussieht – also mein Jochen hat ja immer gesagt, das is ’n Luder und die säuft auch – aber egal, jedenfalls hat die gesagt, ihre Schwester hat sich auch so eine gekauft. Bei Charme & Anmut für 19.90 Euro. Genau die, wo Sie da anhaben. Wissen Sie, alles konnten die im Sommerschlussverkauf ja auch nich’ loswerden, ein paar Ladenhüter bleiben immer liegen. Also die steht Sie wirklich gut, wenn sie auch ein büschen blass macht. – Überhaupt, Sie haben sich ja heute Morgen so hübsch gemacht, mit die Cremes und das alles. So kenn’ ich Sie ja gar nich’. Kommen die Kinder endlich mal wieder zu Besuch? Ne? Na, macht auch nichts, wer nich’ will, der hat schon. Also mein Thomas, Sie wissen schon, der wo mein Ältester is’, wenn der mit die Lütten sonntags zum Mittagessen kommt, dann sagt er immer: Ich versteh’ das gar nich’, Mutsch, die Frau Nichterlein, das is’ doch so ‘ne Nette. Das der ihre Kinder so selten kommen. Ob die sich verkracht haben? – Nee, nee lassen Sie mal, das will ich ja gar nich’ wissen, geht mir ja auch nichts an, und glauben Sie mich oder glauben Sie mich nich’, dass der Thomas immer am Sonntag mit die Lütten zum Essen kommt, das is’ ja auch nur, weil er sich so ‘ne Polnische zur Frau genommen hat. Und wissen Sie, was dieses Luder macht? Jeden Sonntag, da redet sie doch dem Jungen ein, das sie wieder ihre Migräne hat und gar nichts machen kann, und der Dämlack, der glaubt sie das auch noch. Das is’ ja man so ’n ganz Sensibler, mein Thomas. Und wenn er dann wieder nach Hause kommt mit die Lütten, dann flegelt sich das Luder doch immer noch im Bette rum, und er muss noch mal los und von der Tankstelle ‘ne Pulle Wein holen, weil sie sich dann besser tut entspannen können. Migräne! Das is‘ ja lachhaft. Ich sag’ nur: Hempels unterm Sofa! Jochen, nu is‘ er auch schon seit vier Jahren unter die Erde, also mein Jochen, der sagte immer, wie man sich bettet, so liegt man. - Aber jetzt muss ich mal weiterschrubben. Am Wochenende, da sollen es nämlich über dreißig Grad werden, hat die Frau vom Heinrich gesagt. Sie wissen schon, von meinem Schwager seinem Bruder die Frau und die is’ ja man so ’ne Spökenkiekerin. Und was die in die Glotze immer sagen, da können Sie ja nu gar nichts mehr drauf geben. Heute Nachmittag, da will ich denn noch schnell mal nach dem Friedhof, die Margrittens pflanzen und mein Männeken begießen. Der vertrocknet mich ja sonst noch. Vier Jahre is‘ er nu schon da oben. Wie doch die Zeit vergeht! Und wissen Sie was, mein Jochen, das war doch ’n nobler Mann. Zu alle Welt immer freundlich, und die Wilcke von der Heinestraße, Sie wissen doch, die bucklige Alte, die damals auf der Kastanienallee vom Auto überfahren wurde, also die hat schon vor vierzig Jahren zu mich gesagt: Täubchen, sagte die, mit deinem Jochen, da hast du doch ‘nen großen Treffer gelandet. – Übrigens, auf ’m Markt, da gibt‘s die Margrittens für fuffzig Cent das Stück. Is’ ja schon büschen spät für Stiefmütterchen und nu, wo ich letzte Woche das Efeu rausgerissen hab’, das sieht ja man so schofelig aus – da is‘ es mir doch reinweg zu nackicht auf meinem Jochen. Obwohl der immer gesagt hat: Ilsekind, du kannst mich alles ins Haus holen aber keine Margrittens nich’, weil davon läuft mich doch nur der Rüssel. Aber glauben Sie mich, jetzt läuft dem sein Rüssel nich’ mehr, da kann ich auch Margrittens pflanzen. - Und da wir gerade beim Friedhof sind, was glauben Sie wohl, was der Jochen jetzt für Nachbarn hat? Also, da muss ich mal von vorn anfangen. Sie kennen doch dem Bauer Hippel sein Bohnenfeld, das an den Friedhof grenzt. Ja, nich’? Also, die Frau von dem Ollen, die is’ doch vorm Jahr mit ’nem Tommy durchgebrannt von der Kaserne da oben – nach Oldenburg sollen die gezogen sein. Und der Olle hat sich dann ´ne Jungsche angelacht. Und die hat nu sein ganzes Geld durchgebracht und is’ dann mit dem Bruder von der Frau des Hippel, die wo nach Oldenburg is’, ebenfalls durchgebrannt, und der Olle is’ nu pleite und musste sein Feld an die Stadt verkaufen, weil er die Hyptheken auf’s neue Haus nich’ zahlen kann. Und die Stadt, die macht nu den Friedhof größer, und zwar genau neben meinem Jochen sein Grab. Die Bohnenstrunke sind umgepflügt, und nu sind da schon drei neue Gräber. Von heute auf morgen. Und jetzt halten Sie sich fest. Wissen Sie, was auf den Grabsteinen steht? Klöppel!!! Nu gucken Sie, was? Da soll mich doch der Deibel holen, wenn die nich’ in das Barackenlager oben am Ribbenkopp gehörten. Na, nu tun Sie man nich’ so dämlich, ich meine die, wo ihr Hermann immer zu seiner Gaitana hinging. Die hießen doch auch alle Klöppel! Und jetzt liegt mein Jochen genau neben diese Leute, das muss ’n Mensch doch erst mal verkraften tun! Nee, nee, Sie brauchen gar nichts zu sagen. Sie und Ihre liberalen Ansichten, die kenn’ ich schon, aber ich weiß besser, was das für ’n Pack is. Wissen Sie noch, wie ich in die Sechziger im Konsum an der Ecke gearbeitet hab’? Damals kamen die vom Ribbenkopp immer zum Einkaufen dahin, die Frauen, die wurden vorgeschickt mit ’nem vollen Korb an die Kasse, und die Männer sind hinterhergedackelt mit ihren schwarzen Augen, aber ob Sie‘s glauben oder nich’, wenn die ganze Sippschaft rausging, dann beulten sich bei die Männer unten an den Beinen die Pluderhosen immer so auf, wissen Sie, irgendwie eckig sah das aus, und einmal, da riss das Gummi bei einem der Kerls und haste was, biste was rutschten dem doch zwei Weißbrote aus der Hose. Was sagen Sie nu? Und es is’ ja man nich’ so, dass ich was gegen die Ausländers habe, gar nichts hab’ ich gegen die, aber die oben am Ribbenkopp, das is ‘ne andere Chose. Na ja, mein Jochen, der hat schon zu Lebzeiten immer gesagt: Mein Gott, Ilsekind, was haben wir aber auch immer Pech mit den Nachbarn. Und nu erst recht. Nu wird er sich im Grabe umdrehen. - Is’ das mein Telefon? Ja? Na, das wird wohl mal wieder mein Thomas sein, der Döskopp, ob er am Sonntag mit die Lütten kommen kann, wegen der Migräne von seiner Polnischen. Wissen Sie was, richtig miesepetrig sehen Sie aus, das is‘ mich vorhin gar nich‘ so aufgefallen. Und so geschwollen unter die Augen. Haben Sie nich’ gut geschlafen? Nu, nu ich komm ja gleich. Tschüsschen, Frau Nichterlein, vielleicht sollten Sie sich ’n büschen hinlegen. Die Monika, die soll sich ja auch ‘ne Grippe geholt haben, Sie wissen schon, die Mittlere von Schröders, die wo die Kleine gestorben is’ und das Würmchen im Pathologischen gelandet is’, weil die Nachbarn bei der Polizei gesagt haben, der ihr Freund, der soll’s tot gemacht haben. Jetzt sitzt sie beim Aldi an der Kasse.“

Unvermittelt schnellten die grünen Triebe der Hecke wieder zusammen, Kopf und Kopftuch verschwanden, Schritte trappelten auf die Terrasse, eine Tür knarrte, das Schrillen des Telefons wurde lauter, dann, peng, klappte die Tür energisch zu, und das Schrillen wurde zum leisen Schnarren und verstummte schließlich.

„Grundgütiger“, murmelte Emmi erschlagen und schwankte auf ihrem Trittstein mitten im Steingarten. „An die werd’ ich mich mein Lebtag nicht gewöhnen.“ Wie konnte der Allmächtige einer so gut aussehenden Frau nur ein so schreckliches Mundwerk angehext haben. Kein Wunder, dass jeder zurückschreckte, sobald ihre Zunge loslegte.

Und dann begann, wie immer, der Ärger an ihr zu nagen. Miesepetrig sah sie also aus, und die neue Bluse war ein Ladenhüter. Hermanns Gaitana musste die Olle natürlich ebenfalls erwähnen. Und dann der Seitenhieb mit den Kindern und ihren seltenen Besuchen. Diese alte Hexe mit den Grübchen in den Wangen und den tadellosen Zähnen. Bekam die Taube etwa Altersflecken oder Rettungsringe um die Taille? O nein, alle im Birkenpfuhl jammerten, nur sie nicht. Sie sah immer noch so aus wie vor zwanzig Jahren und war lediglich geschrumpft. Nicht einmal die dunklen Haare wollten sich grau färben. Die Blum mit ihrem Glatzkopf und den aufgeschwollenen Lippen bekreuzigte sich sogar hinter ihrem Rücken und murmelte neidvoll etwas von Zauberei, während sich der alte Brunner in aller Öffentlichkeit dafür aussprach, in der Sackgasse einen Scheiterhaufen für Lästermäuler zu errichten.

„Aufs Rad flechten“, sagte Emmi grimmig. „Oder ersäufen!“

Sie stapfte wütend in den Keller und füllte die Gießkanne zum dritten Mal.

„Es gibt keine Werte mehr in der Welt“, brummelte sie und goss die Gänsekresse und ihre Zehen.

Erst als im Steingarten das Wasser kaskadenartig über die Trittsteine rann, stellte sie die leere Gießkanne ab und stapfte immer noch wütend den Gartenweg hinunter. Den Birnbaum auf der kleinen Rasenfläche brauchte sie nicht mehr zu gießen, er sollte ohnehin gefällt werden und seit ihrem halbherzigen Versuch mit der rostigen Säge im letzten Herbst streckte nur noch ein mannshoher Torso anklagend ein paar Armstümpfe gen Himmel, aus denen lange grüne Triebe sprossen.

Wenn David kommt, dachte sie vage und pflückte die letzten reifen Erdbeeren von den Büschen am Fuße der Ligusterhecke. Die meisten hatten sowieso schon die Schnecken gefressen, vor allem die großen roten Nacktschnecken, die unter den Füßen so eklig zerplatzten, wenn man auf sie trat. Letztes Jahr war sie erst böse ausgerutscht, und ab und an tat ihr immer noch das Handgelenk weh. Seitdem stellte sie biergefüllte Schälchen aus, aber den Schnecken schmeckten die Erdbeeren offensichtlich viel besser als das Bier. Ob sie vielleicht die falsche Sorte kaufte? Oder lebten heutzutage auch die Schnecken gesundheitsbewusster und nahmen Rücksicht auf ihre Leber? Hatten sie überhaupt eine Leber? Emmi runzelte nachdenklich die Stirn und betrachtete die Erdbeeren in ihrer Hand. Wenn sie die Nachzügler nicht in den Mund, sondern in eine Schale sammelte, könnte es für Sonntag vielleicht für zwei kleine Torteletts reichen. Erdbeertorteletts mit frisch geschlagener Sahne. Lecker!

„Lass das“, sagte sie streng. „Oder willst du ein Fettkloß werden?“

Die olle Taube, die aß schon seit zwei Monaten Spargel mit Buttersoße und nahm kein Gramm zu. Aber sie selbst brauchte ja nur den Kühlschrank zu öffnen, und ihre Waage kreischte vor Empörung. Erbost stopfte sie sich die Handvoll Erdbeeren in den Mund. Irgendetwas krabbelte auf ihrer Zunge. Sie schluckte energisch, und das Krabbeln hörte auf.

In diesem Sommer würde es eine Menge Stachelbeeren geben, die beiden Büsche saßen voll. Schade, dass keines ihrer Kinder Stachelbeeren mochte. Sie holte die Heckenschere aus dem Haus, öffnete das Gartentor und schnitt ein paar vorwitzige Triebe ab, die schon ziemlich weit in den Fußweg zwischen den Reihenhäusern hineinragten. Die Kuhn, diese gelbgesichtige, hakennasige Zimtzicke, beschwerte sich sonst nur wieder. Das war so eine Hundertprozentige, eine ehemalige Volksschullehrerin, die im Frühjahr ihren Vorgarten mit einem exakten Schachbrettmuster aus gelben und blauen Stiefmütterchen bepflanzte und gnadenlos alles ausmerzte, was sich dazwischendrängen wollte.

Was für ein hässlicher Weg; kein Vergleich mit dem bunten Kiesweg vor ihrem eigenen Reihenhaus! Graue Platten mit abbröckelnden Ecken; einige waren sogar in der Mitte schon durchgebrochen, und zwischen ihnen schaufelten unermüdliche Ameisenvölker Millionen von kleinen Sandkörnern auf das Grau der Steine. Jedenfalls so lange, bis die Kuhn mit ihrer Sprayflasche Ameisentod kam und anschließend mit dem Handfeger Leichen und Sand fein säuberlich in die Ritzen zurückfegte. Dann gab es für eine Woche Ruhe, bis ein neues Ameisenheer die Ritzen eroberte und die Schaufeln zückte.

Und weil sie die Heckenschere einmal in den Händen hielt, schnitt Emmi gleich noch die langen Kantenhalme des Rasenvierecks rund um den Apfelbaumtorso und fand einen kleinen toten Spatz, der von Maden und allerlei sonstigem Getier schon halb ausgehöhlt war und nahe daran, die untere Hälfte seines Schnabels zu verlieren. Sie packte ihn an der letzten seiner Schwanzfedern und trug die Leiche mit spitzen Fingern zum Komposthaufen vor den Stachelbeerbüschen, zusammen mit einer dicken schwarzen Made, die seitlich zwischen den Miniaturrippchen herausbaumelte und sich schaukelnd mittragen ließ.

Nachdem die wuchernden Grastriebe gekappt waren, kam sie nur ächzend wieder in die Höhe. Diese verflixte Bandscheibe. Doktor Kühne sagte natürlich, das seien nur altersbedingte Verschleißerscheinungen und grinste sich eins, als sie die Geschichte von David und dem alten Schuhschrank erzählte. Wie er über den Teppich stolperte und sie so plötzlich das ganze Gewicht des Schränkchens allein tragen musste. Und wie es just in diesem Moment laut knackte in ihrem Rücken, damals vor fünf Jahren und zwei Monaten. An demselben Tag, als Julias drittes Kind, Roberto, zur Welt kam und Julia ihr Angebot nach Hildesheim zu kommen, um auf Raoul und Magdalena aufzupassen, so unfreundlich ablehnte.

In der Äskulapschlange hatte sie kurz nach diesem Schuhschrankunfall einen Artikel über Bandscheibenschäden gelesen. Prolaps! Häufig als Folge einer traumatischen Einwirkung. Und dieser Tag war doch wohl traumatisch genug gewesen. Seitdem litt sie schließlich immer wieder unter heftigen Schmerzen, die rechte Hüfte knirschte seltsam, und gelegentlich zog sie sogar das Bein nach.

Neben sensiblen Störungen kann es zu motorischen Ausfallserscheinungen bis hin zur Lähmung kommen.

Aber der Kühne wusste es natürlich wieder einmal besser, und darüber hinaus machte er sich sogar noch über sie lustig, als sie wiederholt über Hüftbeschwerden klagte. Ja, du meine Güte, Frau Nichterlein, Sie trinken mir doch nicht etwa? Gerade vor Ihnen hat der Herr Sowieso auf demselben Stuhl gesessen und über dieselben Schmerzen geklagt. Und im Vertrauen gesagt, der ist wahrscheinlich der größte Saufbold in ganz Koppstedt!

Dieser unverschämte, arrogante Schnösel von einem Arzt. Der alte Frisch hätte sich eher die Zunge abgebissen, als so daherzureden, aber die Respektlosigkeit der heutigen Jugend machte nicht einmal mehr vor kranken Menschen halt.

Sogar Christina lachte am Telefon, als sie sich entrüstete.

Es war wohl das Schicksal der Welt, dass die Guten ausstarben und die Schnösel nachrückten. Die jungschen Besserwisser, die nicht einmal Medikamente verschrieben. Medikamente haben Nebenwirkungen, Frau Nichterlein. Gehen Sie lieber ins Kräuterhaus. Aber über das Kräuterhaus, da würde sie dem Kühne am Montag schon die Meinung geigen. Hundert Gramm Taubnesselblüten für dreiundzwanzig Euro und neunzig. Und die Nieren taten ihr trotz des Tees weh. Allerdings musste sie seitdem alle naselang zur Toilette rennen. Vielleicht profitierte ja wenigstens die Blase von den teuren Blüten und wurde mal tüchtig durchgespült. Hatte die Lehmann‘sche nicht erzählt, dass die Süderholz aus der Kastanienallee erst letzte Woche an einem Blasenkatarrh gestorben war?

„Dreiundzwanzig Euro und neunzig!“, murmelte Emmi entrüstet und humpelte die Kellertreppe hinunter, eine Hand auf dem zweiten und dritten Wirbel der Lendenwirbelsäule - ihrem Prolaps.

Die Turmuhr der Apostel-Paulus-Kirche schlug zwölf. Zeit fürs Mittagessen.

Im Nachbargarten schrubbte die olle Taube den Gartenweg.

Ich muss Hermann gießen, dachte Emmi. Aber nicht heute. Sonst lauf ich auf dem Friedhof noch der Ollen in die Arme.

Killerwitwen

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