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3.

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Ravioli aus der Dose und eingemachte Stachelbeeren als Kompott.

Wie lange war es eigentlich her, dass sie ein vollständiges Essen gekocht hatte – mit Fleisch, frischem Gemüse und Kartoffeln? Letzen Sonntag? Nein, da gab’s Tiefkühlpizza mit Eiscreme. Und davor ...? - Richtig, zu Davids Ehren vor fünf Wochen, Ende Mai. Er kam, um ihr oben im Wohnzimmer die neuen Stores, beige mit Schmuckborte, aufzuhängen, oder besser gesagt hatte er kommen müssen, weil sie ihn nachdrücklich herzitierte. Mein Gott, wie die Zeit verging und wie er wieder schmollte, ihr Ältester. David der Rührmichnichtan mit seinen braunen vorwurfsvollen Augen. War das nötig?, fragten sie in stummer Verzweiflung. Musstest du ausgerechnet mich anrufen? Und ausgerechnet an diesem Wochenende?

„David gramt mal wieder mit der Welt“, pflegte Hermann immer zu sagen, wenn er seinen Sohn schmollend in der Ecke fand. Keines seiner Kinder beherrschte das wortlose Schmollen so meisterlich nuancenreich wie David. Jeder Widrigkeit des Lebens wurde ein ganz spezifisches Schmollen entgegengesetzt, und auf einer Intensitätsskala von eins bis hundert stand ein erzwungener Besuch in Koppstedt bei neunundneunzig.

Aber war es nicht ihr gutes Recht, ihn herzuzitieren, nach der Geschichte mit dem Schuhschrank vor fünf Jahren und zwei Monaten, diesem knackenden Trauma in ihrem Rücken? Sollte sie etwa selbst die Leiter aus dem Keller schleppen, die Arme hoch über den Kopf recken und das Gewicht der schweren Stores ausbalancieren?

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Allein bei der Vorstellung kreischte ihr Rücken gemartert auf, die Schultergelenke wimmerten, die Arme fielen kraftlos an den Seiten herab, der hölzerne Rührlöffel plumpste zu Boden, und die Tomatensoße der Ravioli spritzte an ihre Beine und den Herd.

„Ich sag’s ja!“, sagte Emmi.

In der nächsten Woche würde sie David eine Kopie des Prolaps-Artikels aus der Äskulapschlange schicken: Motorische Ausfallerscheinungen infolge eines Bandscheibenschadens. Prolaps! Selbst Schäden im unteren Lendenwirbelbereich verursachen mitunter indefinite Schulter-Hals-Syndrome mit eingeschränkter Beweglichkeit der Extremitäten. Sollte er es doch selbst nachlesen.

Nicht einmal über seine ausstehende Beförderung hatte er reden wollen, ihr schmollender Herr Sohn. Er strafte sie mit der Kargheit seiner zäh über die Lippen tropfenden Worte. Ja und nein und bitte und danke. Und nein danke, o Wunder, als sie ihm die teuren Pralinen anbot, für die sie extra seinetwegen mit dem Bus in die Stadt gefahren war. Er verweigerte sich, obgleich seine Augen einen Moment lang ganz begierig aufflackerten.

Emmi kaute die Ravioli auf der rechten Seite. Wegen des Wackelzahns links unten, dem P1, wie Doktor Mirkowitz beim letzten Mal seiner Sprechstundenhilfe ansagte. In dem kleinen anatomischen Atlas, dem Werbegeschenk eines hausierenden Buchringvertreters, hatte sie daraufhin das Gebiss nachgeschlagen. P1 heiß erster Prämolar, erster Backenzahn, und als sie zwei Wochen später den Mirkowitz so ganz nebenbei aufforderte, sich doch auch mal den aufmüpfigen M2 unten rechts anzusehen, da blickte er nur belustigt auf, und sein hämisches Hä? brachte sie in arge Versuchung, kräftig zuzubeißen, als seine langen beweglichen Finger in ihrem aufgerissenen Mund herumfuhrwerkten. Jedenfalls musste sie wegen des renitenten P1 augenblicklich rechts kauen.

David bleckte bei der Geschichte nur stumm und kariös die Zähne, dieser Feigling, und wurde bei der Schilderung der Wurzelbehandlung des M2 noch blasser als gewöhnlich. Wenn der Junge seine Zahnarztphobie nicht bald überwand, bekam er noch lange vor ihr ein Vollgebiss. Außerdem lutschte er Pfefferminzpastillen wegen des Mundgeruchs. Dass seine Alice da nicht meckerte, obgleich sie doch sonst in allem so etepetete war!

Sie seufzte, und ein Nudeleckchen fiel ihr aus dem Mund.

David und sein stummer Widerstand. Dabei dauerte das Aufhängen der Stores nicht einmal zwei Stunden, und die Fahrt von Frankfurt nach Koppstedt, meine Güte, mit seinem neuen großen BMW, schwarz wie ein Leichenwagen, ging das doch ruckzuck. Bis Göttingen die Autobahn und dann nur noch ein knappes Stündchen über die Landstraße. So viel Aufheben um nichts.

Ich hätte sie länger auf dem Feuer lassen sollen, dachte sie ärgerlich und verfolgte die letzte Ravioli quer über den Teller. Die Füllung war nicht einmal lauwarm. Wie immer! Welch boshaftes Teufelchen rieb ihr da eigentlich ständig ihre eigene Blödheit unter die Nase? Das Alzheimersche? Oder lag es doch eher an ihrer zunehmenden Trägheit alltäglichen Dingen gegenüber? Bettwäschewechsel nur noch, wenn sie eine leichte Muffigkeit aus den Kissen schreckte, Saugen erst, wenn sich die Krümel hart in die Fußsohle bohrten und die Ravioli eben gedankenlos von der Herdplatte nehmen, sobald die Tomatensoße die erste Blase schlug. Es war niemand da, der protestierte, und ihr eigener Protest verscholl zwischen Gedanke und Ausführung.

„Alzheimer“, sagte sie laut, schrieb Ravioli länger im Topf lassen auf einen Zettel - mit drei Ausrufezeichen - und pinnte ihn mit einer Reißzwecke an die kleine aufgehängte Korkwand neben der Terrassentür. Gleich über den ausgeschnittenen Cartoon aus dem Anzeiger für‘s Koppstedter Land, der Gast und Kellner in einer Bilderfolge zeigte: „Was haben Sie heute als Menü? – „Der Herr Professor haben das Menü ja gerade gegessen!“ - „Gut. Dann möchte ich zahlen.“ – „Der Herr Professor haben soeben bezahlt!“ - „Hm – bin ich gegangen?“

Alzheimer!

„Ach verdammt noch mal“, hatte David unwirsch gemurmelt und wütend die Stores gebeutelt, als sie ihn harmlos fragte, ob nach der Gesundheitsreform die Kassen eigentlich noch die Kosten für Pflegeheimpatienten übernahmen oder ob man hilflose Alte jetzt einfach einschläferte.

Dieser dumme Junge. Wäre er nicht erst am Sonntag, sondern schon ein oder zwei Tage früher gekommen und sich von ihr vernünftig bekochen lassen, seine Alice brachte mit ihrem Schlankheitswahn bestimmt nur labbrige Salate auf den Tisch, dann hätte ihn sein stummer Vorwurf nicht selbst so hart getroffen. Und vielleicht wäre es ihm erspart geblieben, sich in seiner Ungeduld in den Stores zu verheddern und die eine Seite der Gardinenstange aus der Wand zu reißen. So rieselte Putz aus dem Loch in der Wand, David fluchte lauthals, und sie rührte Moltofill an.

„Warum konntest du nicht Julia oder Christina kommen lassen?“ So lautete sein erster Mehrwortsatz an diesem Tag.

Emmi lächelte grimmig.

Er war einfach an der Reihe gewesen. Immer klagte er über die große Entfernung und seinen ermüdenden Schichtdienst und glaubte, sich so einfach freikaufen zu können. Und wenn der Berg nicht zum Propheten kam, dann musste der Prophet eben Gewalt anwenden. O ja, sie wusste nur zu gut, dass keines ihrer Kinder gern nach Koppstedt kam und sie daher jedes Jahr wieder einen Rotationsplan zur rationellen Mutterbetreuung in Verknüpfung eigener Interessen aufstellten. Besuche so häufig wie nötig, aber so selten wie möglich. Seit gut einem halben Jahr wusste sie von diesen Plänen und auch, wer wann an der Reihe war. Raoul, Julias Ältester, hatte sie eines Tages angerufen und gesagt: „Oma, für einen Fünfziger erzähl ich Dir was!“ Seit damals verband sie mit ihrem Enkel ein geschäftliches Abkommen. Der Junge wollte Rennfahrer werden und übte sich auf einer Gokartbahn, was bedeutete, dass er ständig in Geldsorgen schwebte und auf gutwillige Sponsoren angewiesen war. Natürlich waren seine Zukunftspläne altersgemäß kindisch, schließlich lag sein dreizehnter Geburtstag erst ein paar Wochen zurück, und wahrscheinlich würde er nie Rennfahrer werden, aber, und so viel stand fest, auch kein perspektivloser Schlappschwanz wie sein Papa. Der Junge besaß Mumm, Unternehmungsgeist und das notwendige Maß an Skrupellosigkeit, um in der Geschäftswelt zu überleben, und bis er eines Tages in der Vorstandsetage irgendeines Multikonzerns aufräumte, bis dahin zahlte ihm seine Oma für jede interessante Neuigkeit über die Familie eine Prämie.

Julia verwunderte sich am Telefon immer noch über Raouls plötzliches Interesse am täglichen Geschehen im Hause Becker, und seine ungeteilte Aufmerksamkeit ihren persönlichen Problemen gegenüber versetzte sie in helle Begeisterung und ließ ihr mütterliches Herz vor Stolz anschwellen, wenngleich mitunter eine gewisse Besorgnis in ihrer Stimme mitschwang:

„Offensichtlich pubertiert er“, sagte sie nachdenklich, „obgleich er ja komischerweise überhaupt keine Pickel bekommt. Rupert meint, er hätte diese Stufe einfach übersprungen und würde viel schneller erwachsen, als wir es für möglich gehalten haben. Allerdings nimmt sein plötzliches Interesse manchmal recht sonderbare Formen an. Neulich nachts musste Rupert ihn unter dem Bett hervorfischen, als wir gerade Na-du-weißt-schon-was machen wollten.“

Im nächsten Brief schrieb Emmi ihrem Enkel Raoul, für Spannereien aus zweiter Hand zahle sie nichts, wohl aber für die Information, ob seine Eltern ernsthaft gedächten, die Zeugung der Fußballmannschaft weiterhin voranzutreiben. Raoul schrieb zurück, er habe im ganzen Haus kein einziges Kondom finden können, und da er seine Eltern aber immer noch in der Nacht von Samstag auf Sonntag sowie von Mittwoch auf Donnerstag aus dem Schlafzimmer stöhnen höre, befürchte er das Schlimmste, aber er habe im Internet eine Anzeige gefunden, das ein nigerianisches Ehepaar für fünfundzwanzigtausend Euro ein weißes Baby zu kaufen suchte und ob seine Oma gegebenenfalls als prozentual beteiligte Vermittlerin fungieren wolle. Emmi antwortete, sie werde darüber nachdenken, aber Raoul möge ihr doch bitte Bescheid geben, wenn er im Internet eine Anzeige zwecks Abgabe erwachsener Kinder finde. Sie gebe auch gern noch ein paar Euro dazu. Raoul schrieb zurück, angesichts der Inhalte ihrer Briefe halte er es doch für besser, sie unmittelbar nach dem Lesen zu verbrennen, und er bitte sie nachdrücklich, seinem Beispiel zu folgen. Von nun ab unterzeichnete er nur noch mit einem Fingerabdruck aus Tinte. Ein cleverer Enkel. Und bis dato stimmten seine Informationen aufs i-Tüpfelchen. Julia stürzte sich erneut in eine Schwangerschaft, Christina erschien gemäß seiner Ankündigung zu Weihnachten, David (ohne Alice) zu Ostern und Julia nebst Kinderschar am Pfingstsonntag. Zum Muttertag lieferte die Friedhofsgärtnerei Pauli drei mittelgroße Blumensträuße ab.

Raoul schrieb, der Rotationsplan sei auf dem Mist seines Vaters gewachsen, der es leid gewesen sei, immer zuhören zu müssen, wie Tante Christina seiner Mama vorjammere, alle erwarteten von ihr, öfter nach Koppstedt zu fahren, nur weil Göttingen näherliege als Hildesheim oder Frankfurt, und das sei nicht fair. Und nach diesem katastrophalen Siebzigsten - Raoul schrieb: der geilen Schlägerei - scheine das allgemeine Besuchsinteresse noch stärker nachzulassen. Raoul beendete seinen Brief mit: „Mama hat Papa angeschrien, wenn er Tante Alice auch nur noch einmal ansieht, dann würde sie ihn mit demselben Messer kastrieren, mit dem Papa immer den Kälbern die Eier abschneidet.“

Nach dem ersten Grimm fand Emmi die Idee eines Rotationsplanes gar nicht mal so schlecht, und nach zwei Tagen billigte sie das Ergebnis der kindischen Verschwörung nicht nur, wie sie die Zusammenrottung ihrer Kinder bei sich nannte, sie begrüßte es sogar. Im Pulk benahm sich die Familie wie eine Herde eifersüchtiger Hammel und blökte genauso unsinniges Zeug. Der katastrophale Siebzigste im November sollte ihr eine lebenslange Lehre sein. Aber obgleich sie im Prinzip die Kinderrotation gut hieß, kam ihr der aufgestellte Plan - Raouls schickte für einen Hunderter eine Kopie des Originals - etwas spärlich besetzt vor, und so hockte sie sich an den Esszimmertisch und erweiterte ihn nach eigenen Bedürfnissen. Zwischen Weihnachten (Christina) und Ostern (David) zitierte sie Mitte Februar Julia nach Koppstedt, um sich von ihr bei einer Frauensache beraten zu lassen, eine Formulierung, die Julias Neugierde weckte - und wieder einschlafen ließ, als sich bei ihrem übereilten Kommen die Frauensache lediglich als Beratung beim Einkauf diverser Schminkutensilien herausstellte. Die Spanne zwischen Ostern (David) und Pfingsten (Julia) war ausreichend kurz und benötigte keine Abänderung des ursprünglichen Plans. Aber zwischen Pfingsten (Julia) und August (Christina stand am ersten Wochenende auf dem kopierten Plan) bestellte sie David zum Aufhängen der neuen Stores. Und nach Christina Anfang August und vor Davids turnusmäßigem Erscheinen zu ihrem Geburtstag im November würde sie erneut Julia bemühen müssen. Aus welchem Grund auch immer, seit Uronkel Heinrich war die Rieffenbach’sche Fantasie in Familienkreisen berüchtigt, und das Jahr konnte mit Christinas Erscheinen zu Weihnachten zu ihrer Zufriedenheit ausklingen.

Rupert und Alice, Schwiegersohn und Schwiegertochter, standen nicht auf dem Plan und mussten als Angeheiratete ohnehin nur zu Nullergeburtstagen oder Beerdigungen erscheinen, eine Tradition, die Emmi nach Kräften unterstützte, weil sie beide nicht mochte. Rupert war in ihren Augen ein dümmlicher Möchtegern-Bauer, mit dem sich ohnehin nichts anzufangen ließ, und Alice eine arrogante Zicke, die sich in allem besser dünkte als der Rest der Welt. Seit ihrem Geburtstag herrschte sowieso Funkstille. Grundgütiger, was war sie damals auch so naiv gewesen, sich von diesem ganzen Siebzigerjahre-Trara derart mitreißen zu lassen. Eine Familienfeier im großen Stil, so wie im Fernsehen, mit Sekt und einem Festessen und sie als strahlender Mittelpunkt einer großen glücklichen Familie. Was für ein Schmarren!

Es fing schon damit an, dass die Kinder im Vorfeld auf ihre Anregung sehr verhalten reagierten und ihr versuchsweise die persönlichen Opfer andeuteten, die sie ihr Kommen kosten würde. David musste seiner beleidigten Schwiegermutter absagen, Christina ihr Meditationswochenende in der Eifel und Julia und Rupert einen Aushilfs-Kuhmelker einarbeiten. Raoul schrieb später, in diesem Jahr sei der Rotationsplan etwas konfus ausgefallen, und ihr Geburtstagstermin sei versehentlich in den Januar gerutscht, was bei allen große Bestürzung ausgelöst habe. Aber nachdem sie so drängte und einmal, wie peinlich, beinahe sogar in Tränen ausbrach (die Kinder der ollen Taube hatten kurz zuvor deren Siebzigsten im Koppstedter Grand-Hotel ausrichten lassen!), da blieb ihren eigenen Sprösslingen natürlich keine Wahl mehr, als wenigstens zu erscheinen. Es war auch nicht so gewesen, dass sie sich nicht wirklich bemühten, sich in ihrer unterdrückten Gereiztheit nicht gegenseitig die Haare auszureißen. Sie kamen, lachten laut und nervös, standen sich und anderen im Weg herum, und die Enkel tobten ungezügelt durchs ganze Haus.

Erst als der vom Partyservice gelieferte Rollbraten nebst Leipziger Allerlei am Abend verzehrt war, der erste Sektkorken knallte und die große Bowle im Wohnzimmer auf dem Tisch stand, da entwickelte sich tatsächlich bis zu einem gewissen Grade eine angeheiterte Geselligkeit wie unter normalen Menschen ohne hemmende Verwandtschaftsgrade. Bis Alice, diese Etepetete in klappernden Stöckelschuhen, plötzlich den Geburtstag gründlich verdarb. Sie vertrug einfach einen Alkohol.

Emmi schüttelte verärgert den Kopf. Warum hörte dieser Junge auch nie auf sie? Dabei stand doch schon vor seiner Hochzeit klipp und klar fest, wie wenig er und seine Zukünftige zusammenpassten und was für einen schrecklichen Fehlgriff er zu ehelichen gedachte. Aber nein, David schmollte nur wieder, als sie ihn vorsichtig darauf hinwies, und sprach wochenlang kein einziges Wort mehr mit ihr. Und bei der Hochzeitsfeier brach Alices Mutter in Tränen aus, nur weil sie, Emmi, glaubte, in ihr eine Frau mit gesundem Menschenverstand gefunden zu haben, die der Lächerlichkeit dieser Verbindung offenen Auges gegenüberstand.

Obgleich es an ihrem Geburtstag eigentlich Julias Rupert war, der die Lawine auslöste. Ganz plötzlich schweifte er von Tinnitus und Prolaps ab und ließ sich über Reizwäsche aus. Vielleicht lag es ja daran, dass man von einem Maurer, der sich als Bauer versuchte, nichts anderes erwarten konnte, aber dass Julia, Alice und selbst Christina dann anfingen, sich gegenseitig zu überbieten und vor den offenmündigen Kindern mit BH-Größen, geschlitzten Slipzwickeln und was sonst noch für Schweinereien prahlten, hatte sie doch sehr verärgert. Kein Wunder, dass Alice mit einem Mal verschwand, wieder auftauchte und in einem rosa Flatternegligé durchs Zimmer tanzte - wie ein Schluckspecht hatte sie den ganzen Abend lang ihren Schnabel in die Bowle getaucht! Und natürlich wollte sie mal wieder alle anderen ausstechen.

Und dann erst David. Für eine Mutter wirklich beschämend zu sehen, wie sehr sich der Junge zum Narren machte. Musste er wie ein Springteufel mit hochrotem Kopf aufspringen und seine kreischende Frau quer durchs Zimmer jagen? Hätte eine einfache Ohrfeige nicht ausgereicht? Ein wenig mehr zupackende Vernunft und der albernen Göre wäre keine Zeit mehr geblieben zu stolpern und auf Ruperts Schoss zu landen. Was für ein Kuddelmuddel!

Rupert packte beherzt zu, Alice kreischte lauter, David brüllte vor Wut und zerrte an ihr, Rupert brüllte vor Lachen und hielt fest, Julia ging fauchend dazwischen, Magdalena und Raoul stießen im allgemeinen Getümmel das Goldfischglas um, was ihnen die erste mütterliche Ohrfeige ihres Lebens einbrachte und dem Goldfisch ein frühes Ende, weil er irgendwie unter die Füße kam. Roberto flüchtete sich auf Christinas Schoss und nuckelte verschreckt am Daumen, und das Baby wachte auf und begann zu schreien. Zwei Häuser weiter klopfte sogar der kleine Erwin Sauerbach verschreckt gegen die Wand und flüsterte: „Ruhe bitte!“ Im hinteren Reihenhaus erhellten sich die Fenster, eins nach dem anderen, das grimmige Gesicht des alten Brunner schob sich aus der Dachluke, und bei Nichterleins nahm der Siebzigste bedrohliche Formen an.

Während Alice und Julia im Chor mit den Enkeln heulten, schubsten sich David und Rupert durchs Wohnzimmer wie zwei brunftige Elche und drohten sich Unflätigkeiten an, bis David rücklings über eine umgeschlagene Teppichecke stolperte und sich das Steißbein anknackste. Dies war sonderbarerweise für beide das Zeichen, sich die Hände zu reichen. Rupert zum Aufhelfen, David zum Hochziehen und beide zur Versöhnung.

Und während all des Chaos saß Christina mit Roberto auf dem Schoss in ihrer Sofaecke, mit geschlossenen Augen offensichtlich fernöstliche Buddhas anrufend, und murmelte ein ums andere Mal: „Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Wirklich, ich weiß gar nicht, was ihr habt.

Wessen dumme Idee war es nur gewesen, ihren Siebzigsten groß feiern zu wollen?

Morgens um halb vier trat dann endlich Ruhe ein, und während sich der Rest der Familie auf die übrigen Zimmer verteilte, schleppte Emmi die alte Gartenliege aus dem Keller ins Esszimmer, stopfte zwei Decken in einen Bezug, ein Sofakissen unter ihren berstenden Schädel, wedelte den Zigarettenqualm vom Gesicht und dachte: Nie wieder!

„Nie wieder!“, wiederholte sie energisch und kroch auf der Suche nach einer vermissten Ravioli unter den Tisch.

Der nächste Morgen war ein Sonntag gewesen. Ein makellos blauer Vorwinterhimmel wölbte sich über einer frühen Neuschneedecke, die in Myriaden von Kristallen in der Sonne funkelte. Alice hing würgend über der Kloschüssel und flehte die Götter um einen schnellen Tod an, was David böse murmelnd befürwortete, Julia und Rupert sahen am Frühstückstisch demonstrativ aneinander vorbei, Magdalena und Raoul zielten unter dem Tisch nach diversen Schienbeinen, Roberto war nächtlings gegen ein Tischbein gelaufen und sah noch ganz benommen aus unter der dicken Stirnbeule, und das Baby verweigerte die Mutterbrust. An Christina dachte man erst, als das Frühstück bereits vorbei war. Sie hatte sich – der Himmel mochte wissen, warum – in der hinteren Dachkammer eingeschlossen und dabei versehentlich den Schlüssel abgebrochen.

Kinder!, dachte Emmi kopfschüttelnd und trug das Geschirr zur Spüle. „An meinem Achtzigsten fahre ich auf eine unbewohnte Hallig!“

Und dann ganz plötzlich hatte sich der Frust aller gegen sie gerichtet. Nur, weil sie sagte, damals, im Krieg, da habe man in den Luftschutzkellern noch viel enger aufeinandergehockt, ohne sich gegenseitig die Kehlen durchzubeißen, aber die heutige Jugend sei viel zu egozentrisch und verwöhnt. In Nullkommanichts formierten sich die zerstrittenen Kinder und Kindeskinder zu einer gemeinsamen Angriffsfront. Bis auf Raoul, dem zwei Strippen aus den Ohren ragten, die ein permanentes Dum-Dum-Dum von sich gaben und ihn konzentrierten Gesichtes ständig nicken ließen. Aber so war es schon immer gewesen. Die Kinder stritten sich, Mutter sprach ein Machtwort, und schwuppdiwupp avancierte sie zum Staatsfeind Nummer eins, den es sofort niederzubrüllen galt. Gemeinsam, versteht sich.

Auch eine Art, die Familie zusammenzuhalten.

Ob Julia überhaupt ahnte, was sie sich mit ihren vielen Kindern antat? Den Vieren, die ihr jetzt schon auf der Nase herumtanzten und dem Fünften im wohlgerundeten Bauch? Hoffentlich zog Mutter Natur von sich aus bald einen Schlussstrich. Die olle Taube krähte erst neulich wieder: „Die Asylantens, die kommen ja man auch immer mit ihre ganze Kinderschar bei uns an und dann können sie die nich’ mal durchfüttern und sitzen vorm Kaufhaus und tun betteln.“ Und im Satz zuvor hatte sie sich nach Julias Schwangerschaft erkundigt. Was für ein scheinheiliges, hinterhältiges Biest. Gott sei Dank ahnte sie nicht einmal, auf was für einer heruntergewirtschafteten Bioklitsche die Julia festsaß mit ihrem Maurer-Bauern, den Grübchenkartoffeln und Runzelmöhren. Mit verschrumpelten Äpfeln, die mehr lebendiges Fleisch als Fruchtfleisch enthielten und der im Holzbottich gestampften Butter ihrer zehn Kühe. Kein Wunder, dass sich dem Mädchen seit einiger Zeit ein verbissener Zug um den Mund eingrub. Aber von diesem Schlappschwanz von Mann konnte man ja nichts anderes erwarten. Warum musste Julia ausgerechnet so einen verträumten Spinner heiraten? Warum keinen Studierten? Oder wenigstens einen Krabbenkutterkapitän wie Taubes Susi? In das nächste fällige Geburtstagspaket legte sie ganz bestimmt ein Päckchen Kondome. In Geschenkpapier eingewickelt, mit einer großen roten Schleife und Ruperts Namensschildchen. Vielleicht erklärte ihm dann mal jemand, was Geburtenkontrolle bedeutete. Die beiden wurden doch jetzt schon kaum mit ihren Rangen fertig, was sollte da erst werden, wenn die ganze Bagage erwachsen war?

„Denn sie wissen nicht, was sie tun“, murmelte Emmi düster. „Alle miteinander nicht!“ Julia mit ihrer Engstirnigkeit, der fraulichen Fruchtbarkeit ihren Lauf lassen zu wollen, David mit seinem Schlagstock, von dem Alice in ihrer Trunkenheit am Geburtstag behauptet hatte, er lege ihn manchmal im Ehebett neben sich und Christina ...

Tja, Christina war wohl ein besonderer Fall. Der erste Spross der Familien Nichterlein und Rieffenbach, der eine akademische Karriere anstrebte, studierte, mit summa cum laude abschloss und sich bereits während ihres Studiums eine Feststelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Amerikanistik sicherte. Der Stolz und Neid der gesamten Verwandtschaft, jedenfalls bis zum Tag ihrer Doktorfeier, als sie ihren Nervenzusammenbruch bekam. Einen äußerst merkwürdigen Anfall, wenn man Emmi fragte.

„Eine sehr ernste psychische Krise“, hatte der Doktor im Göttinger Klinikum gesagt und sich mit dem Finger im Ohr gebohrt, während ein schwüler Duft nach Jasmin durchs offene Ordinationsfenster hereinströmte. „Nein, Schizophrenie nicht, Frau ... äh ... Nichterlein, so weit möchte ich nun doch nicht gehen, aber eine endogene Psychose liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Vielleicht auch ein frühkindliches Trauma mit postpubertären Auswirkungen. Soziale Probleme in der Familie? Suizidale Anlagen? Ein schweres Durchgangssyndrom? Drogenprobleme? Alkohol? Bis die Diagnose bestätigt ist, darf sie keinen Besuch empfangen. Tut mir leid!“

„Das Kind braucht seine Mutter und keinen unfähigen Quacksalber“, hatte sie empört geantwortet, aber es war nicht das Sesam-öffne-dich der Krankenzimmertür gewesen, sondern nur ein schneller Rausschmiss. Und als sie durch die verlassenen weißen Gänge der Psychiatrie mit den fest verschlossenen Türen irrte und endlich einer vorübereilenden Krankenschwester verzweifelt zurief, sie suche den Ausgang, da antwortete diese unverschämte Frauensperson doch tatsächlich Raus wollen hier alle und eilte weiter.

Frühkindliches Trauma! Dass sie nicht lachte. Und was für eine Unverschämtheit, sie anreisen zu lassen, nur um ihr mitzuteilen, ihre Tochter dürfe keinerlei Besucher - und schon gar nicht die eigene Mutter - empfangen. Aber seine Absicht war ja nur allzu leicht zu durchschauen gewesen. Aushorchen wollte er sie, weil er mit seinem Latein nicht weiterkam, um sich dann irgendeine dubiose Diagnose zusammenzuschustern. Frühkindliches Trauma, pah! Vielleicht sogar eine schwere Badewannenneurose, ausgelöst durch einen lebensmüden Weberknecht zwanzig Jahre zuvor. Und dafür durften diese Wichtigtuer nun jahrelang auf Kosten der Steuerzahler studieren!

Gott sei gelobt, es ging ihr ja schon wieder besser, der Christina. Seit zwei Wochen war sie aus der Psychiatrie raus, wohnte wieder zu Hause in ihrem kleinen Appartement und ging nur tagsüber in eine Tagesklinik, wo sie ihre Psychosen in Ton modellierte und wild herumtrommeln durfte. Wegen der Aggressionen.

Am Abend ihrer Entlassung rief sie gleich an und erzählte die seltsame Geschichte in allen Einzelheiten. Emmi fand bis heute, sie hätte ihr einige der Merkwürdigkeiten ersparen können.

„O ja“, begann sie mit finsterem Respekt, doch nicht ohne einen gewissen morbiden Stolz, „wirklich und wahrhaftig ein Nervenzusammenbruch!“ Christina haftete ja von klein auf schon etwas Seltsames an, etwas Eigenwilliges, das sich nicht in Worte fassen ließ, aber diese verrückte Geschichte übertraf alles bisher Dagewesene und ließ Emmi ungläubig verstummen, zumal sie all ihrer Konzentration bedurfte, um den Unsinn überhaupt zu begreifen.

Am Besten man dachte nicht weiter darüber nach. Das Kind hatte eine schwere Zeit hinter sich, war sicherlich überarbeitet und mit blanken Nerven ein leichtes Opfer für Halluzinationen jeglicher Art. So eine Doktorprüfung war schließlich kein Zuckerlecken, obgleich es Emmi ab und an doch in den Sinn kam, dass mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alle überarbeiteten Doktoranden einen derart peinlichen Zusammenbruch erlebten. Und dazu noch mitten auf dem belebten Rathausplatz in Göttingen, vor den Augen ihres Professors und all der Kommilitonen. Vor den Kameras eines slowakischen Fernsehteams, das über deutsche Traditionen berichten sollte. Grundgütiger, um Haaresbreite wäre sie hingefahren, um den großen Augenblick mitzuerleben, in dem ihre Tochter, Frau Doktor phil. Christina Nichterlein, die erste Akademikerin der Nichterleins und Rieffenbachs seit Anbeginn der Zeiten, in Talar und Barett auf den Gänselieselbrunnen kletterte und der Liesel einen Blumenstrauß in den bronzenen Korb legte. Dem zuckenden M2 links unten sei Dank, dass sie stattdessen in Mirkowitz‘ Behandlungsstuhl gelandet war. Es gab eben doch noch eine höhere Macht im Himmel.

„Alles paletti bis dahin. Aber dann ...“, sagte Christina mit einer natürlichen Begabung für Dramaturgie und stand in ihrer Schilderung noch einmal am Fuße des Brunnens. „Ich kletterte also auf den Brunnenrand und dann an der Gänseliesel hoch ...“

Und dann kletterte sie am Telefon in aller Umständlichkeit, bis der Strauß im Korb lag und sie in Glückseligkeit - jawohl, Mutti, in Glückseligkeit - der Gänseliesel die Arme um den Hals legte und sie küsste.

„So weit, so gut“, sagte Christina unheilvoll. „Aber dann – bäng -, da passierte es. Aus heiterem Himmel traf mich der Blitz ...“

Wie sie da so hing am Hals der Gänseliesel, ihre warmen Lippen auf die kalten bronzenen gepresst, da habe sie ganz plötzlich gespürt, wie auch ihre Lippen zu Bronze erstarrten - an dieser Stelle hatte Emmi kurz und heftig geschnauft, doch Christina fuhr unbeirrt fort - und nach den Lippen ihr Herz und dann - o ja Mutti, sogar meine Seele. Und mit der abschließenden Feststellung, dass sie sich mit bronzenen Armen eben nicht mehr hatte halten können, plumpste sie am Telefon noch einmal in den aufspritzenden Brunnen und weinte zwei Stunden lang bronzene Tränen, bis sie die Sanitäter aus dem Wasser klaubten, auf eine Bahre schnallten und in der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik an den Beruhigungstropf hängten.

Ob das Mädel wohl jemals erwachsen wird?, überlegte Emmi und schüttelte resigniert den Kopf. Was dachte sie sich nur bei all ihren verrückten Unternehmungen? Nudistencamps an der Ostsee, Erlebnisurlaub in einem französischen Atomschutzbunker, ein vorübergehender Umzug in einen Jägerhochstand im Göttinger Wald und natürlich, wie ließe er sich vergessen, dieser verhängnisvolle Hinterhofguru in Bombay. Konnte ein erwachsener Mensch mit über dreißig immer noch auf der Suche nach dem tieferen Sinn seines Lebens sein, so wie sich Christina ausdrückte. Sie, Emmi, war mit dreißig schon verheiratet und zweifache Mutter gewesen, und so sollte es auch sein, Doktortitel hin oder her. Stattdessen ließ sich Christina die Tarotkarten legen, schwang das Pendel und traf sich einmal im Monat zum Tischerücken mit irgendwelchen mystischen Okkultisten. Eines Tages goss sie sicherlich noch bei Vollmond auf einem Friedhof Silberkugeln oder schwenkte eine tote schwarze Katze im Kreis.

Was ihr fehlt ist ein Mann“, murmelte Emmi und schnitt sich am Kartoffelschälmesser. Sie hätte damals diesen Udo heiraten sollen, diesen ... diesen komischen Trottel, der offensichtlich seinen Stimmbruch verschlafen hatte. Aber immerhin war er ein reicher Trottel gewesen und mit fünfunddreißig schon Professor. Und was machte das Mädel? Sie teilte ihm aus heiterem Himmel mit, er strahle eine krankhafte Aura aus und jagte ihn damit in die Flucht! Hatte er nicht kurze Zeit später die Tochter eines Rossschlächters geheiratet?

Draußen jaulte Dackel Dreizehn kurz aber empört, und die energische Stimme der kahlköpfigen Blum tönte grimmig: „Lass das, Anskar oder es setzt was!“

Was wohl die olle Taube sagte, wenn sie ihr erzählte, es gebe jetzt eine waschechte Doktorin in der Familie? Und wie lange würde sie wohl brauchen, um weiterzutratschen, Christina stecke in einer Zwangsjacke in der Psychiatrie und habe Schaum vor dem Mund. Pschüchiatrie würde sie sicherlich sagen, aber verstehen täten es die Leute der Siedlung trotzdem.

Mütterlicher Neid umwölkte ihre Stirn und ließ sie die Unterlippe vorschieben. Wie kam es eigentlich, dass sich ihre Kinder so sonderbar benahmen, während ausgerechnet die beiden der ollen Taube, Thomas und Susanne, doch fast normal waren? Die Susi hatte es fein getroffen mit ihrem Krabbenkutterkapitän oben an der Nordsee, bewohnte ein schmuckes Häuschen und vermietete teure Ferienwohnungen an krabbenhungrige Feriengäste. Sie erstarrte weder zu Bronze noch träumte sie von der Zeugung einer Fußballmannschaft. Und Thomas arbeitete als Beamter in der Koppstedter Stadtverwaltung, zwar nur auf der unteren Verwaltungsebene und bestimmt schlechter bezahlt als David, dafür streichelte er im Ehebett mit Sicherheit keinen Gummiknüppel, sondern seine Polnische, mochte sich die olle Taube auch noch so giften. Außerdem schmollte er nicht, wenn er seine Mutsch besuchte, im Gegenteil, er kam sogar freiwillig, und der Schmatz, den er ihr zur Begrüßung auf die Wange knallte, scheuchte die Vögel im ganzen Birkenpfuhl auf. Ein sonniges Kerlchen, wenn auch vielleicht etwas zu klein geraten mit seinen ein Meter fünfzig. Die Lehmann’sche sagte, sie habe ihn neulich auf der Terrasse bei seiner Mutter auf dem Schoss sitzen sehen, aber der Lehmann’schen konnte man nicht trauen, die Demenz machte ihr zu schaffen.

Auf jeden Fall war Thomas kein Miesepeter wie David, der bereits seit seiner Geburt die Welt anschmollte. Zusammengepresste Lippen unter vorwurfsvollen Augen und einer nervös zuckenden Nasenspitze. Schon im Kinderbettchen verzog er schmollend das Gesicht, wenn sich Hermann in väterlichem Stolz über ihn beugte und mit den Ohren wackelte. Und so blieb es auch. David schmollte sich durch den Kindergarten, die Schule, den Bund, seine Ausbildungszeit und den Beruf, und dereinst würde er schmollend im Sarg liegen und vielleicht bis in alle Ewigkeit als schmollender Geist mit verschränkten Armen auf seinem Grabstein hocken.

Koppstedt mochte in seiner siebenhundertfünfzigjährigen Stadtgeschichte auf eine stolze Reihe Süchtiger zurückblicken, einen Schmollsüchtigen wie David hatte es mit Sicherheit noch nicht gegeben, davon war Emmi überzeugt. Und wenn er an seiner Umgebung nichts mehr zu schmollen fand, dann schmollte er über seinen Namen. Emmi fühlte sich immer wieder bemüßigt, ihm zu versichern, dass David nicht ihre Idee gewesen sei - sie war natürlich für Cord oder allenfalls noch Hubertus -, sondern der Wunsch seines Vaters zum Gedenken an seinen Freund David Eisenstein, der in Treblinka umkam. Aber das wusste David natürlich längst, ebenso wie er wusste, dass eigentlich Tante Mathilde und ihr Bibelspleen die Schuld an seinem Namenshass trugen.

„Mathilde, das Walross“, sagte Emmi versunken und angelte im heißen Wasser nach der Gabel. Ob sie wohl noch lebte, da oben in ihrem Kloster in der Schweiz? Wie hieß das doch noch gleich? Ürzi ...? Ürzel ...?

Als David zwei oder drei war, hatte sie schon zwei Zentner gewogen, und ihre fleischigen Arme drückten alles auf ihre wuchtigen Oberschenkel, was irgendwie nach Kind aussah. Außer ihren Eigenen vor allem aber David, und er hasste Tante Mathilde mit der ganzen Inbrunst seine Kinderseele. Er würgte beinahe, wenn sie ihn zwischen ihre gewaltigen Brüste presste und all die schrecklichen Davidgeschichten aus der Bibel erzählte. Hochreligiös war sie gewesen, die Mathilde und ein Fluch für jedes Kind mit biblischem Namen. Ihre eigenen zehn wurden in alphabetischer Reihenfolge nach den Aposteln benannt, fädelten Rosenkränze auf, wie andere Kinder ihres Alters bunte Glasperlen und mussten sich ständig bekreuzigen, weil in jeder Zimmerecke ein hölzerner Jesus hing. Sogar im Bad hing einer.

Üzlir ...?

Emmi ging mit tropfenden Handschuhen und ärgerlich gefurchter Stirn quer durchs Zimmer und drehte die verblichene Postkarte um, die seit zehn Jahren an der Pinnwand hing. Richtig. Das Kloster Ürzlicastel der Unbeschuhten Karmelitinnen. Wenn Julia nicht bald aufhörte, Kinder in die Welt zu setzen, würde sie eines Tages auch in ein Kloster flüchten müssen.

Jedenfalls war es Mathildens Schuld, wenn David lernte, seinen Namen zu hassen. Sie ließ keine Geschichte aus. David, der Goliath mit einer Schleuder zu Fall bringt. David, der König Saul für die Hand seiner Tochter Michal hundert Vorhäute der Philister bringen soll und zweihundert erbeutet, eine Geschichte, bei der er die Beine zusammenkniff, nachdem Hermann ihm in einem geheimen Vater-Sohn-Gespräch gewisse Verständnisfragen beantwortet hatte. David, der Wankelmütige im Dienst der Philister, David als König von Juda. David, der im kurzen Rock vor der Bundeslade tanzt und Harfe spielt und David, den sein eigener Sohn Absalom zu stürzen versucht. Und dabei wiegte Mathilde ihren Lieblingsneffen zwischen Schenkel und Brüsten, und Klein-David bekam nasse Hosen vor Angst.

Ob er deshalb keine eigenen Kinder haben wollte? Fürchtete er, Tante Mathilde könnte plötzlich Ürzlicastel und den Schweizer Bergen entkommen und sich seine eigenen Kinder zwischen Busen und Schenkel klemmen? Packte ihn die Angst, einen zweiten Absalom zu zeugen? Oder war seine Alice, diese Etepetete, am Ende gar unfruchtbar? Ob Raoul wohl etwas darüber in Erfahrung bringen konnte?

Mit sechs Jahren jedenfalls saß David eines Tages tränenüberströmt in seinem Zimmer und hielt ein brennendes Streichholz an ein Kinderbuch. David das Igelkind. Und mit David dem Igelkind wären beinahe auch David, der Schmoller und die ganze Nichterlein’sche Wohnung abgebrannt. Ein Jahr später verschwanden unter mysteriösen Umständen beide Hausbibeln, was Hermann, als Weihnachts- und Osterkatholiken, lediglich ein Schulterzucken und ein breites Grinsen abrang. Tante Mathilde konnte es ohnehin nicht von ihren Geschichten abhalten, sie kannte alle auswendig.

Die Bibeln verschwanden etwa zu der Zeit, als David in die Schule kam und entsetzt feststellen musste, dass Tante Mathildens Davidgeschichten mittlerweile ganz Koppstedt erobert hatten. Die Erstklässler erwiesen sich daher in diesem Jahr als besonders bibelfest, was den Religionslehrer, der einmal die Woche aus Göttingen anreiste, ernstlich verblüffte, und David ein Bündel packen ließ, um Tante Mathilde, den frotzelnden Mitschülern und allen anderen Philistern zu entkommen. Er schaffte es bis ins Nachbardorf Kleinheim. Dort wurde er vom Briefträger aufgegriffen und in Koppstedt wieder zugestellt.

Hermann hatte ihm nur das Bündel aus der Hand genommen und ihn ein klein wenig gebeutelt, und Emmi begrub stillschweigend ihre Angstfantasien von durchs Leinetal ziehenden, kinderraubenden Zigeunern.

Armer Junge. Aber wenigstens wusste er damals noch nichts von Fräulein Matthies, die in der dritten Klasse seine Musiklehrerin werden sollte. Sie lebte ja nun auch schon lange nicht mehr, die alte Matthies mit ihrem Pferdegesicht und den blauen Babyaugen. Im Krieg war sie HJ-Scharführerin gewesen, bei den Braunen Knilchen in Kreuzstadt, und nach dem Krieg verschlug es sie, warum auch immer, als Lehrerin in die Stadt. Sie unterrichtete die 3c in Musik und irgendwann in der Anfangszeit mussten ihr ein paar Davidgeschichten zu Ohren gekommen sein. Ob die biblischen oder weltlichen sei dahingestellt. Jedenfalls blieb ihr das Gemunkel in der falschen Kehle stecken, und sie trichterte der Klasse im ersten Halbjahr die israelische Nationalhymne ein: Solange im Herzen darinnen, ein jüdisches Fühlen noch taut ... Und weil es so schön war gleich noch einmal auf hebräisch: Kol od balewaw penima, nefesch jehudi homija ... Ihre kühnsten Fantasien aber gipfelten darin, David als Vorsänger mit glockenheller Stimme vor den disharmonischen Chor zu platzieren. Bis sie feststellte, dass er dem Rieffenbach’schen Familienzweig nachschlug und wie ein Rabe krächzte. Also musste er das Lehrerpult erklimmen, mit dem Gesicht zur Klasse stehen und beidhändig mit Bambusstöcken herumfuchteln.

Hermann brüllte vor Lachen als ihm David verdattert eine Eins im Zeugnis präsentierte.

Seine Heiterkeit hielt an, bis Fräulein Matthies eines Tages seinen Sohn in der Pause beiseite nahm und sich nach den häuslichen Ausübungen seiner Religion erkundigte. Ob seine Familie orthodox sei, mit zwei Besteckschubladen und diesen Gebetsriemen und all dem, na er wisse schon, was sie meine, und als er immer noch ratlos die Achseln zuckte, zischelte sie ihm ins Ohr, ob man ihm nicht als Baby irgendwas da unten weggeschnitten habe, was andere kleine Jungs noch hätten. Komm schon, David, sag’s dem Fräulein ...

Hermanns Grinsen erlosch, er rasierte sich, gurgelte mit Odol, nahm David an die Hand und brüllte die Lehrerin im Lehrerzimmer vor versammeltem Kollegium zusammen. Im nächsten Halbjahr sang die Klasse die amerikanische Nationalhymne und Erwin Wegener durfte dirigieren und sich in die rachitische Brust werfen. David bekam eine vier im Zeugnis.

Obgleich mit dieser Episode, einmal abgesehen von der Pubertät, als seine flachsenden Freunde die Vorhautgeschichte wieder aufleben ließen, sein Golgatha hinter ihm lag, flüchtete er sich mit achtzehn zum Bund und ließ sich auf zehn Jahre verpflichten. Seltsamerweise fiel es ihm nie ein, sich bei seinem zweiten Namen Rainer rufen zu lassen. David zu heißen schien ihm unabänderliches Schicksal zu sein – trotz seines Atheismus gottgewollt - und ein fester Pfeiler, wenn nicht gar das Fundament seines geliebten Schmollens.

Und die einzige Gelegenheit, seinem Namen ein modernes Ausspracheoutfit zu verleihen, verpatzte er an seinem fünfzehnten Geburtstag. Billy, ein Alliiertenkind aus England, mit seinen Eltern gerade in die Besatzungsreihenhäuser oben am Ribbenkopp eingezogen, rief ihn Dävid. Und der unfreiwillig Anglisierte ließ es sich eine Weile gefallen, das schmale Gesicht aber wurde immer angespannter, und plötzlich fuhr er herum und brüllte Billy an: „Ich heiße Daaavid, du Hornochse.“

So ein Dussel, dachte Emmi, schäumte mit dem Schwamm das Spülbecken ein, brauste den Schaum ab und polierte den Edelstahl mit dem karierten Geschirrtuch.

„Meister Proper putzt so glänzend, dass man sich drin spiegeln kann“, sang sie gedankenverloren.

Der tiefe Teller mit dem Goldrand und das gläserne Kompottschälchen kamen in den Hängeschrank über der Spüle, der Topf in den Schrank darunter, und Kelle und Löffel in die Schublade. Fertig! Ravioli mit eingemachten Stachelbeeren brauchten nicht viel Geschirr. Rouladen mit Mandelbrokkoli, Kroketten, Sahnesoße und Zitronenschaumcreme schon eher, aber als David kam, war das Geschirr, dass sie zur Vorbereitung brauchte, bereits wieder abgewaschen und während er die Stores oben im Wohnzimmer aufhängte, musste sie nur noch die Rouladen und die Brokkoli aufwärmen, die Soße anrühren und darauf warten, bis sich die Kroketten auf dem Backofenblech goldbraun färbten. Die Zitronenschaumcreme stand fix und fertig im Kühlschrank. Die geschlagene Sahne ebenfalls.

Angesichts des festlich gedeckten Tisches – mit Platzdeckchen und Servietten und dem schäumenden Bierglas neben seinem Teller – und vor allem angesichts der großen dunklen Rouladen, deren Bratenduft jeden Winkel des Hauses durchstreifte, angesichts all dessen taute die oberste Firnis von Davids Schmollen tatsächlich an, und einmal lächelten sie sich über die Teller hinweg sogar zu. Nur seine Augen schimmerten weiterhin vorwurfsvoll.

Mein Gott, wie hatte sie nur die Empfindlichkeit des Jungen vergessen können!

Emmi ging kopfschüttelnd durchs Esszimmer, trat auf die Terrasse hinaus und ließ sich einen Moment lang mit geschlossenen Augen von der Julisonne aufwärmen. Immer noch huschten sturmzerzauste Wolken über den Himmel, und eine schwarz maskierte Elster humpelte mit begehrlichen Blicken und einem abgeknickten Bein beutehungrig die Erdbeerbüsche entlang.

„Ksch!“, machte sie, und die Elster hüpfte beidbeinig und in doppelter Geschwindigkeit zurück.

Eine schwüle Hitze lastete über der Siedlung Am Birkenpfuhl, die Sonne stach mit tausend Speeren, und die Quecksilbersäule des Außenthermometers an der Hauswand war auf 24 Grad Celsius geklettert. Durch die brütende Stille klang aus einiger Entfernung das leise Kreischen einer Motorsäge herüber, die sich offensichtlich durch einen vom Sturm gefällten Baumstamm fraß. Wie es jetzt wohl oben am Ribbenkopp und in den Kleingärten unterhalb des Waldes aussah? Wenn sie morgen Hermann begoss, könnte sie eigentlich gleich vorbeifahren und in den Gärten nach dem rechten sehen. Sie verzog unwillig das Gesicht und klammerte das Geschirrtuch an die Wäscheleine zwischen Hauswand und Birnbaumtorso.

Wieso der Junge aber auch immer noch, mit fünfzig Jahren und bei seinem Beruf, so empfindlich reagierte? Natürlich passten Rouladen und BSE nicht zusammen, aber wenn David sich nicht gleich wieder so überheblich und besserwisserisch über die übertriebene Berichterstattung der Medien geäußert hätte, dann wäre es ihr doch nie in den Sinn gekommen, ihm in allen Einzelheiten zu schildern, wie das gewesen war im Fernsehen mit den hilflos herumtorkelnden Rindern, die schon auf den Weiden geschlachtet und noch zuckend mit großen Bulldozern zusammengebaggert wurden. Und wenn Alice, diese Etepetete mit ihrer Angst vor Elektrosmog – und das, obgleich sie wie ein Schlot rauchte - einen Fernseher im Haus duldete ... Aber so konnte der Junge ja gar nichts darüber wissen.

Sie seufzte und trampelte halbherzig mit den Füßen auf der Stelle, um die Elster endgültig zu vertreiben. Die drehte sich gelassen um und sah sie vorwurfsvoll an, während das verletzte Bein unter ihr wegknickte. Emmi warf einen Erdklumpen, und die Elster kreischte empört und flog davon.

Armer David. Wie gehetzt er plötzlich ausgesehen hatte, als sie ihm schilderte, wie im Schlachthof den Rindern die Köpfe abgetrennt wurden, damit die Veterinäre das BSE aus den Hirnen extrahieren konnten. Er bekam denselben gehetzten Ausdruck in die Augen wie seinerzeit Hermann, wenn er eine Schnecke im grünen Salat oder einen Wurm im Matjes fand.

Die Rieffenbachs sind härter im Nehmen als die Nichterleins, dachte sie zufrieden.

Und von BSE und den abgeschlagenen Rinderköpfen zu Hermann und dem Problem mit den sogenannten Wachsleichen zu kommen, die nicht verwesten, schien ihr auch im Nachhinein noch logisch. Vielleicht etwas gedankenlos, weil es doch um Davids Vater ging, aber immerhin lag er nun schon seit fünfzehn Jahren auf dem Waldfriedhof und wenn man nicht einmal mehr dem eigenen Sohn sagen durfte, was einem so durch den Kopf ging ...

Unsinn, murmelte David natürlich wieder, alle Leichen verwesen. Was blieb ihr da anderes übrig, als ihn zu widerlegen, von dem Stauwasserhorizont über den Lehmschichten zu erzählen, in denen manche Särge verbuddelt wurden, und richtig blass wurde er auch erst, als sie ihm erklärte, Regenwürmer und Käfer befänden sich nur in den oberen dreißig Zentimetern des Bodens und kämen folglich gar nicht erst in den Genuss der Leiche, und dass die Larven der Maden in den tieferen Bodenschichten, die eigentlich die Verwesung vorantrieben, in den Verstorbenen nicht schlüpfen könnten, weil die Kälte des Stauwassers einfach keine Schlüpftemperatur aufkommen lasse. Und dass sich durch seltsame chemische Reaktionen in dieser Stauwasseratmosphäre die Haut der Leichen in eine Art Wachs umwandle, was sie auf Jahrzehnte hinaus konserviere.

David hatte auf seine halbe Roulade gestarrt, die tot und still auf dem Teller lag und nur innen noch etwas rosig schimmerte, und das mechanische Mahlen seiner Kiefer – Hermann musste auch immer so langsam und ordentlich seine Bissen zwischen den kräftigen Zähnen zermahlen – war noch langsamer geworden und schließlich ebenfalls erstorben. Sie gab ja zu, einen unglücklichen Zeitpunkt gewählt zu haben, aber im Eifer des Gefechtes rutschte ihr doch auch nur die Frage heraus, ob David glaube, bei Hermann seien die Maden geschlüpft oder ob er jetzt wohl so aussehe wie der Ötzi aus dem Alpengletscher. Und während sie ihre Zitronencreme löffelte, hörte sie David im Badezimmer würgen. Er fuhr noch vor der nachmittäglichen Käsesahnetorte ab.

Emmi schloss die Terrassentür, stapfte schwerfällig die Treppe ins Wohnzimmer hinauf zu einem ihrer eher seltenen Mittagsschläfchen, weil sie und ihr Prolaps an den meisten Tagen das Hochkommen aus den weichen Polstern mehr fürchteten als einen durchgähnten Nachmittag. Oben hielt sie das Pendel der wuchtigen Standuhr an, ein Geschenk von David und Alice zum Siebzigsten.

„Grässlich“, hatte sie geschockt über die Lippen gebracht und schnell hinzugefügt. „Grässlich, teuer, meine ich!“ Später stellte sie fest, dass auf der Rückwand der Uhr ein Schild klebte. Made in Thailand und auf dem Garantieschein stand Mängelexemplar, kein Umtausch. Von Christina stammte die neue Badematte im Keller und eine aus Kupferdraht gebastelte Wünschelrute, von Julia und Rupert ein Korb mit Schrumpelobst, Käse, Eingemachtem und selbst gekeltertem sauren Wein. Und die Enkel hatten den armen Goldfisch geschenkt, der bei der Wohnzimmerrauferei unter die Füße geriet. Der Siebzigste Geburtstag!

Tempi passati, dachte Emmi erleichtert und in Gedenken an ihren Volkshochschulkurs Lateinische Redewendungen für den Hausgebrauch, zog die braune flauschige Decke über die Beine, drehte sich mit dem Gesicht zur Rückenlehne des Sofas und stöhnte wohlig in Morpheus Armen. Ein Martinshorn jaulte durch ihren Traum als sie Hermann die ausgeblichenen Rosenblätter aus Rilkes Cornet auf die tote Brust streute. Seine spitze Nase schob sich unter dem Laken hervor, und zahnlos mümmelte er: Rosen, Tulpen, Nelken bricht, aber unsre Liebe nicht!

Killerwitwen

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