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4.

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Eine gute Stunde später holte sie ein stakkatohaftes Keuchen von der Woitzack‘schen Seite der dünnen Wohnzimmerwand aus der Traumwelt zurück, und sie verzog angewidert das Gesicht. Die rote Lola! Früher hatten die Männer der Siedlung ihr ausschweifendes Liebesleben bestimmt. Die Heimlichen, die sich schwarzgekleidet im Dunkeln durch den Keller des Eckhauses schlichen und die Dreisteren, die nur etwas von Skatspielen im Schuppen murmelten und ungeniert hinüberschlenderten. Aber das war eben früher gewesen. Heute hatte die schier unersättliche Lust der roten Lola die Gelüste der wenigen, die aus ihrer Generation noch im Birkenpfuhl lebten, längst überholt, und die Leidenschaft der alten Recken ließ sich auch durch die Rotfärbung von Lolas grauen Locken nicht wieder anfachen. Sie musste selbst Hand anlegen.

Das Keuchen brach plötzlich ab. Noch ein lustvoller Seufzer. Dann nichts mehr.

Schamlose Person!

Emmi Nichterlein lupfte die Decke, richtete sich mit schmerzendem Rücken vorsichtig auf und streckte die steifen Gelenke. Degenerative Erscheinungen, behauptete der Kühne, dieser Dämlack, natürlich wieder. Die Knochen werden eben im Alter umgebaut, Frau Nichterlein, und mitunter geht es dabei etwas schmerzhaft zu. Sehen Sie zu, dass sie nicht noch dicker werde. Noch dicker! Unverschämter Kerl. Was konnte sie denn dafür, wenn mit einem rückwärts gerichtetem Wachstum der Körper auch automatisch in die Breite ging. Und 65 kg bei einer Größe von 1,64 waren beileibe nicht zu dick. Griffig, hätte Hermann wahrscheinlich gesagt. Oder üppig. Aber nicht dick.

Und eine simple Arthrose? Einfach lachhaft! Wahrscheinlich Arthritis, vielleicht sogar Polyarteriitis. Die Äskulapschlange schrieb bereits seit über einem halben Jahr an einer Serie über Gelenkerkrankungen und Bindegewebsschwächen, und den Symptomen nach litt sie zweifelsfrei an einer schweren Arthritis. Oder Polyarteriitis. Außerdem machte ihr das Rheuma zeitweise zu schaffen. Und das würde sie dem Kühne am Montagmorgen schon nachdrücklich verklickern, um elf bei ihrem Termin. Sie hatte noch das ganze Wochenende Zeit, sich all ihre Symptome aufzuschreiben, damit es ihr nicht so wie beim letzten Mal ging, als in der Praxis plötzlich der Alzheimer zuschlug, und der Kühne ungeduldig mit der Zunge schnalzte, während sie mühsam ihr Gedächtnis durchforstete und schließlich verzweifelt murmelte, es sei ja nicht nur der Rücken, sondern meistens auch der Kopf, manchmal die Beine, und mitunter fiele ihr vor Schwäche sogar die Pfanne aus den Händen. Gott, wie peinlich!

Aber diesmal würde sie ihm keine Gelegenheit geben, hinter ihrem Rücken die Augen zu verdrehen, um der netten Sprechstundenhilfe zu imponieren. O nein, diesmal nicht. Sobald er anfing, sie an das EKG anzuschließen, würde sie ihm ruhig aber bestimmt die ganze Liste vorlesen. Einschließlich der winterlichen Gicht in den Fingern. Bei Alzheimer half nur die Zetteltherapie. Mit steifen Arthritisknien stapfte sie die Treppe hinunter, die gichtigen Finger um das Geländer gekrallt.

Während der Kaffee durch die Maschine gurgelte, öffnete Emmi die Terrassentür und blinzelte ins helle Licht. Ein bisschen besser war das mit dem Blenden ja geworden, nach der dritten Operation vor knapp einem Jahr im Klinikum Göttingen, als die alte neue Linse wegen Materialermüdung gegen ein Nachfolgemodell ausgetauscht wurde. Allerdings musste es ein montagsmodell gewesen sein, denn seit dem Austausch nahm die Sehkraft auf dem Auge merklich ab. Man kann nicht alles haben, Frau Nichterlein, hatte der Hansemann phlegmatisch gemurmelt, als sie sich beschwerte. Seien Sie dankbar, dass Sie überhaupt noch was sehen.

In zehn Jahren bin ich blind, dachte sie, eine alte blinde Frau, die in Windeln durchs Pflegeheim kraucht und vergessen hat, wie sie heißt.

Sie atmete tief durch und beschirmte die Augen mit der Hand.

Schön war er, der Garten, wenn die Sonne durch die Wolkenlücken schien. Bunt getupft das Steinbeet unter dem blauen Sommerhimmelloch, sattgrüner Rasen rund um den Apfelbaumtorso und im Vordergrund die im Wind wippenden roten Geranienblüten in den langen grünen Blumenkästen auf dem Mäuerchen zwischen Terrasse und Garten. Selbst die Weinranken am Holzgitter zur Woitzack’schen Terrasse entwickelten sich prächtig und sahen längst nicht mehr so mickrig aus wie noch im letzten Jahr.

Eine wohltuende Ruhe lag über der Siedlung. Die Autos dösten antriebslos am Straßenrand der Sackgasse, ihre Besitzer dösten in nachmittäglicher Schlaffheit hinter zugezogenen Gardinen, aus dem offenen Wohnzimmerfenster von Sauerbachs im Eckhaus neben der Großen Wiese dudelte ganz leise ein Radio, und Emmi lächelte zufrieden. Die Menschheit mochte das Weltall erobern oder ein Atombombenschauer die übrige Welt zerstören, die Koppstedter Reihenhaussiedlung Am Birkenpfuhl würde unbeeindruckt weiter vor sich hindösen und nur noch ab und an und mit Schrecken dem Lachen und Schreien ballspielender Kinder gedenken, den lauten Sonntagnachmittag-Familienstreits aus offenen Terrassentüren, dem wütenden Gekeif zänkischer Frauen über Hecken und Zäune hinweg und natürlich dem Hosen-runter-Terassen-Gegröle Karten spielender Männer an lauen Sommerabenden.

Heutzutage grölte niemand mehr im Pfuhl. Diese Zeiten waren, dem Alter sei Dank, vorbei. Wer sie von den Männern erlebt und trotzdem überlebt hatte, wie Herbert Rosenstock oder der bucklige Brunner, litt mittlerweile an Magengeschwüren und Hämorrhoiden, trug Nierenwärmer und kaufte nach einem leberschonenden Diätplan ein. Selbst das Verdauungsschnäpschen blieb hohen Feiertagen vorbehalten, wenn sich der Bauch gar zu arg blähte. Der Schmidt vegetierte inzwischen als Pflegefall und röchelte nur noch, und der Rest der alten Garde lag entweder auf dem Waldfriedhof, wie Jochen Taube und Hermann, war bei Nacht und Nebel getürmt wie Kreszentia Kuhns Ehegespons oder entkam durch Scheidung wie Oskar Blum nach der Kahlkopfwerdung seiner Frau. Nur Erwin Sauerbach, seit Geburt der Mäßigung verschrieben, erfreute sich nach wie vor einer gesunden Gesichtsfarbe, färbte sein Schnurrbärtchen schwarz und teilte sich den grünen Salat mit seiner Gartenzucht rotäugiger Rassezwerghasen.

Wie überall auf der Welt hatten sich auch im Birkenpfuhl die Frauen dem Leben gegenüber resistenter erwiesen als ihre Männer. Mit Ausnahme von Frieda Schmidt, die bei der Geburt ihres zwölften Kindes kampflos kapitulierte, und mit Ausnahme von Ruthchen Brunner, die sich, ihr Mann mochte wissen warum, eines Tages am Ribbenkopp erhängte. Alle anderen jedoch lebten noch, allerdings unter Aufgabe gewisser Teile ihres Körpers. Aber sie begnügten sich gewissermaßen damit, an Organen zu erkranken, die mehr oder weniger entbehrlich waren und sich problemlos herausschneiden ließen, wie Eierstöcke, Gebärmütter, Brüste, Nieren und etlichen Metern Gedärm, während die Männer eher aufs Ganze gingen, zu Herzinfarkten, Lungenkrebs und Leberzirrhosen neigten und gleich wegstarben.

So gesellig wie früher würde es in der Siedlung wohl nie mehr werden, nicht einmal, wenn nach und nach junge Familien nachrückten. Zwar galten Nachbarn nach wie vor als unabwendbares Übel, zumal in so dicht gedrängten Reihenhausansammlungen wie dem Birkenpfuhl oder dem Buchenhain, aber es schien Emmi doch, als neige die Menschheit heute mehr zu einem eigenbrötlerischem Einsiedlerleben und gebe sich wenig Mühe, das unabwendbare Übel näher kennenzulernen. Man blieb für sich, stritt für sich und soff für sich. Auch die angestammten Rollen in den Familien kehrten sich offensichtlich um. Männer schoben einsam Kinderwägen durch die Straßen Koppstedts und winkten ab und an ihren Frauen zu, die auf Baugerüsten herumkletterten und Bierflaschen schwenkten. So wie die kleine Riester, die Auf den Gänsefüßen wohnte und Polier werden wollte.

„Weichei!“, hatte Christina am Siebzigsten gehetzt, als Julia ihren Rupert mit einem wortlosen Fingerschnippen auf Klein-Friederikes volle Windel hinwies, und während David würgend aus dem Zimmer rannte und Etepete-Alice ihr spitzes Näschen rümpfte, hatte Julia böse gekontert: „Besser ein Weichei, als gar keinen Mann abzukriegen!“ Emmi konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein so dunkel violett erblühendes Gesicht gesehen zu haben wie das Ruperts in diesem Moment.

Immerhin wechselt er die Windeln, dachte sie in einem seltenen Anfall widerwilliger Sympathie für ihren Schwiegersohn. Hermann war wie David gewesen, er rannte schon, wenn er nur glaubte, eine verdächtige Ausbeulung am Po eines seiner gewindelten Kinder zu sehen. Und damals gab es noch nicht diese praktischen Wegwerfwindeln. Nicht einmal eine Waschmaschine im Haus. Aber interessierte es ihren Mann auch nur im mindesten, ob sie die Kackwindeln gern mit der Hand auswusch? Oder bot er seine Hilfe an? Um Himmels willen, so fortschrittlich er sich auch immer zu geben trachtete, bei Kindern und Küche hörte der Spaß auf. Lass mich mit dem Unfug zufrieden, bellte er, wenn sie sich beklagte, was ja nun weiß Gott selten genug vorkam, und dann knallte er die Tür hinter sich zu und flüchtete zur roten Lola in den Schuppen, wo er mit anderen geflüchteten Ehemännern auf Fritze Woitzacks Kosten Bier und Korn soff und Karten drosch.

Aus und vorbei. Der Schuppen stand verwaist und moderte. Ein Schandfleck für die ganze Siedlung. Der bucklige Brunner und Herbert Rosenstock strichen wohl ab und an seufzend am Woitzack‘schen Jägerzaun entlang, und selbst der sieche Schmidt zog sich noch so manches Mal an der Fensterbank neben seinem Krankenlager hoch und warf sehnsüchtige Blicke, aber die Zuflucht gab es nur noch in der Erinnerung. Der Birkenpfuhl war endgültig befriedet und wurde nun, nach jahrzehntelangem Patriarchat von einem Bataillon abgeklärter Frauen regiert, die jegliches Heraufbeschwören der guten alten Zeiten erbarmungslos über den Haufen rannten.

Vor einem halben Jahr, da war es mal kurzfristig zu einiger Aufregung und verhaltenem Murren gekommen, als die Blum aus dem hinteren Teil der Sackgasse - dem Sack, wie Hermann immer spöttelte, dem Straßenteil jenseits der scharfen Kurve - kleinlaut verlauten ließ, ihr Enkel Anskar, neun Jahre alt, flachshaarig und sommersprossig, ziehe bei ihr ein und sei ein lebhafter, intelligenter Bursche. Seine Eltern klopften irgendwo in der Arktis mit dem Wachturm in der Hand an Iglus und missionierten Eskimos. Aber nachdem man sich überzeugen konnte, dass der Junge mangels Spielgefährten dazu verdonnert blieb, allein und verdrießlich durch die Gegend zu stromern und, abgesehen von einem gelegentlichen Jaulen von Dackel Dreizehn, weiter kein Geräusch verursachte, legte sich das Murren schnell.

Von den Kindern der Alteingesessenen wohnte nur noch Schmidt’s Marianne im Birkenpfuhl und näherte sich mittlerweile selbst schon der Fünfzig. Sie pflegte mit nerviger Hingabe ihren bettlägerigen Vater, während ihre elf Geschwister aus sicherer Entfernung die Lage peilten und auf ihre Erbschaft warteten.

Die Sonne stach nicht mehr ganz so arg, im Hügelland jenseits der Leine musste ein tüchtiges Gewitter die Luft abgekühlt haben. Emmi spannte den löchrigen Sonnenschirm auf und obgleich erst Freitag war, deckte sie den Kaffeetisch mit dem guten Geschirr. Blauweißes Zwiebelmuster von Seltmann-Weiden, das zusammengestückelte Hochzeitgeschenk von Hermanns weitschweifiger Verwandtschaft. Zweite Wahl! Von Mathilden stammte das weiße Porzellankruzifix mit dem blauen Jesus, der so grämlich dreinschaute.

Als sie ins Haus ging, um das blauweiße Stövchen und die blauweiße Kaffeekanne zu holen, pustete eine Windböe die blauweiße Serviette vom Teller in den Kellerschacht, aber sie vermisste sie nicht, als sie zurückkam und die neuste Ausgabe der Äskulapschlange aufs Tischtuch klatschte. Sie setzte sich mit dem Rücken zur blendend weißen Hauswand – wie konnte David die Wand nur so weiß streichen - zog sich mit dem Fuß einen zweiten Terrassenstuhl heran und legte die Beine hoch. Gut für die Krampfadern.

Die beiden Schweinsohren vom Bäcker Meyer aus der Kastanienallee lachten sie aus dem Brotkorb an, und sie lachte zurück. Der König in der Birkenstraße taugte nichts, er war unfreundlich und teuer, die Brötchen hohl und seine mickrigen Schweinsohren schienen eher für Mäuseköpfe gebacken.

Emmi angelte nach der Zeitschrift und während sie vorsichtig auf der rechten Seite kaute, um den P1 nicht zu gefährden, glotzte sie vom Umschlag der Äskulapschlange ein großes, rotes und wahrhaft furchterregendes Ungeheuer an. Was um alles in der Welt war das? Und wie um alles in der Welt sollte sie eine so mikroskopisch kleine Schrift entziffern? Das Glanzpapier reflektierte die Sonnenstrahlen, die sich durch die Löcher des Schirmes bohrten, und es blendete. Erst als sie die Zeitschrift mit ausgestreckten Armen zwischen sich und die Sonne hielt, konnte Emmi die Worte entziffern. Aha - der Gemeine Holzbock im Nymphenstadium. Sie versuchte es mit dem dazugehörigen Artikel über die Frühsommer-Meningoenzephalitis, gab aber schnell wieder auf, weil ihr die Arme lahm wurden.

Eine Armee naschsüchtiger Ameisen marschierte in langgezogener Angriffsreihe auf die offene Terrassentür zu, und Emmi streckte gedankenlos den linken Fuß aus und gab der Tür einen kräftigen Schubs. Das Schweinsohr bröckelte auf ihren leeren Schoss, und sie starrte missmutig zwischen den weißen Troddeln des blauen Sonnenschirmes und den sich im Wind wiegenden roten Geranien auf den Birnbaumtorso, als sich im hinteren Reihenhaus, jenseits des Weges, Schmidts Haustür öffnete.

Marianne will mit dem Fahrrad zum Aldi, dachte sie und versuchte trotz der Blendung auf ihrer Armbanduhr die Zeit abzulesen. Drei Uhr? Ungewöhnlich. Sonst fuhr sie doch immer schon morgens früh um acht los, wenn der Alte noch schlief. Oder ging es ihm wieder schlechter, und sie radelte zum Doktor, ein neues Rezept abholen? Emmi seufzte neidvoll. Treusorgende Seele, diese Marianne.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie der Schmidt damals, nach dem Tod seiner Frau, aus dem Göttinger Klinikum nach Hause gekommen war, mit diesem verstörten Gesichtsausdruck und dem mutterlosen Baby im Arm, und Marianne, als Älteste der zwölf Geschwister, von heute auf morgen den Haushalt übernehmen musste. Mit siebzehn Jahren. Aber sie hielt durch, kochte und wusch und ließ sich mit unendlicher Geduld herumkommandieren, bis auch der letzte Bruder, ein halb schwachsinniger Bursche namens Theo nach Göttingen zog um Chirurg zu werden. Die Lehmann’sche tuschelte sogar, Marianne sei ihrem Vater mehr gewesen als nur eine nützliche Tochter. Jedenfalls blieb sie auch nach Theos Auszug, und als es den alten Schmidt aufs Krankenlager warf, pflegte sie ihn mit derselben Hingabe, mit der sie vorher ihre Geschwister aufgepäppelt hatte. Seit zwei Jahren nunmehr.

Ein prächtiges Tagpfauenauge ließ sich auf ihrer Fußspitze nieder, und Emmi wippte versuchsweise mit der großen Zehe, aber der Schmetterling schloss nur vertrauensvoll die zarten Flügel und blieb hocken.

Unser Mariannchen, pflegte Hermann früher immer ganz weich und mitleidig zu sagen, und manchmal überkam Emmi sogar heute noch der Verdacht, unser Mariannchen und ihr Hermannchen seien vielleicht doch besser miteinander bekannt gewesen, als sie damals annahm. Trotz des Schielens und der großen Plattfüße!

Mit einem Mal richtete sie sich kerzengerade auf und nahm so abrupt die Füße vom Stuhl, dass der Schmetterling keine Zeit mehr fand, seine Flügel zu öffnen und unsanft auf den Boden purzelte. Ein kühler Windstoß verwirbelte die Troddeln des Sonnenschirms, und Emmi fröstelte. Das war nicht unser Mariannchen, die da aus der Tür des Schmidt’schen Hauses trat, um für den Alten zur Apotheke zu fahren. Zwei Männer – zwei fremde Männer – groß, kräftig und in schwarzen Anzügen, überschritten gleichzeitig die Türschwelle, und zwischen sich trugen sie etwas Braunes aus Holz. An schmiedeeisernen Griffen. Sie stapften sehr langsam und sehr vorsichtig die vier Treppenstufen zum Vorgarten hinunter, die Gesichter in würdevollem Ernst, und das Hölzerne zwischen ihnen wurde nach hinten immer länger.

Ein Sarg!

„Grundgütiger“, murmelte Emmi und riss angestrengt die Augen auf.

Als die beiden Männer das offene Gartentor erreichten, erschienen in der Haustür noch einmal zwei kräftige Schwarzgekleidete, die nun ihrerseits auf den steinernen Podest hinaustraten und das Ende des Sarges an weiteren Griffen ausbalancierten. Einen Moment lang erblickte Emmi zwischen den weißen Troddeln des Sonnenschirmes und den roten Geranien in den Blumenkästen den Sarg in voller Länge. Ein schlichter lackglänzender Kasten mit gewölbtem Deckel. Schief hing er zwischen den Trägern am Tor und denen auf dem Podest, und der Schatten einer sturmzerzausten kleinen Wolke huschte über ihn hinweg.

Der alte Schmidt! Hatte ihn seine Lungenfibrose nun doch hinweggerafft. Na endlich! Die letzten beiden Jahre mussten für die arme Marianne ja die Hölle gewesen sein. Und für ihn mit seiner Steinstaublunge und der Fibrose natürlich auch. Cor pulmonale, hatte in der Äskulapschlange gestanden. Wenn die Lunge nicht mehr richtig arbeiten kann, vergrößert sich die rechte Herzkammer, und dann ist es bald aus. Das klang beängstigend. Aber schön, dass er endlich nicht mehr leiden musste. Dazu noch dieser Ärger mit der Versicherung der Putzmittelfirma, in der er vierzig Jahre lang für die Überwachung der Scheuersandanrührung zuständig gewesen war. Sie wollte nicht zahlen und behauptete, Schmidts Kettenraucherei sei an seinem Siechtum schuld, eine Auffassung, die den Birkenpfuhl in zwei Lager teilte. Die einen wetterten über das Gaunertum der Versicherungen, die anderen, wie der bucklige Brunner, sprachen von versuchtem Versicherungsbetrug. Fest stand nur, dass sich der alte Schmidt trotz seiner Anfälle eine Zigarette zwischen die Lippen schob, sobald ihm Marianne die Sauerstoffmaske vom Gesicht nahm.

Emmi starrte erwartungsvoll auf das verwaiste aber immer noch gähnende Türloch im Schmidt’schen Haus, während die Sargträger mit ihrer toten Last hinter dem Schuppen der roten Lola verschwanden. Wo blieb Marianne, die trauernde Hinterbliebene? Gebot es nicht der Anstand, dass sie trübseligen Gesichtes dem Sarg ihres Vaters hinterhertrottete? Oder lag sie von Trauer übermannt bäuchlings auf ihrem Bett und heulte wie ein ausgesetztes Hündchen? Dummes Gör, sie sollte doch froh sein, den alten Knauser endlich begraben zu dürfen, seit Jahren lief sie schon in denselben Kleidern herum, weil ihr der Schmidt keine zehn Euro Haushaltsgeld pro Tag bewilligte. - Na ja, vielleicht heulte sie ja auch vor Erleichterung und fürchtete, man könne ihr die Freude ansehen. Schauspielerisches Talent besaß sie sicher nicht mit ihren schielenden Dackelaugen und den Plattfüßen. Aber sollte sie sich nicht wenigstens den kondolierungsbereiten Nachbarn zeigen - wenn es denn nicht anders ging mit einem Taschentuch über dem halben Gesicht und einem hastigen Kopfschütteln, wenn man sie anzusprechen drohte. Gar nicht erscheinen, war verdächtig und gab nur Anlass zu dummem Getratsche. Lag da nicht die Vermutung allzu nah, sie risse bereits die Laken vom Sterbebett und wende die Matratze auf der Suche nach des alten Schmidts Sparbüchern, mit denen er immer geprahlt, die jedoch nie jemand gesehen hatte. Wollte sie ihren raffgierigen Geschwistern zuvorkommen?

Wo blieb Marianne?

Und dann schoss Emmi ein ungeheuerlicher, in ihren Augen aber nichtsdestotrotz recht naheliegender Gedanke durch den Kopf, und sie fuhr sich mit der Zunge aufgeregt über die spröden Lippen. War der Alte überhaupt an seiner Fibrose gestorben? Konnte es nicht auch sein, dass unser Mariannchen...

Ach du meine Güte, allein die Vorstellung wie ihm das Mädel mit seinen kurzen Wurstfingern den Kehlkopf in den faltigen Truthahnhals drückte... Nein! - Oder doch? Sie lächelte. Stille Wasser waren bekanntlich tief, oder um es mit Hermanns lapidaren Worten auszudrücken: Man hat schon Pferde kotzen sehen. Und schließlich musste es ja auch nicht so brutal vor sich gegangen sein. Im Schlaf ein Kissen liebevoll aufs Gesicht gedrückt. Eine abgeklemmte Sauerstoffzuleitung. Vergessene Herztabletten. Keinem Arzt fiele es doch bei Schmidts ohnehin häufigen Erstickungsanfällen ein, Böses zu denken. Hatte nicht erst letzte Woche im Anzeiger ein Artikel gestanden, bei einem großen Prozentsatz plötzlich verstorbener Pflegebedürftiger könne ein Nachhelfen nicht ausgeschlossen werden, nur weil der Hausarzt altersbedingtes Herzversagen auf den Totenschein schreibe?

Vielleicht hatte sie ja doch, die Marianne?

„Man wird es wohl nie erfahren - schade“, murmelte Emmi und marschierte energisch den Gartenweg hinunter, um den Sarg nicht aus den Augen zu verlieren.

Wo blieb Marianne?

Die rote Lola stand im Schatten ihres maroden Schuppens und starrte ebenfalls auf die vier Männer mit dem Sarg. Einer der beiden Schwarzgekleideten, die das Fußende voraustrugen, sah sie und rief etwas Unverständliches. Die rote Lola warf lautlos lachend den Kopf zurück und winkte. Winkte einem Sargträger zu, der die Heiligkeit des Augenblickes, den Moment der Andacht angesichts des Todes mit Füßen trat, die noch warme Leiche beleidigte, indem er mit der nächstbesten Frauensperson flirtete. Schamlos!

Emmi warf einen empörten Blick zurück zur Schmidt’schen Tür. Spätestens jetzt musste doch die Marianne erscheinen und, Trauer hin oder her, allein schon durch ihre Gegenwart diesem unheiligen Treiben ein Ende bereiten. Das war sie ihrem toten Vater und den Nachbarn nun wirklich schuldig. Das Kleingeld konnte sie ja später noch zählen.

Keine Marianne!

Der Leichenwagen parkte zwischen Brunners weißem Opel und dem kleinen kirschroten Fiat von der Blum. Unheilvoll schwarz, die aufgerissenen Hecktüren ein drohend geöffnetes gieriges Maul, das lange Seitenfenster gegen Gaffer von innen bis zur halben Höhe mit silberner Folie beklebt. Auf dem schwarzen Lack der Beifahrertür stand verschnörkelt und silbern: Beerdigungsunternehmen ‚Zur ewigen Ruh‘, Inh. J. Steiner.

Emmi schauderte zusammen. Zur ewigen Ruhe! Wie endgültig das klang.

„Da läuft jemand über mein Grab“, murmelte sie und spuckte sich dreimal über die linke Schulter.

Das Kichern in ihrem Rücken ließ sie erschrocken herumfahren. Die vom Schrubbwasser rauen Hände der ollen Taube bogen die langen Triebe der Ligusterhecke auseinander, und das faltenlose Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den großen, von einem schwarzen Wimpernkranz gerahmten grauen Augen griente sie unter einem weißen Kopftuch an.

„Hoffen Sie man nich’, das sowas hülft“, kicherte sie. „Das is’ man ja nur alter Aberglaube, und dran glauben müssen Sie doch. Früher oder später kriegt uns der Sensenmann alle, das hat mein Jochen immer gesagt und wo is‘ er jetze? Auf ’m Friedhof!“

„Nun“, sagte Emmi und horchte beunruhigt auf das schnelle Pochen ihres Herzens. „Früher oder später sicherlich, aber der Schmidt war doch schon über achtzig und litt überdies an Lungenfibrose. Ich bin mir sicher, er empfand seinen Tod als große Erlösung. All diese Erstickungsanfälle und dann der schreckliche Husten ...“

„Der alte Schmidt?“, triumphierte die Taube ungeniert. „Wo denken Sie denn hin, Frau Nichterlein. Ja kriegen Sie denn gar nichts mehr mit? Das is’ nich’ der alte Schmidt, das da is’ doch die Marianne, dem seine Tochter. Herzschlag! Nur ’n büschen hingelegt hat sie sich heute Mittag, und als sie denn aufstehen wollte, kippt sie einfach um und bums, weg isse. Die Lehmann’sche von nebenan, die hat den Bums gehört und die hat doch seit Jahren schon die Schlüssels, falls mal was passieren tut, wenn die Marianne beim Einkaufen oder nach der Apotheke is’. Jedenfalls hat die dann geklingelt und angerufen, die Lehmann’sche, und als sich niemand muckste, da hat sie denn einfach aufgeschlossen. Und da hat die Kleene vorm Sofa gelegen und war hin gewesen! Ich sag’ Sie, Frau Nichterlein, das is’ noch keine zwei Stunden her, haben Sie denn nich’ den Notarzt gehört?“

„Die Marianne?“ Emmis Herz tat einen verschreckten Sprung, und die vage Erinnerung an das Martinshorn in ihrem Traum ließ sie erneut frösteln. Sie legte eine Hand unter die linke Brust und atmete tief durch. Nein, Frau Nichterlein, da ist absolut nichts, hatte der Kühne ergeben geseufzt und ihr vorwurfsvoll in die Augen geschaut, während er das Stethoskop in die Kitteltasche stopfte. Aber wenn Sie darauf bestehen, werden wir wohl noch einmal ein EKG machen müssen. Lassen Sie sich von Eva einen Termin geben. - Machen müssen! Als ob es ihr gefiele, so oben herum entblößt vor ihm auf der Pritsche zu liegen, während ihre schlaff gewordenen Brüste wie zwei halbgefüllte Sandsäckchen auf den Rippen pappten. Aber dem würde sie am Montag von der Marianne erzählen. Keine fünfzig war sie gewesen.

„Das arme Würmchen“, schwatzte die Taube unbeirrt weiter, „vor zwei Tagen erst, da hat sie den Alten dann doch noch in ein Pflegeheim schaffen müssen, weil er in der Nacht plötzlich ganz blau wurde im Gesichte, und da hat der Marianne ihr Doktor Timmelmann geschimpft, sie müsse nun endlich was unternehmen, wissen Sie, das is’ doch auch dem Alten sein Arzt gewesen, und wenn sie ihn nu anstecken täte mit ihr ’n Schnuppen, dann gnad‘ uns Gott, hat er gesagt, der kriegt ja sowieso schon keine Luft nich’. Vorgestern haben sie ihn denn abgeholt, die Sanitäter, und das Mädel hat dabeigestanden, als sie ihn in den Wagen schoben, und geheult hat sie wie ’n Schlosshund mit Magenkrämpfe. Verstehen Sie das? Und nu wo sie frei is‘, kippt die einfach um und is’ mausetod. Und ich sag’ Sie was, der Alte mit seiner Fibarose, der macht’s noch die nächsten zehn Jahre, das können Sie mich glauben. Und die Kleene mit ihren achtundvierzig Jahren kriegt ’n Herzschlag und hin isse!“

„Die Marianne!“

„Und was mein Jochen is’, denn hat’s ja auch so fix erwischt. Nich’ das ich Sie einen Vorwurf daraus machen will, Frau Nichterlein, nur weil’s ja passiert is’ weil der Jochen, was war er aber auch so ’n Dösbaddel, Sie helfen wollte. Nee, nee, Frau Nichterlein, ich sag’ Sie, den Gestank hab’ ich ja nu immer noch in der Nase. So was aber auch. Wissen Sie, das mit dem Verlegen der Leitungen, als wir die Wand durchbrechen wollten, um das Badezimmer aus ’m Keller rauszukriegen – is’ ja kein Zustand nich’ da unten – also ob Sie‘s glauben oder nich’, das musste alles der Thomas machen, der wo mein Ältester is’. Der Jochen, Gott hab’ ihn selig, auch wenn er jetzt neben die Zigeuners liegt, der hat gleich gesagt, nee Ilse, du weißt ja, ich hab’ nu mal ‘ne schwache Pumpe und muss mir schonen und mit ’m Rücken, da hat er‘s ja auch gehabt, aber ich sag’ Sie, der hat sich nur gedrückt, weil er sich vorm Thomas hat schämen müssen, wo er doch keine Ahnung von nichts nich’ hatte. Der Doktor – Sie gehen doch auch zum Kühne, nich’? – also der Doktor sagte damals, dass der Jochen mit seiner Pumpe alles machen kann, nur rauchen und saufen nich’ mehr, und das war ja auch gut so. Wissen Sie noch früher, wo die Männer bei der Schlampe dahinten, der roten Lola, im Schuppen gehockt und gesoffen haben? - Ach du meine Güte – Tachchen Frau ... äh ... Frau Woitschack. Na, was sagen Sie zu der Marianne!“

„Furchtbar“, rief die rote Lola von jenseits des Jägerzaunes. „ich hab’s gerade erst erfahren. Als der schwarze Wagen kam, da dachte ich natürlich als Erstes, jetzt ist der alte Schmidt dran, aber dann sagt mir doch einer der Männer - dieser große gut aussehende da vorn, ich mein den mit dem Vollbart – also der sagt doch glatt zu mir, das sei die Marianne, das arme Würmchen.“ Sie winkte zur Straße hinüber und schüttelte die roten Locken, und der Vollbärtige kurbelte das Seitenfenster herunter und winkte grinsend zurück. Als der Leichenwagen anfuhr, hupte er zum Abschied.

Emmi erschauerte zutiefst.

In diesem Moment trat aus der immer noch offenen Haustür bei Schmidts eine hagere witwenbucklige Frau mit zerraufter grauer Dauerwelle und schloss mit fahrigen Bewegungen hinter sich ab.

„Mein Gott, mein Gott“, rief sie, als ihr Blick über die drei schwatzenden Frauen huschte, dann versagte ihre Stimme. Sie hob anklagend beide Arme gen Himmel und verschwand schluchzend im Nachbarhaus.

„Hat die sie etwa gefunden?“, fragte die rote Lola missgünstig.

Die Taube nickte bedeutungsschwer. „Dabei hat die vor ein paar Jahren erst ihren Ollen so finden müssen, na ja, zwölfe sind’s nu auch schon wieder her, aber man sagt ja, dass er nich’ allein im Bette war, als die Lehmann‘sche wegen der asiatischen Grippe im Bad ihre Kur abbrechen musste. Die Älteste von Schröders, die Babette, also der ihre Schwiegermutter, nu is‘ sie ja Gott Sei Dank auch schon lange beim Deibel, die Hexe, also die hat damals gesagt, dass die Lehmann’sche mitten in der Nacht nach Hause kam mit einer Taxe, und da soll sie ihren Ollen mit einer Verkäuferin vom Bauer’schen Kaufhaus im Bette erwischt haben. Die Jungsche mein ich, die wo bei die Pelze arbeitet. Und der Olle hat ganz nackicht und tot neben sie gelegen und dem sein Schniedel hat noch ganz steif in die Luft gestanden. Und als die Sanitäter ihn mitnehmen wollten, sagt die Babette ihre Schwiegermutter, hat die Lehmann’sche die vom Bauer’schen Kaufhaus in den Keller gesperrt, und gesagt, das mit dem Ollen und sein Schniedel, das wär man sie passiert. Können Sie sich so was vorstellen? Und wissen Sie was, das is’ dieselbe Verkäuferin gewesen, die wo der Lehmann’schen vor der Kur noch die schnieke Pelzjacke verkauft hat, weil sie doch in die Berge musste mit ihrer Bronschitis. Na, was sagen Sie nu? Als ob der ihr Oller das Geld von die Bäume schneiden konnte!“

„Aber offensichtlich konnte er ja noch was anderes“, kicherte die rote Lola und strich sich über die rot gefärbten Haare mit dem grauen Ansatz am Scheitel. „Wow, das hätte ich dem gar nicht zugetraut mit seinem einen Bein!“

Red du nur, dachte Emmi. Als ob du nicht genau wüsstest, wer in der Siedlung wozu fähig war. Hinter dir sind doch alle Kerls hergelaufen, der Jochen ebenso wie die anderen vom Birkenpfuhl. Und Hermann natürlich. O ja, Hermann auch, und du Schlampe hast dich eine Weile mit den Mannsbildern amüsiert und sie dann fallen lassen wie heiße Kartoffeln. Weißt du eigentlich, wie oft ich oben im Wohnzimmer gesessen habe, und euch zuhören musste, dir und dem Hermann?

„Sagen Sie, Frau Woitzack“, sagte sie laut, „Sie haben ja in den letzten Tagen so viel bei sich herumgekramt, machen Sie gerade Hausputz?“ Sollte die Woitzack’sche ruhig mitkriegen, wie hellhörig die Wände waren, und dass sie, Emmi, im Mittelhaus alles von drüben hörte, sogar das Stöhnen.

Die rote Lola spitzte die Lippen, als ob sie zu pfeifen gedächte und sah mit selbstzufriedenem Gesicht in den blauen Sommerhimmel. „Sehen Sie meine Damen“, sagte sie sehr geziert, mit Betonung auf Damen und einem schnellen scheelen Seitenblick zur Taube, „ich hätte es Ihnen natürlich noch mitgeteilt. Man fühlt sich ja verpflichtet nach über vierzig Jahren Nachbarschaft und all dem ...“

Ich weiß, was du mit all dem meinst, dachte Emmi grimmig.

„... aber wo nun schon mal das Thema darauf kommt – ich zieh um!“

Die Frauen starrten sie ausdruckslos an.

„Umziehen?“, wiederholte Emmi und bemühte sich, das Gehörte zu begreifen, während Ilse Taubes Schnabel lediglich verwirrt aufklappte und stumm offen blieb. „Wohin wollen Sie denn umziehen?“

„Zum Beispiel zu meinem Freund!“, antwortete die rote Lola spitz. „Was glauben Sie denn? In ein Altersheim etwa?“

„Sie wollen tatsächlich ausziehen?“, Emmi krähte fast, und die Taube schaute ganz verdutzt bei den bekannten Tönen.

„Na sicher doch. O Entschuldigung, natürlich nur, falls die Damen nichts dagegen haben!“

„Nein, nein, um Himmels willen, so hab’ ich das ja gar nicht gemeint. Es ist nur ....“ Emmi schwieg verwirrt. Wie konnte sie das Kuddelmuddel ihrer Gedanken so schnell ordnen. Wie in wenigen Worten erklären, was ihr da so wirr durch den Kopf spukte. Vierzig Jahre waren doch kein Pappenstiel, vielleicht sogar mehr als das halbe Leben. Die ersten Jahre des Aufbaus. Das Austauschen der Kindersachen, weil man sich keine neuen leisten konnte, Mehl und Eier ausleihen und die Rückgabe vergessen, Babys über den Zaun reichen, wenn ein Arzttermin anstand, Fußbälle aus geknickten Tulpen fischen, die Woitzack’schen Bengel davon abhalten, in die Erdbeeren zu pinkeln, Fritze verpflegen, wenn seine Frau Besuch empfing oder die Männer gemeinsam von der Straße lesen, wenn sie in einem Anfall trunkenen Weltschmerzes auf dem Bordstein schluchzten. Großer Gott, trotz allem gab es doch Gemeinsamkeiten. Sogar Hermann! Und dann diese himmlische Ruhe, als die Männer endlich alle auf dem Friedhof waren. Die Hoffnungen auf eine friedvolle Zukunft. Und nun zog die rote Lola holterdipolter aus. Einfach so. Und – ach du liebes Lieschen, daran hatte sie ja noch gar nicht gedacht - wenn die Lola auszog, wer um Himmels willen zog dann ein? Eine Familie mit fünf lärmenden Kindern? Schon wieder ein trunksüchtiger Ehemann, der nachts grölte oder seine Frau verdrosch? Zigeuner? Verbrecher? Vielleicht sogar ein schwules Pärchen, das Hand in Hand im Garten saß?

Emmi fühlte sich plötzlich sehr schwach auf den Beinen.

„Na, was? Was meinen Sie denn?“, fragte die rote Lola angriffslustig. „Dass ich auf immer und ewig Witwe bleiben sollte? Zum Andenken an meinen lieben Fritze? Ich bitte Sie, Frau Nichterlein. Unter uns Pastorentöchtern - der Mistkerl liegt doch nun schon seit ich weiß nicht wie vielen Jahren unter der Erde, und wenn es eine himmlische Gerechtigkeit gibt, dann schmort er auf alle Ewigkeit im Fegefeuer. Gottchen - allein der Gedanke daran lässt mich fast gläubig werden. Na jedenfalls zwickt es den Fritze bestimmt nicht mehr zwischen den Beinen, wenn Sie wissen was ich meine. Aber ich? Ich bin eine Frau Anfang Fünfzig und habe durchaus noch gewisse Bedürfnisse, ohne deutlicher werden zu wollen. Sie und die Frau Taube, in Ihrem Alter ist es ja nur verständlich, wenn Sie keine hormonellen Anwandlungen mehr haben. Aber ich in meinen jungen Jahren? Na ja, jedem das seine, wenn Sie mich fragen.“

Anfang fünfzig? Emmi schnitt eine Grimasse. Fünfundsechzig entsprach wohl eher der Wahrheit. Was für eine unverschämte Frauensperson!

„Na, nu, mal langsam mit die jungen Stuten“, beschwichtigte die Taube in wiedererlangter Zungenfertigkeit. „Da spricht doch auch nichts dagegen, wenn Sie‘s denn immer noch nötig haben. Mein Jochen, die Zigeuners sollen ebenfalls in der Hölle schmoren, also mein Jochen, der hat ja immer gesagt, Ilsekind, genug is’ genug, und nur die Hefe treibt’s ewig. Aber nichts für ungut, Frau Woitschack. Also sagen Sie mal, das is’ doch nich’ der pangschonierte Schlosser, der wo Sie letzten Monat an den Busen gegrapscht hat? Gottchen, was haben Sie aber auch losgebölkt. Dem Sauerbach die Frau, die wo im Osten gewohnt hat und bei Kriegsende von den Roten na Sie wissen schon was wurde, also die Perdita, die is’ ja wie ’n Floh vom Terrassenstuhl gehüpft und hat gequiekt: Erwin, die Russens kommen!“

Das war zu viel. Erst Marianne, dann der Schock wegen des Auszuges und nun auch noch Perditas Russen. Emmi prustete hysterisch los, die beiden Nachbarinnen sahen sie einen Lidschlag lang verdutzt an, dann durchbrach ein brüllendes Gelächter die nachmittägliche Stille.

„Das ... das ... das ist ...“, japste Emmi und hielt sich die Seiten. „Au ... au ...!“ Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, die rote Lola schlug sich auf die massigen Oberschenkel, warf den Kopf in den Nacken und bellte in heiserem Alt die Sonne an, und Ilse Taube entblätterte kreischend den Liguster. „Erwin, die Russens kommen!“, krähte sie ein ums andere Mal, und jedes Krähen fachte das unbändige Gelächter von neuem an.

Der Birkenpfuhl begann sich zu regen, Fenster klappten, Finger lupften Gardinen an, in Rosenstocks Garten begann Dackel Dreizehn zu jaulen, und der kleine Anskar Blum rannte mit offenem Hosenschlitz aus dem Haus und stürmte mit erwartungsfrohem Gesicht die Sackgasse hinunter.

„Meine Damen, bitte nicht – o Gott, nun hören Sie ...“

„Die Russens kommen!“

„Bitte, meine Damen ... huuuuuu... nun hören Sie doch endlich ... uuuuuuuuuuuh ... nicht ... da drüben am Fenster“, die rote Lola krümmte und wandt sich wie ein Regenwurm im Vogelschnabel und fuchtelte mit dem ausgestreckten Arm in der Luft herum.

„Die Russens kommen!“

Emmi kauerte mittlerweile kraftlos am Boden und stützte sich mit beiden Händen in der Petersilie ab. Die Spannung war raus, und ihr tränenverschleierter Blick folgte dem Zeigefinger der roten Lola zum hinteren Reihenhaus, während sich noch letzte Quietscher und Kickser durch ihre zusammengebissenen Zähne pressten.

Ach du große Neune, die Lehmann’sche. Ein rotfleckiges, verschwollenes Gesicht unter einer zerrauften grauen Dauerwelle, das sich vorwurfsvoll und verständnislos von einer Seite zur anderen bewegte. Und für einen kurzen Moment glaubte Emmi sogar hinter der Lehmann’schen Mariannes blasses rundes Gesicht mit den schielenden Dackelaugen zu sehen, dass sie in unaussprechlicher Traurigkeit anstarrte. Das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken, und sie blickte peinlich berührt zu den Nachbarinnen.

Doch die rote Lola fummelte an ihren Sandaletten herum, die rot gefärbten Haare als schützendem Schleier vor dem Gesicht, und die olle Taube tauchte gerade hinter der Ligusterhecke im eigenen Garten ab. Emmi begann auf allen Vieren durchs Gemüsebeet zu krabbeln und rupfte wahllos an Petersilie und Schnittlauch. Erst als das Gesicht der Lehmann’schen aus dem quadratischen Fensterrahmen verschwand und die Gardine mit einem Ruck zugezogen wurde, richteten sich die Frauen langsam wieder auf, doch jede vermied es tunlichst, der anderen ins Gesicht zu sehen.

Ein Momentchen schnauften und hechelten sie noch wortlos vor sich hin, dann setzte die rote Lola das Gespräch übergangslos an eben der Stelle fort, an der es durch ihren Ausbruch unkontrollierbarer Heiterkeit so abrupt unterbrochen worden war: „Nein, meine Damen, da können Sie ganz beruhigt sein. So ein Schlosser, der kann unsereins doch nicht das Leben bieten, das man sich als gestandene Frau verdient hat. Na ja, vielleicht ... Sie wissen schon was ich meine, aber diese Busengrapscherei in aller Öffentlichkeit“, ihre Stimme kickste gefährlich, aber sie behielt Fassung, „nein, das ist etwas für Proleten und nichts für unsereins. Man weiß doch schließlich, was man sich schuldig ist. Mein Zukünftiger ist ein Studierter, ein Professor Doktor Doktor, ein ganz Schlauer. Er kommt aus Göttingen und grapscht auch nicht. Der hat Bildung und Benimm, und auf unserer Hochzeitsreise, da fliegen wir in die Karibik und wohnen in den Vier-Jahreszeiten. Mit so einem, da kann man sich ja nicht blamieren!“

Sieh an, ein Professor! dachte Emmi. Und aus Göttingen. Dann müsste ihn doch eigentlich Christina kennen. Oder es war ein längst Pensionierter, vielleicht sogar ein Professor Doktor Doktor Alzheimer wie auf dem Cartoon an ihrer Korkwand, der nicht einmal mehr wusste, wozu dieses seltsame Ding zwischen seinen Beinen baumelte. Es gluckste in ihrer Kehle, und sie stopfte sich hastig das abgerissene Sträußchen Petersilienschnittlauch in den Mund.

„Liebe Frau Woitschack“, mümmelte sie zuckersüß. „Dasch isch ja fabelhaft. Ein Proffeschor ...tschuldigung.“ Sie schluckte. „Ein Professor aus Göttingen! Meinen herzlichen Glückwunsch. Äh ... wie heißen Sie denn dann nach der Hochzeit?“

Noch heute Abend rief sie das Mädchen an und fragte nach dem Namen dieses Professors.

„Woitzack“, antwortete die rote Lola kurz angebunden und lächelte spöttisch. „Ich behalte nämlich meinen Namen!“

Emmi biss sich enttäuscht auf die Lippe. „Und was hat er unterrich ...“

Die olle Taube war schneller. „Siiiieeee“, intonierte sie ausdrucksvoll, „das is’ auch das Beste so. Der Thomas, der wo mein Ältester is’, der sagt, Mutsch, sagt er, wenn du noch mal heiraten tust, dann lass dich bloß nich’ von so ’nem Ollen belatschern, dem seinen Namen anzunehmen. Der könnte ja Schlotterhose oder Pipifax oder so heißen tun.“

„Also Sie“, sagte die rote Lola schnell und bekam einen roten Kopf. „So einer ist das nicht. Der hat einen anständigen Namen, das können Sie mir ruhig glauben.“

„Wann ziehen Sie denn nun aus?“

„Morgen!“

„Morgen schon?“

„Glauben Sie wirklich Frau Nichterlein, ich bliebe auch nur einen Tag länger in dieser ... dieser Gegend? Ich meine“, fügte sie hastig hinzu, als sich die Blicke der Nachbarinnen unheilvoll verdüsterten, „heutzutage, da geht’s ja schon, aber früher, mein Gott, eine richtige Asozialenecke war das doch hier. Können Sie sich noch an die Kuhnerts erinnern? Wie oft musste nachts die Grüne Minna kommen, um die beiden ältesten Söhne abzuholen? Selbst tagsüber traute man sich als treu sorgende Mutter ja kaum, die Kinder auf die Straße zu lassen, so ein Pack lief hier herum. O nein, meine Damen, die Erinnerung allein reicht mir. Ich bin froh, wenn ich endlich von hier wegkomme!“ endete sie mit einer weitausholenden Geste, welche die gesamte Siedlung einschließlich der beiden Nachbarinnen einschloss.

Treusorgende Mutter! Das ich nicht lache, dachte Emmi gehässig, kleine Miststücke hast du sie immer genannt, deine Eigenen. Und gehätschelt hast du doch nur unsere Kinder. Julia und Christina und sogar den dicken Helmut vom alten Brunner.

„Meine Güte, Frau Woitschak, das is‘ nu doch schon lange vorbei. Sehen Sie mal, jetze wo die Kinder aus ’m Haus und die Männer unter die Erde sind, da haben wir’s doch richtig schnuckelig hier. Für mein Geschmack is‘ es ja fast schon ‘n büschen zu still, aber wer’s mag? Warum zieht denn ihr Neuer nich’ bei Sie ein, wo Sie doch das schöne große Eckhaus haben?“

„Um Himmels willen, liebe Frau Taube, wie denken Sie sich denn das?“, fragte die rote Lola in ehrlicher Entrüstung. „Ein Professor Doktor Doktor und diese Bruchbude?“

„Mein Gott, der muss doch nun auch schon pangschoniert sein, und so billich kriegt der so was nich’ wieder in die Stadt. Wie alt is‘ er denn nu eigentlich?“

„Erwachsen!“, erwiderte die rote Lola spitz. „Und außerdem besitzt mein Zukünftiger in Göttingen eine eigene Villa. Sogar mit Swimmingpool. Und wenn es Ihre Neugierde befriedigt: mein Dickerch... mein Horstchen hat Geld wie Heu!“

„Siieee, das heißt man noch gar nichts. Der Kiesling, Sie wissen schon, der Dicke aus der Kastanienallee, also dem seine Jüngste ihr Heribert, das is’ ja man auch so ’n Schnieker mit seinem roten Porsche und der dicken Brieftasche, und was hat sie nu davon? Zuhause tut sie sitzen, und der ihr Oller amüsiert sich mit die Flittchens im Bordell! Nee, nee, das können Sie mich nich’ verklickern tun, das sie mit so einem besser dran sind, als mit ’nem pangschonierten Maurer.“

„Na Sie müssen’s ja wissen. Ihr Jochen konnte seine Hosentaschen umdrehen wie er wollte, dem fiel doch nie ein Fünfer heraus!“

Die olle Taube wühlte sich wütend in die Ligusterhecke. „Das brauch’ ich mich von Sie nich’ gefallen zu lassen, Sie... Sie unverschämte Person, Sie. Mein Jochen, das war man ’n nobler Mensch, auch wenn er jetzte bei die Zigeuners liegt, und was der in seiner Hosen drinnen hatte, das können Sie man gar nich‘ wissen, Sie!“

Die rote Lola schwieg und lächelte maliziös.

Emmi hielt die Luft an. Die Kehle kitzelte. Wie oft wohl mochte Fritze Woitzack bei der Taube das verstopfte Klo freigedümpelt, den Toaster oder Thomas’ Fahrrad repariert haben, während sich Jochen im Eckhaus an die Lola kuschelte? Meine Güte, die ganze Siedlung wusste doch, was los war, wenn Fritze Woitzack und sein Werkzeugkoffer durch den Birkenpfuhl zogen, mit wissendem Wehmut in den kleinen Äuglein und seiner schniefender Papageiennase.

„Wer zieht denn nun ein in das Haus?“, fragte sie schnell, bevor die schnaubende Taube unwiderruflich eine Heckenschneise zu ihrem Garten schuf mit ihren hektisch rotierenden Armen. Das hätte gerade noch gefehlt.

Die rote Lola blickte sie ganz pfiffig an, tippte sich jedoch nur stumm und hintergründig mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze.

„Meine Güte, wenn’s denn ein Geheimnis ist, bitte sehr, nichts liegt mehr ferner als aufdringliche Neugier, aber schließlich möchte man doch auch wissen, wer als nächstes in ihrem Haus so penetrant stöhnt!“, entfuhr es Emmi beleidigt. Was beabsichtigte diese Zicke eigentlich mit ihrer Geheimniskrämerei? Sollten sie ihr Geld für die Information bieten, oder eine Messerklinge zwischen die Zähne schieben?

Lola Woitzack erblasste, und ihre grünen Augen funkelten wie die einer mordlustige Löwin, wozu ihre wirre rote Haarmähne nur allzu gut passte. Aber anstatt sich über den trennenden Zaun hinweg auf sie zu stürzen, wie Emmi tatsächlich einen Moment lang befürchtete, verschränkte sie lediglich die Arme über der Brust, verzog spöttisch die Lippen und versteinerte zur Sphinx. Verspielt, meine Liebe, war in ihrem Gesicht zu lesen, von mir erfährst du nicht einmal mehr, welchen Wochentag wir heute haben.

„Sie“, quäkte die olle Taube und kämpfte verdrossen mit den sperrigen Ästen der Hecke, die sie nicht wieder losgeben wollten. Die Neugier schien ihre Wut besiegt zu haben. „Das kommt mich aber gar nich’ koscher vor mit dieser Geheimniskrämerei. Man will doch nu schließlich wissen, was für ’n Pack da einzieht. Mein Jochen, der Himmlische hab’ ihn selig, der sagte doch immer zu mich: Ilsekind, sag mich, wer deine Nachbarn sind, und ich sage dich, wer du bist!“

Um aller Heiligen willen, dachte Emmi entsetzt. Nur das nicht!

„Meine Güte, nun quäken Sie doch nicht so laut. Soll denn die ganze Siedlung unser Gespräch mitkriegen?“ Die Sphinx zuckte unwillig mit den verschränkten Armen und bekam wieder Farbe ins Gesicht.

„Warum denn nich’ Sie?“, quäkte die Taube ungeniert weiter. „Die Leute sollen man ruhig erfahren, dass ...“

„Nun halten Sie doch endlich Ihren Mund!“ Lolas Stimme sank zu einem ärgerlichen Flüstern herab. „Ich erzähl’s Ihnen ja, obgleich Sie das sicherlich nicht der unverschämten Bemerkung von dieser ... dieser Person da zu verdanken haben.“ Sie zeigte abgewandten Gesichtes auf Emmi. „Und Sie schwören mir gefälligst beim Grab Ihres heiligen Jochen, dass sie das nicht von mir haben! Also?“ Die Taube schwor feierlichst, die großen, grauen Augen funkelnd vor Neugierde, und bekreuzigte sich sogar, obgleich sie keineswegs katholisch war. Emmi stand stumm inmitten der Petersilie, während die beiden in den Gärten rechts und links von ihr quasi über ihren Kopf hinweg verhandelten, und fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes übergangen.

Die rote Lola begann ihre Enthüllungen mit einer langen dramatischen Pause, die sie dazu nutzte, sich geradezu auffällig unauffällig in alle Richtungen umzusehen und besonders misstrauisch den duftenden Sommerflieder neben ihrem Schuppen beäugte. „Die Neuen sind Verwandte von Sauerbachs“, hauchte sie dann beinahe unhörbar über den Nichterlein’schen Garten in Richtung Taubesches Ohr.

„Verwandte von Sauerbachs?“ Das Flüstern der Taube ließ unbarmherzig die Vögel verstummen, und Lola Woitzack zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. „Und erfahren soll’s auch noch keiner nich’? Ja sagen Sie mal, wieso tun die denn so komisch?“

„Um Himmels willen, pst, Frau Taube, psssst, Sie schreien ja die ganze Straße zusammen“, jammerte die rote Lola. „Genau weiß ich ja auch nicht, was dahintersteckt, aber ich hab’ so etwas läuten hören. Die vier, Sauerbachs und die Neuen – der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, wer da mit wem verwandt sein soll – also man munkelt, die vier hätten gemeinsam im Lotto gewonnen. Und ich sag Ihnen – im Vertrauen natürlich nur und nicht vergessen, von mir haben Sie diese Informationen nicht – mit drei oder vier Richtigen haben die sich mit Sicherheit nicht begnügt. Millionen, Frau Taube, Millioooonen!“

Die olle Taube sah dann auch dem Anlass entsprechend beeindruckt aus, und nickte unablässig.

„Und dann ziehen die ausgerechnet hierher?“

Die rote Lola ignorierte Emmis Einwand und nickte bedeutsam zur nickenden Taube hinüber.

„Und die wollen nu wirklich in Ihr Eckhaus einziehen?“, wiederholte die olle Taube mit eigenen Worten.

„Soll so sein. Aber das ist ja nicht alles.“ Das Gewisper zwang Emmi aus der Petersilie in die Forsythien, während der Ilse Taubes Oberkörper auf die Ligusterhecke klappte. „Es ist ja nur ein Gerücht, wissen Sie, aber man munkelt, Sauerbachs und diese Neuen, die bei mir einziehen wollen, also man munkelt, die wollen auch noch die Mittelhäuser aufkaufen, um dann die Wände durchzubrechen. Verstehen Sie, was ich meine? Ihre Häuser wollen die ebenfalls. Das ganze Reihenhaus!“

„Nein!“, sagten die beiden Nachbarinnen unisono.

„Doch, doch, ich hab’ so ein Gerücht gehört.“

„Aber das ist doch absurd. Keine von uns beiden denkt auch nur im Traum daran zu verkaufen, und dann ...“ Emmi stockte. Stimmte das auch? Hatte sie nicht bereits des alten Schmidts Abtransport ins Pflegeheim und Mariannes Tod verschlafen? Was wenn ...

„Nie nich‘“, sagte die Taube schlicht, und Emmi atmete erleichtert aus.

Die rote Lola zuckte die Achseln, den Blick nur und stur auf die Taube gerichtet. „Himmel, ich weiß auch nicht mehr als Sie jetzt. Vielleicht ... vielleicht ... ach ich weiß nicht. Na ja, was soll’s, vielleicht wollen die eben warten, bis Sie ... na ja, Sie wissen schon.“

„Bis wir abgekratzt sind?“, half Emmi grimmig aus.

Die rote Lola nickte mit schiefem Lächeln und gönnte ihr nun doch einen Blick.

„Ha“, schnaubte die Taube triumphierend, „da können die aber warten bis zum Sankt Nimmerleinstag. Der Kühne, der wo mein Doktor is’, der hat gesagt mit meine Konschti ... Konschitusch ...“

„Konstitution“, klang es zweistimmig und ungeduldig aus den Nachbargärten.

„Na sag’ ich doch, mit meiner Konschti ... Konschti ... mit meiner Gesundheit, da sei alles so prächtig wie bei dem Teufel seiner Großmutter, sagt der Kühne, und Sie, ich glaub nich’, dass so ’n Studierter ‘ne olle Frau wie mir anlügen täte. Und eins schwör’ ich Sie gewiss. Mit den Sauerbachs, da nehm’ ich’s noch allemal mit auf, die kippen doch schon aus die Latschen, wenn wir bloß Buh! rufen tun. Und der ihre Spezies werden man auch so olle Knacker sein wie unsereins. Wollen wir wetten, dass ich das ganze Gesocks noch allemal überlebe?“

„Keine Frage“, murmelte Emmi halblaut, und die rote Lola auf ihrer Seite des Jägerzauns kicherte leise und versöhnlich.

„Tja, meine Damen, nun muss ich aber wirklich sehen, dass ich in die Pötte komme mit dem Zusammenpacken. Ich muss noch das ganze Geschirr einwickeln.“ Eine hölzerne Verlegenheit schien sich plötzlich ihrer bemächtigt zu haben. „Na dann ... äh ... es war nett ... wirklich nett ... und dann ... na ja, falls wir uns nun nicht mehr sehen, alles Gute weiterhin.“

„Ihnen auch alles Gute“, sagte Emmi mit ungewollter Herzlichkeit.

„Bringen Sie den Ollen mal ordentlich auf Trab“, wünschte die Taube.

„Ja ... ja danke. Das werd’ ich tun.“ Lola Woitzack wandte sich ab und stapfte querbeet davon. Eine geschrumpfte Walküre mit grauem Scheitelansatz in rot gefärbten Haaren. Das Letzte, was die Nachbarinnen an diesem Tag von ihr sahen, war ein wehmütiger Silberblick zurück, kurz bevor sie um die Ecke des Hauses bog.

Emmi folgte ihr mit den Blicken und sah dann lange ins Leere. Aufkaufen? Was brachten Sauerbachs und ihre seltsame Verwandtschaft auf die Idee, sie könnten mir nichts, dir nichts die Mittelhäuser aufkaufen? Das ergab keinen Sinn. Wer etwas kaufen wollte, vergewisserte sich doch in der Regel erst einmal, ob das Objekt seiner Begierde überhaupt verkäuflich sei, und wenn es sich denn um ein Haus handelte, lag es da nicht auf der Hand, die Verkaufswilligkeit des Besitzers durch eine einfache Frage zu überprüfen? Bei ihr und bei der Taube. Ein einfaches Nein und die ganze Angelegenheit war erledigt. Verkaufen! Jetzt, wo die Männer endlich Ruhe gaben. Schließlich war es ihr Häuschen. Sie hatte es vierzig Jahre lang in Form gewohnt und nun, wo es rundherum passte, kam die Lola mit diesen spinnerten Gerüchten. Die und ihr Professor Doktor Doktor. Lachhaft. Niemand vertrieb sie aus ihrem Haus. Zumindest nicht zu Lebzeiten. Kein Sauerbach und keine neue Nachbarschaft. Auch keine Männer in weißen Kitteln, um sie in ein Pflegeheim zu bringen. Niemand und nichts. O nein, im Notfall könnte sie sich immer noch selbst verteidigen, und wenn es denn sein musste sogar mit Urgroßvater Albrechts rostigem Degen, der in der Flurtruhe lag und auf einen ruhmreichen Sieg Anno siebzig bei der Schlacht von Sedan zurückblicken konnte.

Genau!

Sie nickte energisch - und schüttelte gleich darauf den Kopf. Wieso eigentlich die ganze Aufregung? Sie wollte nicht verkaufen und basta. Außerdem besaß sie eigentlich auch nur das halbe Haus, die andere Hälfte war nach Hermanns Tod rechtmäßig den Kindern zugefallen, und egal was für eine Affentheater sie auch an ihrem Siebzigsten veranstaltet hatten, sie gehörten mit Sicherheit nicht zu der Sorte habgieriger Kinder, die noch zu Lebzeiten der Eltern rings um sie herum die Mauersteine abtrugen, um ihre eigenen Häuser damit zu bauen. Nun gut, sie benahmen sich nicht gerade wie Heilige mit ihrem jährlichen Mutterbetreuungsplänen, doch Gier und Habsucht lagen allen Vieren fern.

Denk an die Pferde, Emmeline!, flüsterte Hermann in ihrem Kopf, und Emmi seufzte bedrückt. Was wenn doch ...? Und warum auch nicht? Nur weil sie ihrem Schoss entstammten? Besuchten sie ihre Mutter denn zum Muttertag oder schickten sie nur mickrige Sträuße mit Glückwunschkarten in der Handschrift irgendwelcher Verkäuferinnen der Blumengeschäfte? Wie oft riefen sie von sich aus an, um nachzufragen, ob es ihr gut gehe? Um sie zu trösten, wenn das Rheuma sie plagte oder die Einsamkeit an ihr nagte? Na also! Und in Klein-Diedersdorf hatte erst vor ein paar Tagen ein Fünfzehnjähriger seinen leiblichen Vater mit einer Axt quer durchs Dorf gejagt, und Klein-Diedersdorf lag nur fünfundzwanzig Kilometer flussabwärts! Ein Fünfzehnjähriger! Wozu waren dann erst erwachsene Kinder fähig, wenn der Preis stimmte?

Die Kälte ging vom Kopf aus, doch von Synapse zu Synapse wurden kleinen Eimerchen mit Eiswasser nach unten weitergereicht, und schuddernd zog sie die Schultern hoch. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren wandte sich Emmi mit dem vagen Bedürfnis nach Beistand zur ollen Taube um. Der Wind spielte mit den Blättern des Ligusters, aber die Taube war lautlos davongeflogen.

„Frau Taube?“, fragte Emmi halblaut.

Nichts! Kein Krähen, kein Gurren.

„Frau Taube!“

Im Nachbarhaus klappte die Terrassentür zu. Energisch.

Emmi hob resigniert den Kopf gen Himmel und sah gerade noch, wie zwei Häuser weiter, im Sauerbach’schen Eckhaus neben der Großen Wiese, die schon seit acht Jahre keine verwilderte Wiese mehr war, sondern ein neumodisches Gartencenter mit kunterbunten Pflanzenpaletten, Erwin sein rosiges Gesichtchen mit dem schwarzem Schnurrbart hastig in das Halbdunkel der Dachkammer zurückzog.

Killerwitwen

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