Читать книгу Killerwitwen - Charlie Meyer - Страница 7

5.

Оглавление

An diesem Abend wälzte sie sich lange schlaflos in ihrem mondbeschienenen Bett unter der Dachschräge. Im Nachbarhaus herrschte nun Ruhe. Kein Geschirrklappern mehr, kein Treppauf-Treppab-Gelaufe, keine letzten lustvollen Seufzer. Für den Auszug schien alles bereit. Dafür seufzte jetzt Emmi, wenn auch nicht lustvoll; und mit jedem Seufzer rollte das Rad der Zeit ein wenig weiter. Unwiderruflich und quer über ihre schwer atmende Brust. Nascentes morimur - kaum geboren, sterben wir. Warum gab es zwischen Säugling und Greis nur eine Einbahnstraße? Warum keinen Richtungswechsel? Kein Schnippen mit den Fingern und noch einmal dreißig sein. Oder wenigstens vierzig oder fünfzig!

Siebzig war ein blödes Alter.

Emmi schaltete die Nachttischlampe ein, und fischte unter dem Bett nach ihren Unterlagen aus dem Volkshochschulkurs Lateinische Redewendungen für den Hausgebrauch, so wie sie es immer tat, wenn der Schlaf sie mied oder ihr Bedürfnis überhand nahm, dem alzheimerschen Schrumpfgedächtnis durch Übung zu Leibe zu rücken, und meistens ließ sich dank des monotonen Herunterleierns bei geschlossenen Augen beides prima miteinander verbinden. Doch heute blieb der Erfolg aus. Bei Vontra vim mortis non est medicamen in hortis, gegen die Gewalt des Todes gibt es kein Heilmittel, schniefte sie bereits, und bei Mors certa, hora incerta, der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss, tropfte eine Träne auf ihr Kopfkissen.

Lange nach Mitternacht stand sie schließlich auf, verschränkte fröstelnd die Arme und starrte aus dem schräg gestellten Kippfenster in die kühle klare Nacht mit dem gelben Mond und den Myriaden funkelnder Sterne am blauvioletten Nachthimmel. Nein, es gab keinen Neubeginn. Auch die Sterne leuchteten nur ihrem Verglühen entgegen. Und auf Erden blieb alles wie es war. Hermann in seinem Sarg, die Badewanne im Keller und das Leben ein unverständliches Jammertal. Nur die rote Lola zog aus; und schändlicherweise konnte Emmi sich nicht einmal darüber freuen. Dabei war sie bis zu Hermanns schmählichem Tod der festen Überzeugung gewesen, jedem Möbelpacker, der mithalf, Lola Woitzack aus der Siedlung zu entfernen, auf Ewiglich die Füße küssen zu müssen. Und nun? Nun wünschte sie, die Nachbarin möge bleiben und den augenblicklichen Zustand des gegenseitigen leisen Belächelns und des gehässigen Tuschelns hinter dem Rücken der anderen aufrechterhalten.

„Man sollte sie wirklich auf den Mond schießen“, murmelte sie resigniert. Und in Gedanken sah sie die Lola mit ihren rot gefärbten Haaren am Hals des Mondmannes hängen, während sich Jochen Taube, Hermann und der wehmütig wissende Fritze mit der triefenden Papageiennase nächtlings auf dem Friedhof an den skelettierten Fingern packten, knochenklappernd einen Ringelreihen um die Grabsteine tanzten und eifersüchtig zu ihr hochschielten, mit tröpfelndem Geifer aus lippenlos grinsenden Gebissen.

Sie schnaufte empört.

Lachhaft, mit welcher Vehemenz die olle Taube nach all den Jahren immer noch für ihren Mann die Treuefahne hochhielt. Konnte es tatsächlich sein, dass sie bis heute an Jochens Tugendhaftigkeit glaubte und den Wald vor lauter Bäumen nicht sah? Ausgerechnet sie, die Gerüchteköchin und das Schandmaul vom Pfuhl, dieselbe Frau, die bei Lolas erstem Fehltritt mit Hermann den Nachbarn informative Zettelchen in die Briefkästen schmuggelte. Nicht, dass sie ihren Friedrich-Wilhelm daruntersetzte, aber ein Brief, der mit Sie, ich wollte Sie nur mitteilen ... begann, legte zumindest die Vermutung nahe, das Geschreibsel könnte aus Ilse Taubes Feder stammen.

Nein, so blind wie die olle Taube sich gab, fristete nicht einmal ein Grottenmolch sein Leben, auch wenn die Männer damals natürlich auf Teufel komm raus logen und sich gegenseitig bei ihren Eckhaustechtelmechteln den Rücken freihielten. Vor allem Hermann entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem Geschichtenausdenker ersten Ranges, was Jochen Taube, der sie Emmi weitererzählen musste, mitunter arg ins Schwitzen brachte.

„Hermann?“, fragte Jochen gewöhnlich, als höre er den Namen zum ersten Mal. „Oh, den Hermann meinen Sie. Ihren Hermann! - Äh ... ach ja, natürlich, der traf in der Stadt einen alten Kriegskameraden. Vor nicht einmal einer halben Stunde. Einen aus Rommels Afrikakorps. Ich glaub’ sogar diesen einen, der ihm vor El Alamein das Leben rettete, als sein Kamel im Sandsturm ....“ Und so weiter, und so weiter. Nur Jochen Taubes begrenzte Aufnahmefähigkeit derartiger Schnörkel und sein miserables Gedächtnis setzten Hermanns Fantasie Grenzen. Und nachdem Jochen Hermanns Alibi mühsam zu Ende gebracht hatte, klingelte er verabredungsgemäß bei Woitzacks und schleppte den melancholischen Fritze auf ein paar Biere in die Dicke Wirtin, damit der irgendwo hinter einer Mülltonne hockende Hermann freies Schussfeld hatte. Jochen selbst verließ sich mangels Kreativität einfach auf sein impulsives Temperament. Wozu gab es schließlich das streitbare Weib an seiner Seite? Er brüllte sie an - vielleicht wegen eines knittrigen Hemdkragens oder einer sauer blickenden Dosensardine - sie krähte empört zurück, er knallte ihr eine, sie heulte, und Jochen verließ, das eckige Kinn glattrasiert und bläulich vorgereckt, mit nichts Geringerem als gerechtem Zorn im Herzen und in einer Wolke duftenden Rasierwassers den heimatlichen Herd und klagte der erwartungsvoll hingestreckten Lola sein häusliches Leid.

„Jochen?“, pflegte Hermann höflich erstaunt zu fragen, wenn die Taube schniefend in der Haustür stand. „Der hat sich wohl geärgert und hockt am Tresen. Also, wenn Sie mich fragen, ist das auch kein Wunder. Aber nichts für ungut. Fritze und ich ziehen gleich mal los und passen auf, dass er nicht völlig versackt.“ Und die Taube schniefte Dankbarkeit.

Wie viele Birkenpfuhlerinnen mochten in den alten Zeiten wohl davon geträumt haben, der roten Lola bei einer Mondfinsternis aufzulauern. Mit was auch immer in den Händen. Vielleicht sogar mit Nadel, Zwirn und ein paar anatomischen Kenntnissen. Was die Frauen in all den Jahren wirklich erboste, war nicht die Tatsache des Fremdgehens an sich, das taten andere Ehemänner auch, aber Lolas Unvermögen, sich mit einem Mann zu begnügen und ihr Ehrgeiz, alle haben zu wollen - und auch alle zu bekommen - verschaffte den Zahnärzten der Umgebung ungewöhnlichen Zulauf und einen profitablen Absatz zahnschonender Plastikübergebisse.

Hatte nicht Lübke in irgendeiner seiner Reden im Deutschlandfunk so hoffnungsfroh prophezeit, der soziale Wohnungsbau werde dem Elend kinderreicher Familien endlich ein Ende setzen? Wenn ja, dann irrte er jedoch in Bezug auf den Birkenpfuhl. Dank der roten Lola begann das Elend dort erst richtig, zumindest für die betrogenen Ehefrauen, die mit bösen Gesichtern in ihren Küchen herumfuhrwerkten und anklagend Deckel auf Kochtöpfe knallten. Nur nichtsahnende Zaungäste lächelten erfreut über die schwanenweiß getünchten Reihenhäuser mit ihren drolligen kleinen Dachluken und den niedlichen Vorgärten, in denen Stiefmütterchen und Tulpen wuchsen, über Kinder mit heißen Wangen und aufgeschürften Knien, die auf der Straße Völkerball spielten, und über Männer in angegrauten Unterhemden, die so offensichtlich mit sich und der Welt zufrieden auf den Terrassen in geselliger Runde ihren Feierabend genossen und mit markigen Ausdrücken den Schaum vom Bier pusteten. Wie idyllisch!

Das Brodeln hinter der Idylle nahmen sie nicht wahr. Eifersucht und Hass schlichen um die Häuser des Birkenpfuhls - und auch des angrenzenden Buchenhains, denn der Einzugsbereich der roten Lola weitete sich von Jahr zu Jahr aus - und mit ihnen, in einer Wolke kindlichen Terrors, schlichen die vier kleinen Woitzack’schen Rotschöpfe, Lolas eifersüchtige Sprösslinge. Sie hatten sich in ihrem Bandendasein bereits frühzeitig auf das tote und lebende Haushaltsinventar der Liebhaber ihrer Mutter spezialisiert. Vielleicht wussten sie in kindlicher Weisheit, dass es den Männer, die gerade erst in glücklicher Erschöpfung aus dem Woitzack’schen Hause schlichen, schwerfiel, hinter ein paar nichtsnutzigen Rabauken herzurennen, um sie mit grimmigen Worten eben dort wieder abzuliefern, wo sie hofften, auch nächste Woche noch willkommen zu sein.

So konnten sie denn auch ihren Terror in all den Jahren mehr oder minder unbehelligt ausüben. Je nach Laune verprügelten sie die Kinder ihrer Mutter Galane, kassierten Schutzgelder in Form von Negerküssen und Lakritze, verpackten Hamster in Plastik, rupften Wellensittiche oder warfen Stinkbomben in Schlafzimmer. Aber am meisten hatten es den vier Jungs, die jeweils ein Jahr und einen halben Kopf auseinander waren, Herbert Rosenstocks diverse Dackel angetan, weshalb er schon nach den ersten bitteren Erfahrungen aufhörte, ihnen Namen zu geben. So erlag Nummer zwei, damals noch Waldi geheißen, nach einer wilden Verfolgungsjagd einem Herzschlag, Dackel Fünf wurde zu Tode geschleift, als sich seine Leine irgendwie an der Stoßstange von Frieda Blums damaligem VW-Käfer verhedderte, und Sieben ertrank, der Himmel mochte wissen wie, in einer Vogeltränke.

Hinterhältig, dachte Emmi, hinterhältig und gemein sind sie gewesen.

In der Deichsel des Großen Wagens blinkte ein hektischer Stern und verlosch dann plötzlich. Sie seufzte schwer.

Manchmal hatte es sogar den Anschein gehabt, als schrecke selbst die rote Lola vor ihren Kindern zurück. Dabei ließ sich ihr wahrhaftig keine Lieblosigkeit attestieren. Im Gegenteil. Eine leuchtende Aura tiefer Mütterlichkeit zog alle Kinder in ihren Bann und ließ die Birkenpfuhler Frauen ein weiteres Mal die Plastikübergebisse über ihre Zähne stülpen. Die rote Lola herzte, küsste, und knuddelte alle, ließ sich von ihnen die brennend roten Locken zu Zöpfen flechten und drückte jedes einzelne Kind an ihren wogenden Busen, bis die Väter vor Neid zu sabbern begannen. Jedes Kind, bis auf die eigenen. Die küsste und knuddelte sie nicht. Und Zöpfe flechten ließ sie sich auch nicht von ihnen. Auf eine seltsame Art und Weise ignorierte Lola Woitzack ihre Kinder, was nicht hieß, dass es ihnen jemals an einer anständigen Versorgung gemangelt hätte. Äußerlich, kurzhosig, rotznasig und mit aufgeschürften Knien, unterschieden sie sich in nichts von den anderen Jungs und Mädchen. Und nett anzusehen waren sie obendrein noch mit ihren pfiffigen Sommersprossengesichtern und den ererbten Silberblicken. Doch die Lola schien ihr eigenes Spielzeug zu langweilen. Sie griff viel lieber nach dem der anderen. Nach den Kindern fremder Mütter. Nach den Männern anderer Frauen.

Nach Hermann!

Himmel, wie war ihm aber auch die Brust geschwollen, nachdem er zum ersten Mal auf der falschen Seite seiner Hauswand im Bett stöhnen durfte. Und mit welch lautem Pffffft fiel sie wieder in sich zusammen, als ihn die Lola plötzlich wieder von der Bettkante schubste. Was musste es für Hermann eine herbe Enttäuschung gewesen sein! Doch keine allüberwältigende Liebe einer von ihm überwältigten Nachbarin, nur das erste Kapitel im Buch der unersättlichen Begierde. Und auf der letzten Seite des ersten Kapitels schubste ihn die Lola mit einem Lächeln aus dem Traum in die harte Wirklichkeit zurück, und Hermann landete unsanft und höchst verwirrt. Wochenlang schleppte er sich mit den gequälten Augen eines waidwunden Rehs durch den tristen Alltag und schien auf den Gnadenschuss zu warten - ein Wunsch, den Emmi in jener Zeit gern erfüllt hätte - während es sich jenseits der Wand sein Kumpel Jochen Taube im vorgewärmten Schoss bequem machte. Hermanns Miene hellte sich erst auf, als er das System endlich begriffen hatte (als alle es begriffen hatten!), und er sich von neuem der Schlange der Wartenden einreihte.

„Männer sind überflüssig. Die einen so, die anderen so“, murmelte Emmi vage und starrte stirnrunzelnd auf den bläulichen Mondhof. Wie war das doch noch gleich gewesen? Hat der Mond einen Hof, dann ... dann änderte sich das Wetter am nächsten Tag. Klar. Aber in welche Richtung? Regnete es oder schien die Sonne?

„Alzheimer“, sagte sie laut, schlüpfte wieder unter die leichte Daunendecke und gähnte wie ein Scheunentor. Trotzdem wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Nach einer Weile vergeblichen Bemühens verschränkte sie die Arme unter dem Kopf und blickte seufzend an die Schräge.

Wer war eigentlich noch zur Lola geschlichen, außer Hermann, Jochen und dem Rosenstock?

Friedel Bayer, der Klempner aus der Kastanienallee. Ein grobschlächtiger Mensch mit zusammengewachsenen schwarzen Augenbrauen, der so selten sprach, dass alle, wenn er wirklich mal die Zähne auseinander bekam, lange dem Gebrummel hinterherhingen und andächtig mit dem Kopf nickten. Im Buchenhain, der Nachbarsiedlung, verehrte man ihn als eine Art Orakel, im Birkenpfuhl erschien er, wenn die rote Lola über diesen komischen Geruch im Badezimmer klagte, während Fritze Woitzack mit seinem Werkzeugkoffer traurig in den Buchenhain zog, um nach tropfenden Wasserhähnen Ausschau zu halten.

Dann der Mann der Zimtzicke Kuhn. Emmi gähnte zum Gotterbarmen. Wie hatte er doch noch gleich geheißen, der Kuhn? Emil? Nein, aber irgendetwas mit E am Anfang, das war sicher. Egon, Erwin, Erich... ? Richtig. Karl hieß er. Karl Kuhn, und fesch war er außerdem. Damals arbeitete er als Briefträger. Aber nicht in diesem Bezirk, sondern in der Villengegend auf der anderen Seite der Leine. Hier trug er nur sein Sperma aus, was seine Frau Kreszentia eines Tages veranlasste, ihn in einem Wutanfall mit einer langen Mettwurst niederzuschlagen und der Lola öffentlich ein schlimmeres Schicksal anzudrohen. Doch die kam ihr zuvor und kündigte Karl Kuhn den Liebhabervertrag. Kurze Zeit darauf verschwand er spurlos. Ohne Abschiedsbrief. Die Lehmann’sche behauptete, er habe sich von dem Schlag mit der Mettwurst nie wieder erholt, und irre seitdem durch die Gänge der Bettelheim‘schen Anstalten, aber die Taube kannte natürlich einen, der eine kannte, die einen Cousin hatte, dessen Schwester den Kuhn gesehen haben wollte, wie er in Bremerhaven mit einer dicken Kopfbeule über die Planken eines Walfängers wankte. Jedenfalls war er der Welt irgendwo abhanden gekommen, und eigentlich vermisste ihn auch niemand.

Emmi wischte sich die Gähntränen aus den Augen und lachte laut auf, als ihr Hubert Meier einfiel. Hubert der Sanfte aus der Weidenstraße. Zwei Meter groß und fast ebenso breit. Von ihm wusste ganz Koppstedt, dass er seiner Elsie in der Hochzeitsnacht im Überschwang der Gefühle zwei Rippen brach, was am nächsten Morgen den Koppstedter Stadtrat zu einer Sitzung zusammentreten ließ - unter Vorsitz von Elsie’s Vater, dem damaligen Bürgermeister -, an deren Ende in einem einzigartigen Akt Koppstedter Stadtautonomie die feierliche Zerreißung der Heiratsurkunde stand. In der Folgezeit tat man, als sei diese Ehe nie vollzogen worden, was neun Monate später recht fragwürdig erschien, als Elsie einen strammen Jungen gebar und ihn Hubert junior nannte.

Ob es der Lola wohl gelungen war, den kleinen Sauerbach unter ihre Decke zu zerren?

Emmi lächelte und betrachtete die Mondlichtmuster an der Schräge der Dachkammer.

Was für eine Vorstellung! Der kleine Sauerbach, wie er zwischen den üppigen Brüsten der roten Lola mit dem Ersticken kämpfte und aufheulte, wenn sie die Schenkel schloss. Und seine Frau, diese graue Maus mit ihrem Topfschnitt, wie sie währenddessen zu Hause auf dem Sofa schluchzte und ein Taschentuch zwischen den dünnen Fingern drehte. Mit rot verheulten Augen und einem Eisbeutel für ihres Mannes Männlichkeit im Kühlschrank.

Ich könnte am Montag nach dem Arzttermin zum Friseur gehen und mir die Haare färben lassen, dachte sie plötzlich. So wie sie früher waren. Kastanienbraun. Kein Topfschnitt wie die Sauerbach, sondern einfach nur färben.

Heute schien es undenkbar, dass damals niemand ernsthaft daran gedacht hatte, sich wegen der roten Lola scheiden zu lassen. Sicher, die Zeiten wurden besser, die Wirtschaft rappelte sich zusehends auf in den Fünfzigern und Anfang der Sechziger, aber die Kinder waren noch klein und wollten versorgt werden, und außerdem steckte das gemeinsame Geld im Haus. Wovon sollte man leben ohne Ernährer? Wovon die Scheidung bezahlen? Und schließlich kam der Mann ja auch wieder zurückgeschlichen mit seinem schlechten Gewissen, und wenn man seine desolate Verfassung gescheit und umsichtig ausbeutete, beispielsweise öfter als sonst und mit tief verletzter Miene seinen Weg kreuzte, ließ sich aus der demütigenden Affäre zumindest ein Nutzen ziehen. Hundert Euro mehr Haushaltsgeld im fraglichen Monat, Wintermäntel für die Kinder oder sogar auf Wochen hinaus das Musterexemplar eines demütigen Ehemanns. Also schwieg man, und es gab sogar Zeiten, in denen die arme verlassene Kreszentia Kuhn mitleidig belächelt wurde.

Was wohl aus den Kindern der roten Lola geworden war, diesen Musterexemplaren der siebenten Bitte? Und befreie uns von dem Bösen! Hermann hatte immer behauptet, Gott hätte statt der Pestilenz, den schwarzen Blattern und den Heuschrecken besser die vier Roten nach Ägypten gesandt, um die Israeliten freizupressen, das wäre schneller gegangen und billiger gewesen.

Beim ersten Mal, als sie Hermanns eifriges Gestöhne durch die Wand hörte, da hoben draußen im Garten gerade die vier Woitzack’schen Bälger Klein-Julia aus dem Laufställchen, steckten sie in einen alten Kartoffelsack, banden ihn oben zu und ... Zur Erleichterung aller blieb ihr weiteres Vorhaben im Dunkeln, weil die entrüstete Kuhn geistesgegenwärtig mit dem Besenstiel dazwischenhieb. Emmi schüttelte den Kopf. Noch Jahre später war sie nachts schweißgebadet aufgewacht.

Ein anderes Mal, zwei, drei Jahre nach dem Kartoffelsack, überredeten sie Stefan, den Draufgänger, sich auf das untere Ende einer selbst gebauten Wippe zu stellen und sprangen – alle vier gleichzeitig – vom Gartentisch der roten Lola auf das hochstehende Ende. Grundgütiger. Bis der Krankenwagen endlich kam, war Stefan vor lauter Brüllen blau angelaufen, und Hermann, kreideweiß, kämpfte angesichts des aus der Wunde ragenden Knochens mit Ohnmachtsanfällen. Schließlich bekam nicht Stefan die erste Beruhigungsspritze, sondern Hermann. Und während die Sanitäter den Jungen mit einer Platzwunde am Kopf und seinem offenen Armbruch in den Krankenwagen schoben, stützte die rote Lola Hermann ins Haus, und sie selbst, Emmi, fuhr mit ihrem Sohn allein ins Krankenhaus, derweil Fritze Woitzack, blass aber gefasst, ein blutiges Büschel Haare aus der Astgabel seines zerfledderten Kirschbaumes rupfte und seinen Jungs eine müde Standpauke hielt.

Birkenpfuhler Plagen, die großen wie die kleinen Woitzacks.

Vielleicht war sogar Fritze die größte Plage gewesen, wie er da mit seinem Werkzeugkoffer durch die ehemannberaubten Häuser zog, um den verwaisten Frauen hilfreich unter die Arme zu greifen. Nicht, dass er zudringlich wurde. O nein, er ersetzte die liebestollen Männer lediglich in ihrer Eigenschaft als Handwerker. Dachte man jedenfalls damals noch. Fritze Woitzack mit seinem Werkzeugkoffer. Er konnte einfach alles: malern, Teppichböden verlegen, Bäder kacheln, Lampen anbringen und jede Art von Küchengerät reparieren. Nur bei ihm zu Hause, da musste der Bayer aus der Kastanienallee kommen und wochenlang herumklempnern. Und je beliebter sich Fritze Wotizack mit seiner angeblich selbstlosen Hilfsbereitschaft in der Siedlung machte, desto seltener lupfte die rote Lola für ihn ihr Nachthemd. Eigentlich kein Wunder, dass er sich schließlich an kleinen Mädchen vergriff.

Aber das wusste damals noch niemand, als er eines Tages beim Ausrichten der Antenne vom Dach fiel. Taubes Dach, nicht Emmis, obgleich er seitlich abrutschte und genau genommen in beiden Vorgärten gleichermaßen landete. Mitten auf den schmiedeeisernen Spitzen des niedrigen Begrenzungsgitters. Und nur, weil sich Hermann im Göttinger Klinikum gerade einer Blinddarmoperation unterziehen musste, und Jochen Taube auf die Schnelle niemanden fand, der bereit war, Fritze für zwei, drei Stündchen in die Dicke Wirtin zu schleppen, damit er ungestört zur Lola konnte. Deshalb schickte Jochen den Fritze zum Ausrichten der Antenne aufs Taubesche Dach, und Fritze fiel herunter.

Was für ein schrecklicher Anblick. Es war nur gut, dass alles so schnell ging und er starb, bevor er das ganze Ausmaß der Katastrophe begreifen konnte. Im ersten Moment schaute er nur von unten verblüfft in die geschockten Gesichter seiner herbeigerannten Nachbarn. Dann riss er den Mund weit auf - schrie aber nicht. Er lag nur da, krampfte die zitternden Finger mit den aufgeplatzten Knöcheln um die schmiedeeisernen Spitzen, die aus seiner keuchenden Brust ragten und begann dann Blut zu spucken. Und gerade als in der Ferne das Martinshorn ertönte, zuckten seine langen spillerigen Arme plötzlich zur Seite, und die Finger bohrten sich in die nasse Gartenerde. Er sah aus wie ein aufgespießter Frosch mit verdrehten Pupillen, und die kleine Sauerbach bekam einen Schreikrampf.

„Huh!“ Emmi schauderte und zog die Decke bis über das Kinn.

Sie hatte nur zwei Meter vom Gartentor entfernt gestanden. Zusammen mit der Taube, die gerade aus dem Supermarkt kam und mit ihrer spitzen Zunge diverse Bekannte durchhechelte. Und gerade als sie sagte: „Und nu stellen Sie sich das man vor, da sagt mich die doch ganz frech...“, da bumste es neben ihnen, der Boden erzitterte, und Fritze schielte über Kopf zu ihnen herüber. Wie sich später herausstellte, gab es sogar einen Augenzeugen des Unfalls. Den Meier aus der Weidenstraße. Er konnte alles genau berichten. Wie der Fritze auf dem Dachfirst danebentrat und das Gleichgewicht verlor, wie er bäuchlings auf den Ziegeln hinunterrutschte und wie er in letzter Sekunde die Finger in den offenen Spalt des Dachfensters krallte.

„Der Mann war ein wirklicher Pechvogel“, sagte Hubert Meier den Polizisten, „er hatte es ja schon geschafft, der Dussel. Mit den Fingern hielt er sich im offenen Fensterspalt und die Füße standen quasi schon in der Dachrinne, da knallt ihm doch auf einmal das Fenster auf seine Finger, und der Woitzack segelt rücklings vom Dach.“

Ein tragischer Unfall.

Nach dem Unfall hatte Emmi die halbe Nacht in tiefes Nachdenken versunken wach gelegen, während sich Christina in ihren Armen wohlig an ihr schubberte und friedlich vor sich hinschnarchte. Und am nächsten Morgen hantierte sie lange an einem der Dachfenster herum, und das Herz wurde ihr von Minute zu Minute schwerer. Ihr Fenster und das der Taube kamen aus derselben Fabrik. Genormte Fließbandarbeit, im selben Geschäft bestellt und am selben Tag eingesetzt, etwa ein Jahr zuvor, als nach dem schweren Sturm die Dächer neu gedeckt werden mussten. Und diese Kippfenster ließen sich zwar nach oben und unten um hundertundachtzig Grad drehen, weil sie punktartig in der Mitte beider Seiten befestigt waren, aber egal in welchem Öffnungswinkel man sie losließ, sie blieben in exakt derselben Stellung stehen. Man benötigte sogar ein gewisses Maß an Kraft, um die großen Fenster auf- und zuzuschieben. Und je länger Emmi zog, zerrte und schob, um so besorgter wurde ihr Gesichtsausdruck.

Die alten Klappfenster, die man vorn hochklappte und dann auf einem wackligen Metallhebel befestigte, o ja, die brauchte man nur ungeschickt anzustoßen und schon knallten sie zu. Aber dieses hier ...

Ihre Sorge war aber unbegründet gewesen. Weder damals noch in all den Jahren danach kam es jemandem in den Sinn, die zehnjährige Christina Nichterlein zu verdächtigen, nur weil sie zufällig im Nachbarhaus mit Taubes Thomas‘ gespielt hatte und just zum Zeitpunkt des schrecklichen Unglücks, im Moment des zuklappenden Fensters, allein in der Dachkammer gewesen war, während Thomas, breitbeinig und zwei Etagen tiefer vor der Kloschüssel stand und mit seinem verklemmten Hosenschlitz kämpfte. Ob von den Erwachsenen überhaupt jemand etwas von Fritze Woitzacks pädophilen Neigungen wusste?

Tapfere kleine Christina, dachte Emmi in einem Anflug mütterlichen Stolzes, und nicht unzufrieden fiel ihr ein, dass die Bälger der roten Lola ein Jahr später allesamt in ein Heim für Schwererziehbare verfrachtet wurden, weil sie Rosenstocks Dackel Neun im Woit-zack’schen Keller die Beine brachen, während Herrchen im Bett der roten Lola stöhnte.

Und jetzt zog Lola Woitzack ebenfalls aus und vielleicht ging der Ärger damit wieder von vorne los. Wer weiß, wie die Neuen waren.

Sie seufzte schwer und drehte sich auf die Seite. Draußen begann es leise zu regnen.

Killerwitwen

Подняться наверх