Читать книгу Falkenblut - Chris Svartbeck - Страница 5

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Die Schwester

Schwestern waren langweilig. Wollten nie die Burg verlassen, hingen immer irgendwo in Haus und Hof herum, um Blumen zu hätscheln, immer dasselbe Essen zu kochen und Wäsche zu waschen. Er durfte dann nicht einmal in ihre Nähe kommen. Er sei zu schmutzig, schimpften sie.

Nur Selea war eine Ausnahme. Manchmal nahm sie Tiko mit, wenn sie die Burg verließ. Am besten fand er die Ausritte. Dann durfte er vor ihr auf dem Pferd sitzen, da, wo er den besten Blick hatte, sicher festgehalten von den starken Armen seiner großen Schwester. Sie ritt mit ihm bis hinauf zu den Bergwiesen. Dort durfte er herumtollen und mit ihr in den Felsen klettern. Sie hatte immer Pfeil und Bogen dabei, sicherheitshalber, aber meist benutzte sie sie nur, um auf Tannenzapfen zu schießen.

Selea hatte keine Angst, ohne männliche Begleitung auszureiten. Was sollte schon passieren, solange sie auf dem Land ihres Vaters blieb? Vaters Wachen hielten die Räuber kurz und die tolorischen Feinde fern, und von den eigenen Leuten hatte eine Tochter des Hauses Mehme keinerlei unangemessenes Benehmen zu erwarten.

Solange er noch ganz klein war, hatte Tiko das natürlich anders gesehen. Als Fünfjähriger war er vor Stolz fast geplatzt, wenn seine Schwester ihn liebevoll neckend als ihren Beschützer bezeichnete. Später wusste er es natürlich besser. Aber Spaß machten die Ausritte mit Selea trotzdem.

Solange, bis er sechs Jahre alt war und die anderen Jungen ihn aufzuziehen begannen.

„Na, immer noch mit einem Mädchen unterwegs? Traust dich wohl nicht unter Männer, was?“

„Bringt sie dir auch das Nähen bei?“

„Hast wohl Schiss, alleine rauszugehen!“

Danach begleitete Tiko seine Schwester nur noch selten auf ihren Ausflügen. Insgeheim gab er vor sich selbst zu, dass er diese gemeinsame Zeit vermisste. Selea war immer so lustig, und sie schlug und trat ihn nie.

„Eigentlich hätte sie schon längst verheiratet sein müssen. Dann wäre sie jetzt bei den Rarkat und ohnehin nicht hier“, bemerkte einer seiner älteren Brüder nur, als Tiko sich mal traute, das Thema anzuschneiden.

Das stimmte, wie die dicke Köchin Musa bestätigte, während sie ihm wohlwollend ein Stück kalten Braten in die Hand drückte. Kleine Jungen waren immer hungrig. „Aber Selea ist keineswegs traurig über die verschobene Heirat. Im Gegenteil, das verschafft ihr ein paar weitere Jahre zu Hause und damit relativ viel Freiheit. Selbst wenn es hinterher nur noch zur dritten Gemahlin des Rarkat-Erben reichte, das ist es ihr wert. Im Gegensatz zu einem Ehemann, der mit Argusaugen über jeden Schritt seiner Gattin wachen wird, interessierte sich ihr Vater kaum für das, was seine Töchter tun.“

Natürlich hätte Selea niemals gewagt, sich direkt gegen ihren Vater aufzulehnen. Nicht einmal seine ältesten Söhne taten das, obwohl sie schon erwachsen waren. Selea sollte die Stelle der Burgherrin vertreten, hatte der Vater gesagt. Also tat sie das, was auch ihre Mutter getan hatte: Die jüngeren Geschwister bemuttern, trösten, erziehen und lieben, den Haushalt leiten, die Einkäufe der Vorräte organisieren, den Hausbediensteten den Lohn auszahlen, Knechte und Mägde einstellen und, falls nötig, feuern.

Aber im Gegensatz zu ihrer Mutter, die als verheiratete Frau ohne die Erlaubnis ihres Gatten nirgendwohin gehen konnte, war Selea frei, die Burg zu Ausritten zu verlassen, durch Täler und Berge zu streifen und sich den einen oder anderen schönen Tag zu gönnen.

Einmal, als Tiko selbstvergessen mit ein paar Stockfiguren im Garten Krieg spielte, belauschte er Musa und seine Schwester. Er hörte mit eigenen Ohren, wie Selea zugab, diese Zeit ohne ihre Mutter sei die beste, die sie je gehabt hätte. Niemand, der sie in die Nähstube rief, um an ihrer Aussteuer zu arbeiten, niemand, der ihr erklärte, für eine Edelfrau schicke es sich nicht, den ganzen Tag draußen in der Sonne zu werkeln, das schade dem Teint, niemand, der schimpfte, dass es sich für eine Edelfrau ungehörig sei, auf dem Pferd zu sitzen wie ein Mann, anstatt sich mit einer Sänfte tragen zu lassen.

Sie müsse nur aufpassen, dass ihr Vater keinen Grund zur Klage fände und ihre Aufgaben stets mustergültig erledigt seien.

Das waren sie wohl, denn der Vater beschwerte sich nie. Im Gegenteil, einmal verstieg er sich sogar dazu, ein „Gut, gut!“ zu brummen, als Selea ihm die Vorratslisten vorlegte.

*

An einem schönen Frühsommertag war dann der Falke in die Burg gekommen. Selea kam von einem Ausritt zurück, einen Falken im Arm, den sie so in die Satteldecke eingewickelt hatte, dass der Vogel weder seinen gesunden Flügel noch Krallen oder Schnabel einsetzen konnte.

Sein Vater hatte sich das blutbefleckte Federbündel angesehen und war drauf und dran gewesen, dem Tier den Hals umzudrehen, aber Selea hatte protestiert und gesagt, der Flügel könne doch wieder heilen. Es war ein schöner, großer Falke, ein Königsfalke. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben. Vater hatte ihr den Versuch erlaubt, und der Falkner Mirko hatte den Vogel verarzten dürfen.

Danach schoss Selea nicht mehr auf Tannenzapfen. Irgendwie sah sie den Falken genauso als Verpflichtung wie ihre jüngeren Geschwister und sie ging für ihn jagen. Für ein Mädchen schoss sie sogar ziemlich gut, musste Tiko zugeben.

Anfangs brachte sie nur jeden zweiten oder dritten Tag Beute nach Hause, aber dann nahm sie den Falken mit. Und obwohl der Vogel weder dressiert noch flugfähig war, schien das Seleas Jagdkünste deutlich zu verbessern. Sie kam nie mehr mit leeren Satteltaschen zurück. Sie brachte Kaninchen, den einen oder anderen Vogel, sogar Murmeltiere heim.

Tiko wusste, wie schwer es war, ein Murmeltier zu erbeuten. Er war also gebührend beeindruckt.

*

Im nächsten Winter wurde Selea krank. Fast jeden Morgen erbrach sie sich, sobald sie aufstand. Tiko merkte es nur, weil er noch jung genug war, um in den Frauenquartieren zu schlafen. Er verstand nicht ganz, warum Selea nicht zu der Heilerin ging. Tagsüber musste sie nicht brechen, da verrichtete sie ihre Arbeit ganz normal, wenn auch vielleicht ein wenig langsamer, und niemand schien etwas zu merken. Selea war stolz, wie alle Mehme. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Tiko beschloss, den Mund zu halten. Es war ja auch ihr letzter Winter zu Hause, den wollte er ihr nicht verderben. Bereits im kommenden Sommer sollte sie den Rarkat heiraten. Zum Mittsommerfest. Vater stellte bereits ihre Mitgift zusammen. Auch das schöne braunscheckige Pony sollte dazugehören. Tiko beneidete Selea, er hätte es gerne selbst als Reittier gehabt. Oder besser gesagt, er beneidete ihren Rarkat-Bräutigam, denn dessen Eigentum würden sowohl das Pony als auch Selea werden.

Und dann kam jener Tag, der sich Tiko ins Gedächtnis einbrannte. Der Tag, der alles änderte.

Am Tag davor war Selea wieder zur Jagd geritten.

Und dann war nur ihr Pferd zurückgekehrt.

Vater hatte sich geweigert, in der früh einbrechenden Winternacht einen Suchtrupp loszuschicken, auch wenn die Spur in dem hohen Schnee vermutlich selbst bei Mondlicht gut zu erkennen gewesen wäre. „Wenn sie zu blöd ist, sich auf einem Pferd zu halten …“ hatte er gezischt.

Erst am nächsten Morgen durfte der Suchtrupp losreiten. Sie kamen schnell zurück, Selea war wohl schon ganz in der Nähe gewesen. Dann brachten die Männer Selea in den großen Saal. Alle waren sie dort versammelt, auf Befehl des Barons, die ganze Familie und alle Soldaten und Diener und Sklaven der Burg. Selea würde bestraft werden. Vor aller Augen.

Mirko hob ihr den Falken vom Arm, die Diener nahmen Selea die dicken Überkleider ab. Der Vater starrte auf ihren Bauch, als ob er Löcher hineinbrennen wollte. Sein Gesicht versteinerte zu jenem kalten, starren Ausdruck, der nach Tikos Erfahrungen äußerste Wut bedeutete. Und dann ging er auf seine Tochter los.

Tiko verkroch sich instinktiv unter dem Tisch

Sein Vater brüllte und trat, Selea schrie und ging zu Boden, und dann war plötzlich ein lautes Zischen zu hören, und sein Vater flog durch die Luft und gegen die Wand. Als Tiko wieder zu Selea sah, blieb ihm der Mund offen stehen. Über ihr stand etwas wie eine überdimensionale Eidechse mit funkelnden goldenen Augen, langen Zähnen und Flügeln. Das musste einer der sagenumwobenen Drachen sein! Aber die gab es doch nur im Norden, da, wo auch die Frostgeister lebten?

Tiko wollte gerade unter dem Tisch hervorkriechen, um dieses Wundertier näher in Augenschein zu leben, als der Drache tatsächlich redete!

„Wage es nicht, sie noch einmal anzurühren!“ Trotz des unmenschlichen Zischens war die Stimme klar verständlich. „Du nicht – und keiner deinesgleichen! Diese Frau trägt meine Brut! Sie steht unter meinem Schutz!“

Schlagartig herrschte Totenstille. Und Tiko war mehr als froh, unter dem Tisch und somit weitgehend außer Sicht zu sitzen.

Der Drache sprach weiter. Er klang ebenso wütend, wie Tikos Vater es zuvor gewesen war. Kunststück. Wenn Tiko das richtig verstand, hatte sein Vater schließlich auch gerade versucht, den Nachwuchs des Drachen totzutreten.

Gegen dieses Monster hatten alle Männer seines Vaters zusammen keine Chance. So fand Tiko es auch nicht erstaunlich, dass sein Vater bereitwillig auf alle Bedingungen des Drachen einging. Sicherheit und Unversehrtheit für Selea, Sicherheit und Unversehrtheit für das ungeborene Junge in seiner Burg.

Sicherheit mit Hintergedanken, und entsetzlicherweise schien der Drachen Gedanken lesen zu können. Er sprang den Baron an, und im nächsten Moment schrie sein Vater ganz fürchterlich, Blut spritzte und Tiko sah die abgebissene Hand seines Vaters zu Boden fallen.

Mirko war der einzige, der sich überhaupt traute, seinem Herrn zur Hilfe zu kommen und ihm den Armstumpf abzubinden. Danach musste Baron Kigato noch einmal schwören, dieses Mal wesentlich umfassender.

Der Drache wurde wieder zu einem Falken.

Und der Falke bliebt auf der Burg für die ganze Dauer von Seleas Schwangerschaft.

*

Im siebten Monat ihrer Schwangerschaft ritt Selea mit dem Falken aus. Als sie zurückkam, war der Falke nicht mehr bei ihr. Ihr Pferd auch nicht.

Und sie war nicht mehr schwanger.

Ihr Vater ließ sie gar nicht erst in die Burg hinein. Er hielt sein Versprechen, ihr nichts anzutun, aber er verbannte sie, weit weg, in ein kleines, ärmliches Köhlerdorf am Rand des Hochwaldes.

Tiko sah sie nicht wieder.

Falkenblut

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