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Halsröte

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Es war, als ob mit Selea auch das Glück aus der Burg vertrieben worden war. Tiko vermisste ihr Lachen. Seine Schwestern drängten sich scheu in die Schatten, sobald ihr Vater irgendwo auftauchte und ihre Stimmen sanken zu einem Flüstern, um nur nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Baron machte nicht einen einzigen Versuch, noch weitere von ihnen zu verheiraten. Es war, als ob sie nicht mehr existierten, Schatten unter Schatten.

Sein Vater trank. Trank, wenn er Schmerzen hatte – und sein Armstumpf schien ihn fast jeden Tag zu schmerzen. Er trank auch, wenn er keine Schmerzen hatte, um seine Schande zu vergessen. Tiko nahm er bis tief in den Winter nur ein einziges Mal wirklich zur Kenntnis. Das war, als der Frost so klirrend kalt war, dass die Wände der Burg innen vor Eiskristallen glitzerten, und Männer wie Frauen selbst in den Räumen noch dicke Pelze trugen. Ein Winter, wie er seit Menschengedenken nicht mehr hier, so tief im Süden der tolorischen Grenzberge, gesehen worden war. Ein Frostgeisterwinter, wie einige der ganz Alten schaudernd raunten. Der Vater war abgemagert seit dem Zwischenfall mit dem Drachen. Er fror schnell, weder das lodernde Kaminfeuer noch die dicken Fuchsfelldecken vermochten ihn zu wärmen. Tiko hörte ihn stöhnen und brachte ihm einen Becher heißen Würzwein. Sein Vater nahm den Becher, ohne ihn anzusehen, leerte ihn in wenigen Zügen. Dann sah er auf.

„Du!“ Er beugte sich vor. „Nichtsnutziger Nachkömmling. Dich hätte es niemals geben sollen. Dann wäre meine Gattin vielleicht noch am Leben und dieses ganze Desaster mit deiner Schwester niemals geschehen.“

Einen Moment schlossen sich seine Augen, als ob ihn die Müdigkeit übermannte. Dann flogen sie wieder auf; und schneller noch als seine Augenlider bewegte sich seine Faust, fuhr vor und traf Tikos linke Schulter. Sein Schlüsselbein brach mit einem hörbaren Knirschen. Tiko floh, so schnell er sich wieder aufrappeln konnte. Erst draußen wich der Schock so weit, dass er den Schmerz spürte und wimmernd zusammensank. Er merkte nicht einmal, wer ihn aufhob und zur Heilerin trug.

Der Knochen heilte ohne böse Folgen. Aber danach drückte auch Tiko sich in die Schatten, wenn sein Vater in der Nähe war.

Alle waren mehr als erleichtert, als es endlich taute und sie nicht mehr von Schneewehen eingeschlossen waren. Die Sache hatte nur einen Haken. Nicht nur die Mehme-Leute konnten jetzt ihre Burg verlassen, das konnten auch andere.

Tikos ältere Brüder bemannten die Grenzwachen doppelt. Da die Rarkat auf der einen Seite keine Mehme-Frau mehr in Aussicht hatten, auf der anderen aber auch der Schutz durch den Drachen fehlte, mochten sie auf die Idee kommen, wie in früheren Jahren Überfälle auf die Dörfer und Herden der Mehme zu machen.

Jeder Pass und jede Straße wurde gesichert.

Der Feind jedoch kam auf einem ganz anderen Weg.

*

Am ersten Vollmond nach dem letzten Schnee feierten sie traditionell das Frühlingsfest. Egal, wie miserabel seine eigene Stimmung war, dieses Fest musste Baron Kigato einfach feiern. Nicht einmal in seinem alkoholumnebelten Zustand war er so dumm, seine Gefolgsleute durch eine Absage zu verärgern.

Musa backte und briet und braute, und mit ihr werkelten ein Dutzend Frauen in der großen Küche. Tikos Brüder gingen wilde Antilopen jagen, und die Bauern brachten ihre traditionellen Frühlingsabgaben, Lämmer und Eier, um zur Festtafel beizutragen.

Wichtiger aber waren die Händler und Musikanten. Ein gutes Dutzend von ihnen kam, wie jedes Jahr, in die Burg, baute große, bunte Stände auf, voller verlockendem Tand, ihre Frauen und jungen Männer tanzten und zeigten akrobatische Kunststücke, Trommeln und Flöten erklangen den ganzen Tag und die ganze Nacht. Tiko wusste, dass er sich dieses Jahr nichts kaufen konnte, Vater hatte nicht, wie früher, ein paar Kupferstücke für seine jüngeren Kinder herausgerückt, aber die verheißungsvollen Gerüche, der Trubel im Burghof und die ungewohnte, lustige Menschenmenge besaßen dennoch eine magische Anziehungskraft. Er stürzte sich voller Begeisterung in das Gewühl.

Am interessantesten waren natürlich die Akrobaten und Jongleure. Einer der Musiker legte am Abend seine Trommel weg, griff zu einigen Fackeln und begann, die brennenden Scheite kunstvoll durch die Luft zu wirbeln. Tikos Augen klebten förmlich an den Funkenwirbeln. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Es war, als ob die Flammen Muster in den Himmel schrieben.

Ein zweiter kam dazu, und die beiden Männer warfen sich gegenseitig die Fackeln zu, ein halbes Dutzend waren es jetzt. Ihre schweißglänzenden Muskeln spielten im Feuerschein, während sie sich drehten und sich über den Platz bewegten, in einem flammenden Tanz.

Frenetischer Applaus dankte ihnen und Tikos ältester Bruder gab ihnen gut gelaunt einige Kupferstücke für diese Darbietung. Dann klang die Trommel wieder, und die Zuschauer begannen ebenfalls zu tanzen.

Für Kinder war in dem Tanz kein Platz. und immer nur zusehen war langweilig. Tiko beschloss, die bunten Wohnwagen etwas näher in Augenschein zu nehmen.

Wirklich reich waren die Händler und Schausteller nicht, wie er von Nahem sehen konnte. Zwar waren alle Wagen bunt bemalt und die Hörner und Hufe ihrer Zugochsen frisch geölt, aber das Holz war alt und verwittert, die Ochsen so mager, dass ihre Knochen hervorstanden. Die bunten Röcke, die an einer Leine zwischen zwei Wagen flatterten, waren vielfach geflickt und der Eintopf, der in einem großen Kessel auf einem offenen Feuer vor sich hin simmerte, roch nicht, als ob viel Fleisch darin enthalten war.

Eine Frau kam aus einem der Wohnwagen, ging zum Kessel und schöpfte etwas vom flüssigen Teil des Eintopfs in eine kleine Schale, dann kletterte sie zurück in den Wagen. Tiko konnte durch die offene Tür hören, wie sie mit jemandem sprach.

„Versuch doch wenigstens, etwas zu essen. Schau, ich hab dir auch nur Brühe mitgebracht. Es tut bestimmt nicht weh. Versuch es, mir zuliebe, bitte!“

Sie bekam keine Antwort.

Warum sollte jemand nicht essen wollen? Tiko wusste absolut sicher, dass er nie, nie etwas zu essen ausschlagen würde. Irgendwie hatte er sowieso immer Hunger.

Wie auf Stichwort rumorte sein Magen. Der Eintopf hatte wohl zu gut gerochen, auch ohne Fleisch. Aber Tiko wusste, wo er Besseres bekommen würde. Er flitzte zu Musa in die Küche.

Am nächsten Tag packten die Händler bereits wieder und fuhren ab, ebenso die Dorfleute. Tikos Brüder kurierten, wie die meisten Männer der Burg, einen ordentlichen Kater, und die Frauen machten sich mit einigen Seufzern daran, die Überreste der Feuer wegzuräumen und den Hof zu säubern. Nicht alles, was sie fanden, war appetitlich, die Feier schien einigen nicht gut bekommen zu sein. Aber das war nach jedem Frühlingsfest so und sie lachten und scherzten, während sie fegten und schrubbten.

Am späten Nachmittag schmerzte plötzlich Tikos Kopf. Gegen Abend war es so schlimm, dass er nichts essen mochte. „Hast dir gestern wohl den Magen verdorben, was, Kleiner?“, scherzte Musa gutmütig. „Das nächste Mal nimmst du einen Blaubeerkuchen weniger.“

Einer der Diener platzte in die Gesindeküche, wo traditionell auch die jüngeren Kinder und Frauen des Burgherrn mit aßen. „Ich brauche einen Eimer mit heißem Wasser, schnell! Der junge Herr Kimuko hat sich erbrochen, mitten bei der Mahlzeit!“

Das würde seinem Vater ganz bestimmt nicht gefallen. Tiko war fast geneigt, Mitleid mit Kimuko zu haben. Wie viel sein Vater auch trank, von seinen Söhnen erwartete er, dass sie Maß hielten. Kimuko stand eine derbe Abreibung bevor.

Aber warum sah Musa plötzlich so besorgt aus?

„Das ist schon der vierte.“ Die Köchin flüsterte, als ob sie Sorge hatte, die Aufmerksamkeit böser Geister auf sich zu ziehen. Ihr Blick flog zu Tiko. „Oder der fünfte. Holt die Heilerin! Sofort! Und du, mein Junge, gehst sofort ins Bett!“

Normalerweise hätte Tiko mit seinen bereits neun Jahren heftig protestiert. Er war kein kleines Kind mehr, das man einfach so ins Bett schickte. Aber heute war er fast erleichtert, die Tafel verlassen zu dürfen.

Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging, stolperte er und fiel. Verdutzt blieb er auf den Stufen sitzen. Was war denn bloß mit ihm los? Diese kleine Treppe nahm er doch sonst mit wenigen Schritten!

Einer der Diener kam, sah ihn dort sitzen, hob ihn hoch und trug ihn ohne viel Federlesens in sein Zimmer. Tiko war froh, als er endlich unter der warmen Bettdecke lag. Er hatte entsetzlich zu frieren begonnen.

*

An die nächsten Tage erinnerte er sich nicht. Nur noch daran, dass er nach Luft gerungen hatte, dass sein Hals schmerzte, als er wieder erwachte, und er sich schwach fühlte wie ein neugeborenes Kitz.

Die Heilerin hatte ihm etwas eingeflößt, bitter, kratzig, aber er war so durstig gewesen, dass ihn das nicht störte.

Dann hatte sein Vater in der Tür gestanden, ihn angesehen, fast feindselig. „Warum ausgerechnet der? Warum nicht einer von den anderen? Die wären wenigstens nützlich gewesen!“

Die Tür fiel zu, sein Vater war verschwunden.

Im Blick der Heilerin hatte er Mitleid gesehen.

Halsröte. So hieß der Feind, der die Burg und das ganze Umland erobert hatte, heimtückisch und leise, noch während sie alle glücklich feierten. Die, die auf dem Fest gewesen waren, hatten die Seuche mit heimgebracht. Kein Dorf, in dem nicht Tote zu beklagen gewesen waren. Niemand, der die Krankheit nicht schon einmal mitgemacht hatte, blieb verschont. Von den Kindern überlebten die meisten. Aber die jungen Männer raffte es reihenweise dahin. Tiko war der einzige Sohn Kigatos, der überlebte.

Jetzt wusste er, was er in dem kleinen Wagen der Händler in der Festnacht gehört hatte. Die Fremden hatten den Tod mitgebracht.

Nur für die Männer. Frauen erkrankten nie an der Halsröte. Eine Tatsache, die Baron Kigato besonders übelnahm. Vier Söhne des Hauses Mehme waren tot. Die Burg hatte nur noch einen einzigen Erben: Tiko. Und eine Horde Mädchen, die er mangels ausreichender finanzieller Mittel nicht verheiraten konnte.

Natürlich erwog Kigato, sich eine neue Gattin zu nehmen und weitere Söhne zu zeugen. Das Problem war nur, dass ein Haus, das so viele Söhne verloren hatte, den potenziellen Schwiegerväter als wenig glückbringend erschien. Mal ganz zu schweigen davon, dass Kigato nur noch eine Hand hatte. Also blieb er Witwer und alleine.

Da wäre natürlich immer noch die Möglichkeit gewesen, einen seiner Bastarde mit der Dienerschaft anzuerkennen. Aber ein Mehme, der eine nichtadelige Mutter hatte?

Das ließ sein Stolz nicht zu.

Dann doch lieber diesen nichtsnutzigen, aber rechtmäßigen Nachkömmling ausbilden.

*

Tiko wurde zu seinem Vater zitiert. Das war das erste Mal, dass er erfuhr, dass mit seinem Namen etwas nicht stimmte.

„Du wirst dich anstrengen müssen. Es geht nicht an, dass das Haus Mehme von einem Mann vertreten wird, der nur zwei Silben in seinem Namen hat. Ich werde dich als Kadett bei der königlichen Garde anmelden. Sieh zu, dass du in den nächsten Jahren aufholst, was du bisher zu lernen versäumt hast. Die Garde behält nur die Besten. Und zu denen musst du gehören, damit der König dir einen längeren Namen gewährt.“

Tiko verstand die Welt nicht mehr. Was war so schlimm an einem Namen mit zwei Silben? Selbst der Hauptmann, der die Soldaten seines Vaters anführte, hatte nur zwei, und ebenso seine beiden jüngsten Schwestern.

Der Hauslehrer übernahm die undankbare Aufgabe, den jungen Burgerben aufzuklären.

„Euer Vater hatte sechzehn Kinder mit seiner rechtmäßigen Gattin. Er hat nie damit gerechnet, dass bei so vielen Nachkommen ausgerechnet sein Jüngster der Erbe sein würde. So wenig, wie er damit rechnete, dass er seine jüngeren Töchter je verheiraten könnte. Daher hat er sich die mühsame Suche nach einem passenden Namen bei seinen jüngsten drei Kindern gespart.

Das Problem ist, dass im gesamten Adel ein Name mit weniger als drei Silben undenkbar ist. Wenn Ihr also diesen Namen behaltet, wird man immer annehmen, ihr wäret von niedriger Geburt. Ein Bastard, oder, schlimmer noch, ein Bürgerlicher, der gerade erst in den Adelsstand erhoben wurde. Damit wäre es für Euch unmöglich, eine standesgemäße Ehe abzuschließen oder jemals im Reich irgendeinen höheren Posten zu bekleiden.“

Sein Vater war also der Grund für seine missliche Lage. Tiko biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten.

*

Kampftraining mit und ohne Waffen, Schreib- und Leseübungen, lernen, lernen, lernen. In den folgenden Monden wünschte Tiko sich oft, nicht seine Brüder wären an der Halsröte gestorben, sondern er selbst.

Sein Vater redete in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal mit ihm: Als der Baron von den Ausbildern und Lehrern wissen wollte, ob Tiko weit genug war, um Kadett zu werden. Ansonsten gingen beide, Vater wie Sohn, sich so weit wie möglich aus dem Weg und die wenigen gemeinsamen Mahlzeiten verbrachten sie schweigend.

Am Ende war Tiko mehr als erleichtert, als er tatsächlich nach Sawateenatari geschickt wurde. Auch wenn das bedeutete, die klare, kühle Luft der Berge gegen die mückenverseuchten Flussufer des Tsaomoogra und die stinkenden, lärmenden Gassen der Hauptstadt einzutauschen, in denen die heiße Luft zu stehen schien und mehr Menschen herumwuselten, als es im Frühjahr in den Bergteichen Kaulquappen gab.

Die Eskorte aus drei Soldaten lieferte ihren Schützling am Tor des Kasernenhofes ab, überreichte einem mürrischen Hauptmann, der die Neuen in Augenschein nahm, den Begleitbrief des Barons, auf dem unübersehbar das gleiche Wappen prangte wie auf Tikos schon fadenscheiniger, viel zu großer, von seinem ältesten Bruder geerbten Tunika, und machten auf der Stelle kehrt.

Da war er nun. Auf Gedeih und Verderb dazu verdammt, Erfolg zu haben.

Tiko spürte einen Muskel in seinem Gesicht zucken. Er zwang sich, seine Kiefer zu entspannen. Hier gefiel ihm überhaupt nichts. Aber er hatte keine Wahl. Und zudem, es würde ja nicht für ewig sein. Sobald er seinen Namen hatte, war er hier wieder weg, soviel stand fest.

Falkenblut

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