Читать книгу Steinfaust - Chris Svartbeck - Страница 10

Steinfaust Sommer 1032

Оглавление

Ein schlanker Holzpfosten stand auf dem Hof, knapp mannshoch, gekrönt von einem fest mit Sand gefüllten Lederball.

Der Hauptmann grinste. „Antreten, Reihe bilden, draufschlagen! Und danach eine Runde um den Hof laufen, bis ihr wieder dran seid!”

„Aber … der Sandsack ist viel zu hoch angebracht!”, wagte Norad zu bemäkeln.

„Na und? Glaubst du, dass du im Kampf immer nur auf Gegner treffen wirst, die gleich groß oder kleiner sind als du? Marsch, marsch, ab nach vorne! Du fängst an!”

Der Sandsack war harte Arbeit. Nach dem siebten Durchgang begann Steinkind, seine Muskeln zu spüren, und seine Knöchel waren gerötet. Aber er schlug weiter zu, so fest er konnte.

Der fünfzehnte Durchgang. Steinkinds Muskeln brannten und seine Knöchel bluteten jetzt. Der Pfahl begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Er visierte den Sandsack an. Undeutlich nahm er eine Bewegung im Hintergrund wahr. Etwas Weißes. Etwas unförmiges, walzenartiges Weißes. Etwas näher kommendes Weißes, das hinter dem Pfahl innehielt und ihn anstarrte. Götter, nein! Nicht die Weißgesichtigen! In einer Aufwallung von Hass und Verzweiflung schlug er zu, geradewegs in das weißteigige Gesicht.

Holz splitterte. Der Sandsack fiel mit einem dumpfen Geräusch herab. Das Weiße hinter dem Pfahl machte einen erschrockenen Satz nach hinten. Und Steinkind stand wie erstarrt.

Es war der große Bärenhund des Prinzen.

Für einen Moment konnte er nur einen Gedanken fassen: Sie sind doch nicht hier!

Dann folgt ein zweiter, keineswegs beruhigenderer Gedanke: Was, wenn er sich tatsächlich aus Versehen mit dem Lieblingstier des Prinzen angelegt hätte? Der Hund konnte Bären töten. Mit einem Menschen hätte er vermutlich nicht viel Federlesens gemacht.

„Zu tief gezielt.” Der Hauptmann trat neben Steinkind. Mit den Fingern maß er die Dicke des Pfahls. Volle zwei Zeigefinger. „Aber verdammt noch mal, du hast einen guten Schlag, Junge! Wie eine steinerne Faust.”

Abends, beim Bier, beschlossen seine Kameraden, ihn umzubenennen. „Ein Kind bist du eh schon lange nicht mehr!” Drowus Hand landete krachend auf Steinkinds Schulter. „Da wird es doch Zeit, dass du einen anständigen Männer-Namen kriegst. Der Hauptmann hatte recht. Du hast eine Steinfaust.”

Damit hatte Steinkind einen neuen Namen.

Was war an jenem Nachmittag überhaupt geschehen? Steinfaust war sich selbst nicht sicher. Er wusste nur eines mit Bestimmtheit: Selbst der stärkste Mann im Dorfe war zu Hause nicht in der Lage gewesen, einen dicken Holzpfahl ohne Werkzeug zu zerlegen.

Er probierte es. Mit dünnen Brettern zunächst, dann mit dickeren. Seine Faust zerschlug fingerdicke Planken, daumendicke – aber viel mehr nicht. Steinfaust holte sich wieder und wieder wunde Knöchel.

Irgendwann entdeckte er, dass er mehr Kraft in den Handkanten als in den Fäusten hatte. Aber auch mit den Handkanten konnte er nicht mehr als zwei Finger dickes Holz zerteilen.

Was war anders gewesen an jenem Nachmittag?

Die Holzplanke stand vor ihm, eine Armlänge tief in den festgestampften Boden eingegraben. Sie federte ein wenig vom letzten Schlag, fast, als ob sie ihn verhöhnen wollte. So, wie ihm auch das Lächeln der Weißgesichtigen höhnisch erschienen war.

Die Weßgesichtigen …

Er hatte den Hund gesehen hinter dem Pfahl. Gesehen und nicht gesehen. Seine Fantasie hatte ihm vorgegaukelt, es wäre einer der Weißgesichtigen. Noch während er daran dachte, stieg der Hass wieder in ihm hoch, der Abscheu, der dringende Wunsch, dieses verdammte weiße, lächelnde Gesicht zu zerschlagen. Wie von selbst fuhr seine Faust hoch.

Die Holzplanke zersplitterte.

Das war das Geheimnis! Steinfaust betrachtete halb ungläubig, halb erleichtert die Splitter. Er durfte nicht auf die Planke zielen. Er musste versuche, ein dahinter liegendes Ziel zu treffen.

Sofort probierte er es erneut. Die nächste Planke zerbarst beim ersten Versuch.

Ebenso die übernächste. Und eine vierte. Und eine fünfte.

Acht Holzplanken später hörte Steinfaust auf. An einer Stelle seiner Knöchel sah der blanke Knochen heraus.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass nahe der Hofmauer seine Kameraden begeistert Beifall johlten. Dann legte sich eine schwielige Hand auf seine Schulter. Der Hauptmann.

„Du blutest. Räum auf, versorge deine Hand und komm dann zu mir ins Büro.”

Bis Steinfaust beim Hauptmann war, hatte er gemerkt, wie sehr seine Hand schmerzte. Sie war auf das doppelte ihres normalen Umfangs angeschwollen und er spürte jeden Pulsschlag schmerzhaft in dem entzündeten Gewebe.

„Das war dumm“, kommentierte der Hauptmann. „Aber das hast du ja wohl selbst inzwischen gemerkt.“

„Ich hätte nach der zweiten, spätestens der dritten Planke aufhören müssen“, gestand Steinfaust ein.

„Und warum hast du es nicht getan?“

Steinfaust zuckte mit den Achseln. „Weiß ich nicht. Irgendwie … es war wie ein Rausch.“

„Du hast etwas erlebt, was nur wenige Krieger je schaffen. Du hast dich in Berserkerwut hineingesteigert. Ein Zustand, in dem man übermenschliche Kräfte entwickelt und keine Schmerzen spürt. Dummerweise auch ein Zustand, in dem man nicht mehr richtig denken kann.“

Kara hatte erzählt, dass sein Vater in der Schlacht zum Berserker wurde. Es hatte sich nicht angehört, als ob er das für eine Dummheit hielt. Aber die Nordmänner mochten das anders sehen als ein Hauptmann der narkassianischen Armee.

„Kann ich verhindern, dass ich noch einmal in diesen Zustand verfalle?“

„Nur mit eiserner Disziplin. Die Frage ist, ob du das willst.“

Steinfaust überlegte. Der Hauptmann sprach mit Sicherheit nicht grundlos mit ihm. „Sollte ich das wollen?“

Als keine Antwort kam, stocherte er nach. „Welchen Vorteil hätte ich, wenn ich der Berserkerwut wieder nachgebe, und welchen, wenn ich sie durch Disziplin beherrsche?“

Der Hauptmann nickte, als ob er etwas bestätigt sah. „Du hast Grips. Sag mir, Junge, wo siehst du dich in zehn Jahren? Welchen Posten willst du dann haben? Wo in zwanzig Jahren, wo in dreißig?“

„In dreißig Jahren will ich der oberste General der Armee sein.“ Steinfausts Antwort kam, bevor er überhaupt darüber nachdachte. Erschrocken hielt er den Atem an. Was, wenn er jetzt den Hauptmann beleidigt hatte? Konnte ein Zugewanderter aus Meelas überhaupt einen höheren Rang in der Armee erreichen?

Der Hauptmann grinste. „Nicht gerade das kleinste Ziel. Was glaubst du, was du dafür brauchst?“

Geld, Reichtum, Beziehungen? Nein, das meinte der Hauptmann bestimmt nicht. Steinfaust überlegte. Was tat ein General? Er redete mit dem Shorok. Er gab Befehle. Er plante.

Der General kämpfte nicht selbst.

Der General durfte auf keinen Fall ein Berserker sein.

„Dann muss ich Disziplin lernen.“

„Disziplin und ein paar Dinge mehr. Dinge, die du als einfacher Soldat nie lernen wirst. Ab sofort bist du mein persönlicher Bursche.“

Bursche des Hauptmanns zu sein hatte Vor- und Nachteile.

Steinfaust konnte lernen, soviel er wollte, ja, er musste es sogar. Der Hauptmann schulte ihn mit allem, was er selbst wusste. Er hörte, was der Hauptmann mit anderen Offizieren und manchmal sogar mit dem Prinzen selbst besprach, und auch daraus lernte er. Der Hauptmann machte Andeutungen, dass Steinfaust für die höhere Laufbahn infrage kommen könnte. Allerdings musste er dafür die Aufnahmeprüfung der Offiziersschule bestehen. Und dafür musste er zuvor noch sehr viel mehr lernen. Also lernte Steinfaust.

Aber weder das Lernen noch seine Hilfsdienste für den Hauptmann entbanden ihn vom täglichen Exerzieren oder von den Kasernen. Und seine Kameraden ließen ihn deutlich spüren, dass sie ihn nicht mehr richtig als zugehörig betrachteten. Da war ein Graben zwischen ihnen, nicht tief, nicht unüberbrückbar, aber kalt wie das Eis des Nordens. Steinfaust vermisste die alte Kameradschaft.

Bis der Hauptmann ihn eines Tages nach Dienstschluss anwies, noch zu bleiben.

Hatte er etwas falsch gemacht? Aber was nur? Steinfaust sah ratlos zu, wie der Hauptmann zum Schrank ging, ihn öffnete, eine Flasche herausholte und zwei Becher. Er stellte die Becher auf seinen Schreibtisch, öffnete die Flasche, goss eine honigfarbene Flüssigkeit aus der Flasche hinein und verschloss diese dann sehr sorgfältig wieder. „Komm näher. Ich beiß dich schon nicht!“

Steinfaust kam zögernd heran.

„Du vermisst deine Kameraden, nicht wahr?“

Steinfaust schluckte. „Ist das so offensichtlich?“

„Nein, du tarnst es gut. Aber ich weiß noch genau, wie es mir damals gegangen ist. Hier, nimm!“ Der Hauptmann schob ihm einen der Becher zu.

Nach kurzem Zögern griff Steinfaust zu und nahm, wie der Hauptmann, einen kräftigen Schluck.

Es fehlte nicht viel und er hätte alles wieder ausgespuckt. Das Zeug brannte wie Feuer in seinem Rachen und den ganzen Weg hinab in seinen Magen, wo es dann zu explodieren schien. Steinfaust schluckte verzweifelt, schluckte noch einmal, schnappte nach Luft und holte tief Atem. Ein Fehler. Im nächsten Moment hustete er sich fast die Seele aus dem Leib.

Der Hauptmann lachte, schlug ihm kräftig auf den Rücken. „Bist wohl noch nichts Gutes gewohnt, was? Das ist Honigfeuer. So etwas trinken echte Männer!“ Er schüttete sich den Rest seines Bechers mit sichtlichem Wohlbehagen in den Mund. „Und du bist alt genug, um ein Mann zu sein.“ Er stellte den Becher wieder ab. „Deswegen werden wir jetzt von Mann zu Mann reden. Also, Steinfaust. Willst du immer noch General werden?“

Steinfaust nickte. Reden konnte er noch nicht wieder.

„Gut“, fuhr der Hauptmann fort. „Den nötigen Ehrgeiz scheinst du zu haben. Aber bist du auch bereit, für diesen Wunsch einiges zu opfern? Du bist seit fast acht Monden mein Bursche. Ich weiß, dass du lernen kannst. Aber das hier, das war ein gemütlicher Spaziergang. Wenn du die Aufnahmeprüfung der Offiziersschule bestehen willst, musst du sehr viel mehr lernen. Und sehr schnell, denn die nächsten Prüfungen sind bereits in drei Monden. Du wirst dir kein Versagen leisten können. Niemand kriegt mehr als eine Chance. Privatleben kannst du abschreiben. Keine Biere mehr abends, keine Besuche bei den Huren, kein Kartenspielen, nichts. Willst du dir das wirklich antun?“

Steinfaust quetschte ein mühsames „Ja!“ hervor.

„Dann sind da noch deine Kameraden. Du hast jetzt schon gesehen, wie alleine die Tatsache, dass du mein Bursche bist, dich von ihnen entfremdet hat. Was, glaubst du, wird passieren, wenn du ein Offizier wirst? Was glaubst du, wie viel ein Offizier mit einem gemeinen Soldaten redet?“

„Nicht viel.“

„Ganz genau. Ein Offizier redet nicht mit seinen Soldaten. Er gibt ihnen Befehle. Und wenn du wirklich General werden willst … überleg es dir gut. Ein gemeiner Soldat hat viele Kameraden und unter ihnen viele Freunde. Ein Offizier hat nur wenige. Und ein General gar keine.“

Steinfaust dachte an die Weißgesichtigen. Niemand hier wusste von der Bedrohung. Und die, denen er davon erzählt hatte, hatten ihm nicht geglaubt. Wenn er dieses Land vor den weißen Ungeheuern schützen wollte, musste er hoch genug kommen, dass er Befehle geben konnte. Und deshalb … „Ich will General werden.“

Der Hauptmann nickte, als ob er etwas bestätigt fand. „Eines solltest du noch bedenken, Soldat. Wenn du die Prüfung nicht schaffst, musst du zurück in die Baracken. Aber deine ehemaligen Kameraden werden dich nie wieder in ihre Reihen aufnehmen.“

„Dann muss ich eben die Prüfung schaffen.“ Steinfaust hob seinen Becher ein zweites Mal, trank den Rest in einem Zug aus und setzte ihn hart wieder an. Das Zeug brannte nicht weniger als beim ersten Mal. Aber er schaffte es, ruhig stehen zu bleiben und nicht zu husten.

Das mit dem „zurück in die Baracken“ hatte der Hauptmann wörtlich gemeint. Steinfaust hauste ab sofort im Vorzimmer seines Hauptmanns. Die Blicke seiner ehemaligen Kameraden brannten ihm im Nacken, wenn er mit ihnen exerzierte. Sie lauerten förmlich auf einen Fehler. Steinfaust strengte sich doppelt an. Jetzt wieder zurück zu müssen … Da wäre fast der Hundezwinger seines ehemaligen Herrn vorzuziehen gewesen. Exerzieren musste er trotzdem, wenn auch nicht mehr so viel wie früher.

Dafür verlangte der Hauptmann, dass sein Bursche ab sofort praktisch jede freie Minute mit ihm verbrachte. Und Steinfaust bemerkte etwas, das ihm vorher nie aufgefallen war. Der Hauptmann, dessen Name Ochon war, wie er ebenfalls lernte, bekam Besuch. Zu den merkwürdigsten Zeiten. Und von den merkwürdigsten Leuten. Es schien fast, als ob sämtliche Kasten Narkassias den Hauptmann aufsuchten. Vom Bettler bis zum Adeligen. Bei dem Bettler versuchte Steinfaust zu horchen. Aber so laut der Mann vor der Tür der Kaserne nach einer milden Gabe gejammert hatte, so leise war seine Stimme, als er hinter der dicken Holzbohlentür zur Stube des Hauptmanns verschwunden war. Es war frustrierend, um das Mindeste zu sagen.

Drei Tage später rief Ochon ihn zu sich. „Du erinnerst dich an den Bettler, der hier war?“

Steinfaust bejahte.

„Würdest du ihn wiedererkennen?“

„Eine Narbe wie ein Angelhaken auf der linken Seite des Kinns, einer der unteren Schneidezähne fehlt, der andere ist schief. Und mindestens zwei Finger seiner Linken waren schon einmal mehrfach gebrochen.“

Ochon streckte ihm einen Holzstab hin, kaum länger als seine Hand. An einem Ende hatte der Stab drei rote Farbringe, am anderen war krude etwas hineingeschnitzt, das wie ein vierfüßiges Tier aussah. Eines mit einer kurzen Schnauze und einem kegelförmigen, ziemlich langen Schwanz. „Gib ihm das. Unauffällig.“

Einen winzigen Moment war Steinfaust versucht, nach dem „Warum“ zu fragen. Aber dann nahm er stumm den Stab und verließ die Wachstube.

Der Bettler war schnell gefunden. Um diese Zeit war Markt, und sie lungerten alle dort herum. Steinfaust ließ den Stab zusammen mit einem Kupferling in seine Bettelschale gleiten und ging weiter, ohne sich umzusehen, als wäre ihm der Bettler bestenfalls lästig. Als er sich am nächsten Stand unauffällig nach ihm umsah, verschwand der Mann gerade in einer der kleinen Gassen Richtung Flussviertel.

Der Hauptmann fragte nicht, als Steinfaust zurückkehre. Er drückte ihm lediglich ein neues Buch in die Hand. „Deine heutige Lektüre. Ein zukünftiger General muss wissen, für wen er kämpft. “

Steinfaust sah auf den Titel. Er hatte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken. Die Geschichte der unteren Adelshäuser Narkassias, Teil 4, die südlichen Baronien. Das hieß, von diesem uninteressanten Zeug gab es noch mindestens drei weitere Bände, mit denen er sich vergnügen durfte. Vermutlich würde Ochon ihn anschließend abfragen, was den Inhalt betraf, so wie er das auch bei den anderen Büchern schon gemacht hatte.

Wenigstens war es einigermaßen dünn.

Steinfaust merkte bereits beim Betreten der Kantine, dass etwas in der Luft lag. Der Geräuschpegel war höher als normal, und praktisch an allen Tischen steckten die Fußsoldaten die Köpfe zusammen.

Der Hauptmann ignorierte das und steuerte direkt zur Essensausgabe. Steinfaust schien es eine gute Option, das Schweigen seines Vorgesetzten nachzuahmen.

Ochon war ungewöhnlich schweigsam beim Essen. So konnte Steinfaust nicht umhin, zu hören, was an den Tischen der Fußsoldaten diskutiert wurde.

„Der muss jemandem ganz gewaltig auf die Füße getreten sein!“

„Hat wohl geblutet wie ein Schwein.“

„Schlimmer. Den haben sie aber auch an der richtigen Stelle erwischt.“

„Du meinst …?“

„Genau das. Jemand hat ihm den Schwanz abgeschnitten.“ Der Sprecher grinste böse. „Geschah ihm recht. Der Mistkerl hat jede Frau genommen, die er erwischen konnte, und sogar ein paar Jungen. Eine Schande war der. Eine Schande für seine ganze Familie.“

„Und warum hat den dann nicht schon früher jemand um die Ecke gebracht?“

„Hat sich wohl keiner getraut. Immerhin sind die Ottersteiner um drei Ecken mit dem Shorok verwandt.“

Der Löffel mit den Pferdebohnen blieb zwei Herzschläge lang auf halber Höhe stehen, bevor Steinfaust ihn in seinen Mund schob. Das also war diese merkwürdige Schnitzerei gewesen. Ein Otter. Der Holzstab war eine Botschaft gewesen. Genauer gesagt, ein Mordauftrag.

Aber wer war Hauptmann Ochon, dass er einen Verwandten des Shorok ermorden lassen konnte? Und warum?

Drei Tage später wurde ein junger Sklave als Mörder hingerichtet. Ein sehr junger Sklave. Eigentlich war er noch ein Kind. Der Junge konnte kaum mehr als zwölf Winter zählen. Er zitterte, als er sein Urteil vernahm. Ausweiden und vierteilen. Aber dann richtete er sich auf, sah seinen Richtern ins Gesicht und erklärte laut und weithin vernehmbar: „Ich habe meinen Herrn nicht getötet. Aber ich wünschte, ich hätte es getan. Und wer auch immer der Mörder war, ich zolle ihm Beifall dafür, dass er die Welt von einem Widerling befreit hat.“

„Abführen“, knurrte der Richter, ohne von seinen Papieren aufzusehen.

Aber als zwei Gardisten den Jungen hinausbrachten, sah Steinfaust, wie der Richter den Kopf hob und nachdenklich hinter ihm her sah.

Die Hinrichtung war spektakulär … kurz. Irgendwie schaffte es der Henker, sein Messer etwas zu tief in den Leib des Jungen zu stoßen und die Pfortader zu verletzen. Er war tot, noch bevor die Schmerzen richtig begannen. Steinfaust dachte laut darüber nach, als er wieder bei Ochon saß.

„Man sollte meinen, dass einem erfahrenen Henker so ein Fehler nicht unterläuft.“

Ochon brummte etwas Unverständliches.

Steinfaust bohrte weiter. „Wird das Konsequenzen für ihn haben?“

„Warum sollte es?“ Ochon schrieb weiter an seiner Liste, ohne aufzusehen. „Der Ottersteiner hat nicht allzu viele Sympathien gehabt. Nicht mal bei seiner eigenen Sippe. Er soll sich nicht nur an Sklaven vergangen haben.“

„Dann könnte es also durchaus sein, dass der Sklave recht hatte und ein anderer seinen Herrn getötet hat.“

„Bestimmt nicht. Unser Gericht irrt sich bekanntlich nie. Schließlich untersteht es dem Shorok direkt, und der Shorok ist die Sonne der Gerechtigkeit.“

„Dann war es also dem Shorok nicht recht, was sein Vetter trieb.“

Ochon legte die Feder nieder, mit einer fast übertriebenen Sorgfalt. Dann stand er auf, kam zu Steinfaust und blickte ihm in die Augen. „Noch bist du kein General. Noch bist du nichts als ein unbedeutender, leicht zu ersetzender Bursche. Einer wie du hat nicht das Recht, über den Shorok zu mutmaßen oder auch nur seinen Namen in den Mund zu nehmen. Erinnere dich gefälligst daran, wo dein Platz ist.“

Bevor er sich wieder an seinen Tisch setzte, sah er noch einmal zu Steinfaust zurück. „Statt dir unnütze Gedanken zu machen, lies lieber das Buch, das ich dir gegeben habe. Jede einzelne Seite.“

Steinfaust las. Und revidierte sein Urteil. Das Buch war zwar in einem fürchterlich langweiligen Stil geschrieben, aber das, was darin stand, war alles andere als langweilig, jedenfalls dann nicht, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen verstand. Das Buch war einer Aufstellung aller vergangenen Taten und Verträge, Hochzeiten und Bündnisse, Streitigkeiten und Straftaten sowie aller Stellungen bei Hofe, die die Vertreter der südlichen Baronien in den letzten fünf Generationen begangen bzw. innegehabt hatten. Und bei genauem Lesen fand sich darin auch die Erklärung, warum der Shorok den Ottersteiner hatte meucheln lassen, anstatt ihn zu maßregeln. Ein Ottersteiner Onkel zweiten Grades hatte seinerzeit den Kopf hingehalten, als der Großvater mütterlicherseits des heutigen Shorok bei einem Feldzug vor Angst zitternd hinter einem Busch gesessen und sich die blanke Furcht aus dem Leib geschissen hatte. Zugegeben, der Junge war damals erst acht Winter alt gewesen, aber trotzdem. Der Shorok schuldete den Ottersteinern etwas. Und mit diesem diskreten Mord hatte er seine Schulden beglichen.

Wo immer der Hauptmann dieses Buch her hatte, Steinfaust war sich sicher, dass es aus keiner öffentlich zugänglichen Bibliothek stammte. Blieb nur die Frage, was eigentlich die Rolle des Hauptmanns in diesem Schattenspiel war.

Zunächst aber hatte Steinfaust andere Sorgen. Zur Herbst-Tag-und-Nachtgleiche standen die Aufnahmeprüfungen der Akademie an. Er musste also dringend lernen. Der Hauptmann seinerseits dachte nicht daran, ihn zu entlasten, im Gegenteil. Er hatte anscheinend Steinfaust zu seinem persönlichen Boten erkoren. Steinfaust lernte die Stadt gründlich kennen. Jeder noch so versteckte Winkel schien Adressaten der Botschaften des Hauptmanns zu beherbergen. Warum musste er dorthin? Noch dazu stets alleine, unbewaffnet und mit einem neutralen grauen Umhang getarnt? Und warum kam kaum je einer dieser Leute seinerseits zum Hauptmann?

In Narkassia kam der Herbst nicht mit Schnee, sondern mit Regen. Das nahe Meer war schuld, hatte ihm Warg einmal erklärt. Es hielt die Luft warm und damit das Wasser flüssig bis fast zum zweiten Mond vor der Wintersonnenwende.

Warm war relativ. Wie jeden Herbst fror Steinfaust und zitterte sich abends unter der dünnen Wolldecke in den Schlaf. Der Herbst in seinen Heimatbergen war angenehmer gewesen. Kälter, gewiss, aber das war eine trockene Kälte gewesen, die sich irgendwie bedeutend angenehmer angefühlt hatte.

Vergangenheit. Daran durfte er einfach nicht denken. Steinfaust stürzte sich mit doppelter Verbissenheit auf sein Lernen. Bis zur Prüfung waren es nur noch drei Dutzend Tage. Selbst im Büro des Hauptmanns lernte er noch, wann immer er einen freien Augenblick hatte. So wie heute. Berechnungen standen an. Berechnungen über den Proviantbedarf eines Regiments während einer dreitägigen Übung. Der Wetzstein gab ein gleichmäßig singend-kratzendes Geräusch von sich, während der Hauptmann ihn an der Schneide seines Schwertes entlangzog. Der Regen trommelte stetig, fast beruhigend, auf das Dach. Keiner der beiden Männer redete.

Eine Frau trat in den Hof. Ihr Gewand leuchtete weiß durch den strömenden Regen. Eine Priesterin? Seit wann kamen Priesterinnen in die Kasernen?

Ochon sah von seinem Schwert hoch, legte den Wetzstein zur Seite und wischte die Klinge ab, bevor er sie in die Scheide zurücksteckte. „Sie ist früh dran!“

Die Frau kam näher. Nein, ihre Kleidung war nicht weiß. Das, was Steinfaust zunächst als Weiß gesehen hatte, war in Wirklichkeit ein sehr helles Grau, üppig mit Stickerei in dunkleren Grautönen verziert. Die Frau war eine Prostituierte.

„Hör auf, Sizea so anzugaffen“, knurrte Ochon unwirsch. „Die ist nichts für dich!“

Natürlich nicht. Ihr Gewand musste ein Vermögen gekostet haben. Die Frau war mit großer Wahrscheinlichkeit keine normale Prostituierte, sondern eine jener Kurtisanen, mit denen der Adel sich schmückte. Nicht einmal sein kompletter Jahreslohn hätte ausgereicht, dass Steinfaust sich auch nur eine Kerze lang an ihrer Gegenwart hätte erfreuen können.

Aber auch der Hauptmann verdiente nicht soviel. Was also tat diese Frau hier?

Der Hauptmann ging wortlos in seine Stube. Die Frau folgte ihm und schloss sorgfältig die Türe hinter sich. Die Türe war aus dickem, festem Tannenholz. Steinfaust wusste aus Erfahrung, dass man bei normaler Lautstärke draußen kein Wort verstehen konnte von dem, was drinnen geredet wurde. Er wartete trotzdem nahe der Tür.

Es dauerte fast eine ganze Kerze, bis die Frau wieder herauskam. Sie musterte ihn von oben bis unten. „Neugierig, hm?“ Dann ging sie mit einem leisen, melodischen Lachen davon.

Sie war nicht die einzige. Jetzt, wo Steinfaust verstärkt darauf achtete, fiel ihm auf, wie viele unterschiedliche Leute den Hauptmann tatsächlich aufsuchten. Er hatte es bloß bislang nicht bemerkt, denn nur wenige kamen am Tag, die meisten erschienen abends oder sogar in der Nacht. Mindestens jeden zweiten Tag kam jemand. Das waren also die Gegenbesuche, die er vermisst hatte. Manchmal ging anschließend der Hauptmann in das Schlossgebäude, stets alleine. Die Neugier brachte Steinfaust fast um den Verstand, aber er verkniff sich jede Frage. Zum einen bezweifelte er stark, dass er eine Antwort gekriegt hätte. Zum anderen standen seine Prüfungen jetzt unmittelbar bevor, und dieses Thema hatte absolut nichts damit zu tun. Er musste sich auf das konzentrieren, was für ihn im Moment am wichtigsten war: die Aufnahmeprüfung.

Irgendwie schaffte er es, die seltsamen Besuche zu ignorieren.

Dann kam der Tag, an dem er zusammen mit acht anderen Bewerbern zur Prüfung antreten musste. Fünf Offiziere bildeten die Prüfungskommission, zusammen mit drei Zivilisten, die ihren Wappenröcken nach zum Hochadel gehörten. Steinfaust wurde ganz anders zumute. Er hatte nicht gedacht, dass diese Prüfungen so wichtig waren. Jeder der Prüflinge wurde einzeln hineingerufen und einem gnadenlosen Interview unterzogen. Etliches wusste Steinfaust, aber es gab auch Fragen, bei denen er nicht einmal den Sinn verstand.

Am Schluss wurden alle Prüflinge gleichzeitig hineingebeten.

Obrist Tarere, ein weißhaariger, hochgewachsener Mann mit dunkelgrünen Augen, erhob sich und räusperte sich.

„Keiner von euch hat überragende Leistungen gezeigt. Allerdings war auch keiner wirklich schlecht. Ich wäre geneigt, euch alle für die Offiziersausbildung zuzulassen. Allerdings müssten wir da noch eine Kleinigkeit klären.”

Der Mann neben Steinfaust trat unruhig vom rechten Fuß auf den linken. Zwei Köpfe weiter räusperte sich einer.

„Ich werde euch jetzt eine Situation schildern, die es in ähnlicher Form vor einigen Jahrzehnten real gegeben hat. Eine Situation, die eine Entscheidung erfordert. Jeder einzelne von euch wird diese Entscheidung fällen müssen und, was noch wichtiger ist, er wird sie uns begründen müssen.”

Tarere kam um den Tisch herum und stellte sich vor die Anwärter.

„Stellt euch vor, ihr seid auf einem Außenposten. Neunzehn Männer, drei Frauen, ein Kind. Es ist Winter, der Schnee reicht bis fast zum Bauch eurer Pferde. Ihr werdet von Nordmännern belagert. Eure Lebensmittel reichen nur noch für wenige Tage. Die Brandpfeile der Nordmänner haben bereits drei Häuser innerhalb der Palisaden abgefackelt, darunter die Proviantscheune und das Brennholzlager. Ihr habt Raben ausgeschickt und um Entsatz gebeten, aber selbst wenn die Raben ihr Ziel erreichten, könnte die Verstärkung frühestens in einem Dutzend Tagen kommen. Das fehlende Brennholz wird jetzt auch zu einem Problem, denn ein Sturm kündigt sich an. Der Anführer der Nordmänner macht euch ein Angebot. Ihr dürft euch ergeben. Er will den Kopf des Anführers, also euren, und zudem den Kopf jedes zweiten Mannes. Der Rest kann abziehen. Wie entscheidet ihr euch?”

Der Mann neben Steinfaust trat vor und salutierte. „Anwärter Propost!”

Tarere nickte aufmunternd. „Deine Entscheidung?”

„Ergeben ist ausgeschlossen. So unehrenhaft wird kein Narkassianer jemals handeln. Allerdings schätze ich unsere Aussichten in der geschilderten Situation als ausweglos ein. Die Nordmänner sind dafür bekannt, dass sie keine Gnade kennen. Daher würde ich die Frauen und das Kind töten und anschließend bis zum letzten Mann kämpfen.”

„Im Sturm?”

„Ob wir im Kampf sterben oder im Sturm erfrieren, wo ist der Unterschied? So oder so, wir würden ehrenvoll untergehen.”

Der Mann links außen trat vor und salutierte. „Anwärter Gondok!”

„Deine Entscheidung?”

„Ich würde solange wie möglich ausharren. Im Sturm werden die Nordmänner vermutlich genauso wenig kämpfen wie wir.”

„Und der fehlende Proviant und das Brennholz?”

„Der Schnee liegt ohnehin zu hoch für die Ponys. Ich würde sie schlachten lassen. Damit hätten wir erst einmal genug zu essen. Alle Mann ins Zentralgebäude, und wir könnten die restlichen Außengebäude als Brennholz nutzen. Außerdem ließe sich, falls die Palisaden fallen, ein einziges Gebäude besser verteidigen als mehrere.”

Zwei weitere Anwärter schlossen sich Propost an, die anderen Gondok. Bei ihren Begründungen variierte höchstens die Zeit, die sie noch abwarten wollten.

Tarere fasste Steinfaust ins Auge. „Hast du keine Meinung?”

Jetzt salutierte auch Steinfaust. „Anwärter Steinfaust. Kommandant, doch, ich habe eine Meinung.”

„Deine Entscheidung? Anwärter Gondaks Lösung oder Anwärter Proposts?”

„Weder, noch. Proposts Lösung ist schlicht dumm. Sie müssten nicht alle sterben. Die Nordmänner mögen keine Gnade kennen, aber das gilt nur für Männer. Steht in dem Band `Die Nordmänner und der Krieg um den Goldbach´, der, soweit ich weiß, als Pflichtlektüre für alle Offiziersanwärter gilt. Frauen und Kinder würden sie am Leben lassen, vermutlich gegen Lösegeld wieder freigeben. Ein Kampf wäre zudem genau das, was die Nordmänner wollen. Und als Draufgabe bekämen sie das restliche Fort mit allem Inhalt praktisch unversehrt. Wenn Proposts Lösung überhaupt funktionieren soll, müsste er die Frauen und das Kind mit einigen Ponys zu den Nordmännern schicken, damit sie schon mal in Sicherheit sind. Dann könnte er kämpfen, aber vorher sollte er noch das Fort komplett abbrennen, damit die Nordmänner wenigstens keine weitere Beute finden. Vermutlich töten sie ihn und seine Männer trotzdem, aber der Raubzug wäre für sie nicht zufriedenstellend, und sie würden vermutlich so schnell keinen neuen planen.

Und Gondaks Lösung ist unüberlegt. Der Schnee geht bereits bis zu den Bäuchen der Ponys. Wenn jetzt noch ein Sturm dazukommt, liegt der Schnee in weniger als drei Kerzen so hoch wie die Palisade, mindestens auf einer Seite des Forts. Die Nordmänner könnten also beinahe gemütlich hereinspazieren. Sich mit Fleisch und Feuerholz im Zentralgebäude zu verschanzen bringt auch nichts. Der gleiche Schnee, der die Nordmänner über die Palisaden bringt, bringt sie auch auf das Dach. Entweder sie zünden es an und räuchern uns aus, oder sie schlagen ein Loch in die Holzschindeln und erschießen von oben jeden, der sich noch rührt. Spätestens mit dem Ende des Sturms und auf jeden Fall lange vor dem Eintreffen der Verstärkung wären alle tot.”

Tareres Miene war steinern. „Hättest du eine bessere Lösung, Anwärter Steinfaust?”

„Ich würde um Verhandlungen bitten, von Anführer zu Anführer. Das ist ehrenhaft genug, dass sie vermutlich darauf eingehen würden. Dann würde ich dem Anführer der Nordleute das Angebot machen, dass er den kommenden Sturm sicher und gemütlich bei einem Ponybraten zusammen mit uns im Fort verbringen kann. Und dort würde ich ihm, da der Sturm vorerst weitere Kämpfe unmöglich macht, vorschlagen, das Ganze mit einem Spiel zu entscheiden. Am besten Dreizehn Wölfe, das Spiel kennen sowohl die Nordleute als auch wir. Sie spielen gerne. Ich bin sicher, er würde annehmen.”

„Und wenn er das Spiel gewinnt?”

„Würde er nicht. Er hat mit Sicherheit auf einem Raubzug keine Karten dabei. Also müssten wir meine nehmen. Und ich habe gezinkte Karten.”

„Du würdest mogeln?”

„Wenn ich damit eine Schlacht gewinne, warum nicht?”

„Das wäre aber nicht ehrenhaft.”

„Was nützt uns die Ehre, wenn wir alle tot sind? Was nützt dem Shorok die Ehre, wenn er ein Fort verliert? Was nützt dem Kind die Ehre, wenn es sein Leben nicht einmal richtig beginnen darf?”

Tarere regte immer noch keinen Muskel. „Wir werden beraten. Wegtreten, Anwärter!”

Wenn Blicke hätten töten können, wäre Steinfaust vermutlich schon beim Verlassen des Raumes tot umgefallen. Sowohl Propost als auch Gondak und ihrer beiden Anhänger rückten so rasch von ihm weg, als ob er die Krätze hatte. Keiner sprach mit ihm, dafür tuschelten sie untereinander. Steinfaust war sich darüber im Klaren, dass er heute keine Freunde gewonnen hatte. Hoffentlich ließen ihn die Prüfer zur Offiziersschule zu. Hoffentlich! Wenn nicht ... Dann hatte er nicht nur keine Kameraden mehr, zu denen er zurückkehren konnte, sondern auch noch Feinde im Offizierskader, die nur zu bald seine Vorgesetzten sein mochten.

Aber hätte es etwas gebracht, auf Sicherheit zu setzen und sich einer der beiden Parteien anzuschließen?

Steine.

Die zu Hause hatten auch auf Sicherheit gesetzt. Was hatte es ihnen eingebracht? Steine. Sie waren nur noch Steine. Was nützte ihnen da noch die Sicherheit?

Die Prüfungskommission beriet lange. Ungewöhnlich lange, wie Steinfaust den irritierten Blicken der anderen Anwärter entnahm.

Endlich wurden sie hereingerufen. Und wieder war es Tarere, der das Wort ergriff.

„Nicht alle von euch konnten uns überzeugen.”

Steinfaust spürte, wie ihm das Herz bis hinauf in den Hals klopfte. Göttin, bitte, lass ihn nicht mich meinen!

„Proposts Lösung ist tatsächlich dumm. Zudem spricht alles dafür, dass sowohl er als auch die beiden Anwärter, die sich seiner Meinung angeschlossen haben, die gebotene Pflichtlektüre vor der Prüfung nicht sorgsam genug gelesen haben. Allerdings war Propost mutig genug, als erster eine Lösung anzubieten. Für Mut ist immer Platz in der Armee Narkassias. Propost ist daher zugelassen. Seine beiden Mitläufer nicht.”

Steinfaust sah die beiden Anwärter sichtlich zusammensacken. Sie bewahrten aber genug Haltung, um zu salutieren und den Raum umgehend schweigend zu verlassen.

„Gondaks Lösung ist überlegt und ehrenvoll, wenn auch nicht vollständig durchdacht. Seine Gruppe ist komplett zugelassen.”

Die Männer um Gondak wurden sichtlich zwei Finger größer. Einer, ein etwas untersetzter Mann mit breiten Schultern, erlaubte sich sogar ein winziges Grinsen.

„Und nun zu dir, Steinfaust. Du wirst nicht mit den anderen die Offiziersschule besuchen.”

Steinfaust spürte, wie ein Eisring sein Herz umschloss. Versagt!, war alles, was er denken konnte. Er hatte die Kommission nicht überzeugen können. Alle seine Pläne waren zunichte geworden.

„Für dich haben wir etwas anderes beschlossen. Du wirst meinem persönlichen Kader zugeteilt. Falls Hauptmann Ochon einverstanden ist, heißt das.”

Steinfaust starrte ihn verständnislos an. Wieso sollte er zum persönlichen Kader des Obristen, wenn er die Prüfung nicht bestanden hatte? Und warum musste Hauptmann Ochon zustimmen? War nicht Obrist der höhere Rang?

„Du kommst am besten gleich mit. Ich rede später mit Hauptmann Ochon.”

Und schon steuerte Tarere zur Tür hinaus. Steinfaust folgte ihm, noch immer völlig verwirrt.

Tarere ging direkt mit ihm in die Kaserne der höheren Dienstgrade. Dort bekam Steinfaust ein eigenes Zimmer angewiesen, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Räumen Tareres.

„Deine Sachen werden gebracht.”

Tarere war wieder zur Tür hinaus, bevor Steinfaust sich seine Frage auch nur überlegt hatte. Steinfaust blieb mitten im Zimmer stehen und sah sich um.

Ein kleines Fenster. Direkt darunter ein Tisch und ein Stuhl, daneben ein kleines, leeres Regal. Eine Pritsche von der gleichen Art wie in seinem bisherigen Schlafraum, nur dass er den mit fünf Kameraden hatte teilen müssen. Auch der Spind sah nicht anders aus.

Aber die Tür, die immer noch offen stand, hatte einen Riegel von der Innenseite. Und auf dem Tisch stand eine Öllampe.

Steinfaust setzte sich und wartete.

Zwei Soldaten, die er nicht kannte, erfahrene, ältere Veteranen, brachten seine Sachen und warfen sie kommentarlos auf die Pritsche. Da er eh nichts anderes zu tun hatte, stand Steinfaust auf und machte sich ans Einräumen. Er war gerade damit fertig, als Tarere wieder auftauchte. „Zu mir!”, befahl er knapp und drehte sich bereits wieder um. Steinfaust trabte hinterher.

Die höheren Ränge wohnten um einiges komfortabler. Tareres Raum hatte zusätzlich zu einem großen Tisch mit mehreren Stühlen noch einen Schreibtisch. Eine Wand des Zimmers nahm ein fast überquellendes Bücherbord ein, und auf dem Fußboden lag sogar ein dünner Webteppich.

„Du wirst ab sofort die Morgenschicht bei mir haben. Das bedeutet, vom Weckruf bis zum Mittagsfeuer wirst du wie ein Schatten an meiner Seite kleben und mich nur verlassen, wenn ich einen entsprechenden Auftrag für dich habe. Nach dem Mittagsfeuer kannst du den Stoff der Offiziersschule lernen, aber in deinem eigenen Zimmer. Ich werde dafür sorgen, dass du alle notwendigen Bücher bekommst. Jeden fünften Nachmittag und Abend hast du frei und kannst machen, was du willst. Und wenn du dich in der Stadt besäufst oder zu den Huren gehst.”

Steinfaust öffnete den Mund – und schloss ihn wieder.

„Du darfst fragen.”

„Dann bin ich nicht durchgefallen?”

„Wie kommst du darauf, dass du durchgefallen sein könntest?”

„Weil die anderen die Schule besuchen dürfen und ich nicht.”

„Du brauchst die Schule nicht. Ich habe mit Ochon gesprochen und er ist der gleichen Meinung wie ich. Die Bücher kannst du alleine bewältigen. Und den Rest kannst du dir direkt bei mir in der Praxis aneignen.”

Steinfaust spürte, dass seine Wangen glühten. „Warum ich? Warum nicht einer der anderen?”

„Weil du als Einziger eine Lösung gefunden hast, die nicht in einem totalen Fiasko endet. Weil du versucht hättest, möglichst viele von deinen Männern am Leben zu halten. Weil du denken kannst. Selbstständig denken. Das ist genau die Eigenschaft, die ein Anführer braucht. Und weil du Ehrgeiz hast. Ochon sagt, du willst General werden.”

Steinfaust fühlte das Glühen jetzt bis in die Spitze seiner Ohren. „Ja.”

„Nun”, in Tareres Gesicht blitzte ein kurzes Lächeln auf, „dann brauchst du eine bessere Ausbildung als die anderen. Die werden Offiziere, ja, aber ihre Laufbahn wird bei den mittleren Dienstgraden enden. Deine dagegen … wenn du hältst, was deine bisherigen Leistungen versprechen, dann hättest du vielleicht tatsächlich eine winzige Chance, es bis an die Spitze zu schaffen.”

„Aber ich bin ein Sklave gewesen und nicht einmal in Narkassia geboren.”

„Wen kümmert das? Was glaubst du, wie viele ehemalige Sklaven wir in unseren Reihen haben? In der Armee zählen nur Fähigkeiten und Loyalität. Alles andere kannst du hier vergessen. Zumindest in den unteren Rängen. Fähigkeiten hast du. Hast du auch Loyalität?”

Steinfaust ballte unwillkürlich seine Hände. „Es gibt niemand anderen, zu dem ich sonst loyal sein könnte!”

„Nun dann … Zunächst einmal fangen wir damit an, dass du mir die Stiefel ausziehst und sie putzt.” Tarere lehnte sich zufrieden auf dem Stuhl zurück und hob ein Bein.

Steinfaust

Подняться наверх