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Im Nordland Sechzig Jahre früher (Sommer 1023)

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Hätten ihn nicht zu Anfang noch einige der Ziegen begleitet, er wäre verhungert. So hatte er Milch, und er gab auch dem Hund davon ab.

Aber vor fünf Tagen waren die Ziegen verschwunden. Wahrscheinlich wollten sie zurück zu ihrer Herde. Und der Hund lag jetzt tot zu seinen Füßen, einen Pfeil zwischen den knochigen Rippen in seinem abgemagerten Leib.

Einen Pfeil wie der, den der fremde Krieger gerade auf seinen Bogen gelegt hatte.

Er rührte sich nicht. Mochte der Fremde ihn töten. Das war ihm auch schon egal.

Wenigstens würde ihn hier niemand zu Stein verwandeln.

„Was willst du hier? Wo sind deine Leute?“

Die Frage des fremden Kriegers klang holprig, als wäre ihm die Sprache von Meelas nicht vertraut.

„Meine Leute sind tot.“

„Warum bist du dann in unsere Richtung geflohen und nicht dorthin, wo mehr von euch leben?“

„Da ist es nicht sicher.“

„Nicht sicher?“ Der Krieger ließ verblüfft den Bogen sinken. „Mitten zwischen denen von deinem Volk?“

„Es sind Fremde gekommen.“ Der Junge konnte nicht verhindern, dass Bitterkeit in seine Stimme kroch. „Fremde, die uns Schutz versprachen. Aber dieser Schutz vernichtet uns. Mein Dorf … meine Eltern … Es hat nur eine einzige Nacht gedauert.“

Der Krieger steckte den Pfeil wieder in den Köcher. Der Junge musterte ihn misstrauisch. „Willst du mich nicht töten?“

„Wozu? Ein Junge alleine ist keine Gefahr.“

„Aber … du hast doch auch meinen Hund getötet!“

„Dein Hund wollte mein Fleisch rauben.“

„Er hatte nur Hunger.“

„Er hat mich angegriffen, als ich ihn davon abhalten wollte. Jeder, der mich angreift, stirbt. Interessiert mich nicht, warum.“

Einen Moment spielte der Junge mit dem Gedanken, es seinem Hund gleichzutun. Ein Pfeil, ein kurzer Schmerz, und alles wäre vorüber. Aber wenn der Krieger seinen Körper dann hier einfach liegen ließ, dann musste sein Geist für alle Zeiten im Wind umherirren. Und der Wind … der Wind würde ihn vielleicht zurückwehen nach Meelas. Dorthin, wo die Steine warteten.

Nein.

Das auf keinen Fall.

„Und jetzt?“, fragte er zögernd.

„Du kannst mit mir kommen. Für kurze Zeit. Mein Winterhaus ist voll genug, ich brauche keine fremden Jungen an meinem Winterfeuer, aber noch ist Sommer, da kannst du mein Gast sein, vorerst. Wenn die Händler kommen, wirst du mit ihnen weiterziehen.“

Der Junge überlegte erneut. Aber er wusste, er hatte keine andere Option. Entweder das oder der Tod. Durch den Pfeil oder durch Verhungern. In mehreren Tagesmärschen Umkreis gab es keine Siedlung. Niemand siedelte freiwillig in den Grenzbergen.

„Ich komme mit dir.“

Der Krieger nickte. Er griff nach dem Beutel, der neben ihm am Boden lag, den, auf den der Hund zugestürzt war, als er den Geruch in die Nase kriegte, öffnete ihn, holte einen verdrehten, dunkelbraunen, zwei Hände langen Streifen heraus und warf ihn dem Jungen zu. „Ich nehme nicht an, dass du deinen eigenen Hund essen willst.“

Der Junge antwortete nicht. Es war ja nicht sein Hund.

Er kaute das zähe Fleisch, langsam und systematisch, während er zusah, wie der Krieger dem Hund das Fell abzog, ihn ausweidete und dann die brauchbaren Fleischteile aus dem Kadaver löste und in das Fell einschlug.

„Das räuchern wir heute Abend über dem Feuer.“ Der Krieger streifte seine Hände am Gras ab und erhob sich. „Komm, Junge.“

Der Junge trottete hinter dem Mann her.

Der Mann sah kurz zurück. „Du wirst unsere Sprache lernen müssen. Unter den Sippen, die weiter weg leben, kennt kaum einer die Sprache von Meelas. Wie heißt du überhaupt?“

Der Junge dachte an seine Eltern, die zu Stein geworden waren.

„Steinkind.“

„Dreckiger kleiner Zwerg!“

Wokas Sohn Kara trat nach Steinkind. Der krabbelte hastig außer Reichweite und richtete sich wieder auf, die Fäuste geballt. Feindselig funkelte er Kara an.

Der Nordländer hatte die Hand auf dem Dolchgriff. „Dich konnte man echt besser ertragen, als du unsere Sprache noch nicht kanntest. Wärst du nicht Gast im Hause meines Vaters, würde ich dich jetzt in Stücke schneiden, du Stück Bergmist!“

Steinkind hob die Faust. „Vielleicht versuchst du es lieber noch einmal mit einem ehrlichen Wettstreit?“

„Mit dir? Was ist ehrlich daran, sich mit einer Laus zu messen? Ich verpasse dir lieber eine zweite Tracht Prügel.“

So eine wie die, der Steinkind gerade seine gebrochene, blutende Nase zu verdanken hatte. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, blieb aber trotzig stehen. „Versuchs doch!“

Kara wollte gerade wieder auf ihn losgehen, als seine Mutter ihn am Arm packte.

„Hör auf damit, du Dummkopf. In diesem Kampf liegt keine Ehre!“

„Aber er hat mich beleidigt!“

„Na und? Er ist ein Kind, kaum halb so alt und halb so groß wie du. Du dagegen wirst im nächsten Sommer bereits ein Mann sein. Was kümmern dich die Worte eines Kindes?“

„Ein Kind?“ Kara sah erst verblüfft, dann betroffen von seiner Mutter zu Steinkind. „Er benimmt sich nicht wie eines. Er redet nicht wie eines. Ich hielt ihn für viel älter. Nur eben … klein.“

„Kinder, die ihre Eltern verlieren, müssen schnell erwachsen sein.“ Karas Mutter klang, als ob sie aus Erfahrung sprach. Brüsk drehte sie sich um und ging wieder zu ihrem Webstuhl.

Kara musterte den ungebetenen Gast am Feuer seines Vaters. „Bist du wirklich … Ich meine, wie alt bist du?“

Steinkind sah keinen Grund, Tatsachen zu verschweigen. „Sieben Winter.“

„Sieben!“ Einen Moment schien Kara mit sich selbst zu ringen. Dann trat ein breites Grinsen auf seine Züge. „Für jemand, der erst sieben ist, hast du schon einen verdammt guten Schlag am Leib.“ Er streckte seine Hand aus. „Frieden?“

Steinkind dachte daran, dass er noch einen ganzen Herbst hier verbringen würde. „Frieden.“ Er schlug in Karas Hand ein.

Danach war es tatsächlich um vieles leichter. Natürlich blieb ihm immer bewusst, dass es nur ein Heim auf Zeit war, dass Wokas Volk nie sein Volk werden konnte. Aber jetzt hatte er jemanden an seiner Seite, der ihn vielleicht nicht sonderlich mochte, ihn aber dennoch wie ein älterer Bruder unter seine Fittiche nahm, beschützte und ihn Dinge lehrte.

Wie das Bogenschießen. Und was ein Krieger sonst brauchen mochte. Steinkind lernte, so schnell er konnte. Wahrscheinlich würde er dieses Wissen brauchen. Und er war sich keineswegs sicher, ob er bei den Händlern Ähnliches lernen würde.

„Morgen ziehen wir ins Winterlager.“

Steinkind sah verwundert, wie fröhlich die Sippe Wokas Ankündigung aufnahm. „Was ist so besonders an dem Winterlager?“, fragte er vorsichtig.

Kara grinste und wuschelte ihm in einem Anflug von Gutmütigkeit die Haare. „Da kommen die Händler. Sie sind lustig. Der große Hagere, der sie anführt, kann gut erzählen und weiß immer eine Menge Neuigkeiten. Und außerdem, sie haben schöne Sachen.“ Ein verträumter Ausdruck trat in seine Augen. „Vielleicht hat er ja dieses Mal wieder Flöten dabei. Seine klingen immer besonders weich.“

Steinkind starrte Kara verdutzt an. Flöten? Kara, der größte Raufbold der ganzen Sippe, wollte eine Flöte?

„Was … machst du mit einer Flöte?“

„Na was schon! Lieder flöten, natürlich. Im Winterlager sind noch andere Sippen. Enko lagert mit uns, und Enko hat eine wunderschöne Tochter. Birga heißt sie. Sie ist schlank und geschmeidig wie eine Weide und ihre Zöpfe schimmern wie Rabenfedern. Du müsstest sie sehen, wenn sie tanzt! Dieses Jahr bin ich alt genug, dass ich um sie werben darf. Wenn ihr mein Lied gefällt, wird sie es singen, dann weiß ich, dass sie zusagt.“

Kara ging also auf Freiersfüßen! Das erklärte einiges. Wenn auch nicht alles. „Du bist doch erst dreizehn Winter alt. Darfst du trotzdem schon heiraten?“

„Ja. Beinahe.“ Karas Enthusiasmus verflog so schnell, wie er gekommen war. Jetzt sah er sehr ernst aus. „Zuerst muss ich mich als Mann beweisen.“

„Womit?“

„Entweder ich erlege einen Bären oder einen Vielfraß.“

„Das muss jeder von euch tun, bevor er ein Mann ist?“

„Entweder das, oder man muss im Kampf große Tapferkeit gezeigt oder einen Gegner getötet haben. Aber zur Zeit ist keine Blutfehde und der Ard hat verboten, dass wir Raubzüge nach Narkassia oder Karapak machen. Hat etwas mit seinem Schamanen zu tun, glaube ich. Der soll gesagt haben, der Ard würde noch froh sein um jeden überlebenden Krieger, den er hat, und das in nicht allzu ferner Zeit.“

Das klang übel. Steinkind dachte an die Berge. An die Steine. In diesem Moment wusste er, dass auf keinen Fall bei Wokas Volk bleiben wollte.

Das Winterlager war laut und eng. Statt der bunten Zelte wohnten Wokas Leute nun in festen, langen Steinhäusern, die halb in der Erde vergraben schienen und auf deren mit Erdsoden gedeckten Dächern Gras wuchs. Alle Familien einer Sippe drängten sich im gleichen Haus zusammen, und mit ihnen die Hunde und die Ponys. Dazu kam die ständig verräucherte Luft, denn diese Häuser hatten keinen Kamin. Steinkind war froh, dass es noch warm genug war, um draußen zu schlafen.

Und er war noch froher, als die Händler noch vor dem ersten Frost eintrafen.

Die Händler sahen merkwürdig aus. Das lag nicht nur an ihren kurzgeschnittenen Haaren oder den zu zwei Zöpfen geflochtenen Bärten, deren Länge und Verzierungen anscheinend mit ihrem Rang zu tun hatte. Steinkind brauchte eine Weile, bis er kapierte, was ihn störte. Es waren die Farben. Alles, was die Händler trugen, war entweder orange oder braun gemischt mit orange. Und diejenigen in ihrer Gruppe, die von sich behauptete, keine Händler zu sein, trugen nur braun.

Kara bekam seine Flöte. Sie war aus einem merkwürdigen, fast roten Holz geschnitzt, das irgendwie aromatisch roch. Kara bezahlte mit drei Fuchsfellen dafür. Sowohl der Händler als auch Kara wirkten mit dem Geschäft ausgesprochen zufrieden. Steinkind war neugierig, wie die Flöte klingen würde.

„Hey, Junge, komm her!“ Wokas winkte ungeduldig. „Nun mach schon!“

Steinkind ging verwundert zu ihm. Der große Nordmann packte ihn an den Schultern, drehte ihn mit dem Gesicht zu dem Anführer der Händler, dessen zwei Bartzöpfe steif abstanden vor lauter eingeflochtenen Bändern und Holzperlen, und schob ihn einen Schritt nach vorne. „Das ist er. Klein, nicht besonders stark, aber er kann gut mit Ponys und Hunden umgehen und er lernt schnell eine neue Sprache.“

Der Händler starrte auf Steinkind herab und runzelte die Stirn. „Der ist wirklich noch sehr klein.“

„Aber zäh. Immerhin ist er alleine von Meelas über die Berge zu uns gekommen.“

„Hm.“ Der Händler hockte sich hin. Jetzt war sein Gesicht auf Augenhöhe. „Mach mal den Mund auf, Junge.“

Steinkind gehorchte verdutzt.

„Scheint gesund zu sein“, murmelte der Händler. „Heile Zähne, kein unschöner Atem.“ Er erhob sich wieder. „Was hat dein Vater gearbeitet, Junge?“

Steinkind dachte zurück an … nein, lieber nicht. „Wir hatten Ziegen“, gab er kurz angebunden zurück.

„Also ein Hirte.“

Sein Vater war ein Bauer gewesen, der nebenbei auch einige Ziegen gehalten hatte. Aber Steinkind schwieg. Diesen merkwürdigen Mann würde er ganz bestimmt nichts über seine Familie erzählen.

„Viel wert ist er nicht. Einen Beutel blaues Farbpulver.“

„Zwei Beutel!“

„Viel zu viel. Bis der richtig arbeiten kann, muss ich ihn noch mindestens drei Winter durchfüttern.“

„Dann einen Beutel blaues und ein Beutel rotes Pulver.“

„Ein Beutel blaues und ein kleiner Beutel rotes.“

„Einverstanden.“

Die Männer schüttelten sich über Steinkinds Kopf die Hände. Dann packte der braun gekleidete Gehilfe des Händlers ihn am Kragen und zog ihn weg, fort zum Lagerplatz der Händler. Steinkind begriff, dass er soeben verkauft worden war.

Der Gehilfe des Händlers kannte nur wenige Worte der Nordmannsprache. Es brauchte ein wenig Zeit, bis Steinkind begriff, dass er seine Tunika ausziehen sollte. Der Mann zog sein Messer und machte sich umgehen daran, alle bunten Bänder und Verzierungen abzutrennen. Die Tunika war ein abgelegtes Teil von Karas jüngstem Bruder gewesen. Sie mochte ja nicht besonders schön gewesen sein, aber ohne diese Verzierungen wirkte sie jetzt geradezu ärmlich. Die Prozedur dauerte, denn der Mann arbeitete gewissenhaft, ließ kein bisschen Farbe zurück. Steinkinds Zähne klapperten vor Kälte, als er sie endlich wieder anziehen konnte. „Warum?“, brachte er schließlich hervor.

„Du … wie ich“, erklärte der Mann, nahm dann die Hände zur Hilfe und deutete auf die Ponys. „Diese … du hilfst. Wie ich. Wir … nur dieses.“ Er deutete auf seine eigene Kleidung, die ziemlich nichtssagende graubraune Töne zeigte.

Steinkind begriff, dass er, ebenso wie dieser Mann, für die Ponys sorgen sollte und ganz offensichtlich keine bunten Farben dabei tragen durfte. Warum auch immer.

Es gab keinen Abschied von Wokas oder seiner Sippe. Die Händler brachen am nächsten Morgen in Richtung Westen auf, und Steinkind ging mit ihnen.

Steinfaust

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