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In der Armee Sommer 1029

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Die Angst ließ ihn den ganzen Weg im Laufschritt zurücklegen. Seine Lungen brannten, sein Herz klopfte ihm bis hoch hinauf in den Hals. Es war geradezu eine Erleichterung, als das vertraute Anwesen seines Herrn endlich vor ihm auftauchte.

Steinkind hatte die Schwelle zum Hof kaum überquert, als Warg ihn auch schon packte und zur Seite zog. Stolpernd folgte er dem alten Mann zu den Ställen. Dort stieß Warg ihn auf einen Strohballen pflanzte sich vor ihm auf und holte tief Luft. „Wenn dir dein Leben lieb ist, lass dich die nächste Zeit nicht im Haus blicken. Keiner hier würde dich absichtlich verraten. Aber wenn es jemandem versehentlich herausrutscht, dass du derjenige warst, der den Jungen weggebracht hat, bist du geliefert.”

Steinkind schluckte. „Der Herr … ist er sehr wütend?”

Der Herr war sehr wütend. Es war eine kalte, schwelende Wut. Er hatte die Herrin geschlagen, noch im Wochenbett, und die Hebamme, die der Wöchnerin beistehen wollte, mit Hunden aus dem Haus jagen lassen. Jetzt schlich er durch das Haus wie ein giftiger Schatten, dessen Hauch jedermann lähmte. Lediglich sein erstgeborener Sohn schaffte es noch, ihm gelegentlich ein Lächeln abzuringen, aber selbst das wirkte verkrampft. Steinkind traute sich nicht aus den Ställen heraus. Lieber aß er mit den Hunden, als auch nur einen Fuß in die Nähe seines Herrn zu setzen. Sie alle hörten überdeutlich das Grollen des Gewitters. Niemand fragte, ob der Blitz kommen würde. Er würde fallen. Die Frage war lediglich, wen er treffen würde.

Zwei Tage vor dem Vollmond ließ der Herr alle Bewohner des Hauses, Freie wie Sklaven, zusammenrufen. Selbst die kaum genesene Herrin hatte nicht gewagt, sich seinem Befehl zu widersetzen. Er stand neben der Strafsäule, die Arme verschränkt, das Gesicht steinern.

„Wer in meinem Haus lebt, gehört mir.” Die Stimme des Herrn war so hart wie seine Miene. „Ich entscheide, was hier mit euch geschieht. Ich alleine. Niemand sonst.” Er ging einige harte Schritte auf und ab. Dann sah er wieder in die Runde. „Einer von euch hat es gewagt, ein Leben in diesem Haus in seine eigenen Hände zu nehmen. Und nicht etwa irgendein Leben. Einer von euch hat meinen Sohn genommen und zu den Meerhexen gebracht. Und diese verwünschten Weiber weigern sich, ihn wieder herauszugeben, sodass diese Schande auf meinem Namen weiterleben wird.”

Es war so ruhig im Hof, dass selbst das Rascheln eines fallenden Blattes laut gewesen wäre.

„Wer von euch war das?”

Niemand regte sich. Steinkind wagte kaum zu atmen.

„Ihr habt die Wahl. Entweder ihr sagt, wer es war, oder jeder von euch macht heute Bekanntschaft mit der Peitsche. Zehn Hiebe für die Frauen, zwanzig Hiebe für die Männer, denn einer von denen muss es gewesen sein, wie man mir zugetragen hat.”

Steinkind erzitterte, wie die anderen auch. Diese Strafe war hart. Zu hart. Die anderen konnten unmöglich schweigen. Er spürte, wie die ersten Blicke zu ihm wanderten. Der eisige Blick seines Herrn fixierte ihn. Er war verloren. Es gab nur noch eines, das er tun konnte: es zugeben und seine Strafe in Empfang nehmen wie ein Mann von Ehre. Gerade hob er den Fuß, um vorzutreten, als eine Hand sich auf seine Schulter legte. „Lass gut sein, Junge.”

Warg!

Der alte Mann schob sich vor Steinkind, hob stolz den Kopf und erwiderte den Blick seines Herrn. „Es war ein Kind”, sagte er laut. „Ein hilfloser Säugling. Ich habe ihn weggebracht, damit nicht noch ein Kind durch deine Hand sterben muss.”

„Renitenter Bastard!” Der Herr spie diese Worte förmlich aus. „Auf den Bauch mit dir! Friss den Staub zu meinen Füßen!”

Warg lächelte. Das Lächeln lag auch in seiner Stimme, untermischt mit leisem Spott. „Ich krieche vor niemandem. Vergiss nicht, ich wurde frei geboren wie du! Was immer du mit mir machst, das kannst du mir nicht nehmen!” Er schien noch zwei Fingerbreit in die Höhe zu wachsen bei seinen letzten Worten.

„An die Strafsäule mit ihm!”

Die beiden bulligen Sklaven, die mit den Seilen in der Hand hinter dem Herrn warteten, sprinteten sofort los, packten Warg, zerrten ihn zur Strafsäule und banden ihn fest. Der Aufseher hob die Peitsche. Eine Peitsche, die Steinkind noch nie zuvor gesehen hatte. Statt der einen Schnur hatte sie fünf Enden. Irgendetwas war in diese Enden hineingeknotet. Die Haussklavin neben ihm gab einen wimmernden Laut von sich. Der Mann neben ihr machte ein grimmiges Gesicht. „Er ist tot.”

Steinkind öffnete den Mund, wollte protestieren. Es war ja nicht Warg gewesen, der das Kind weggebracht hatte. „Halt bloß die Klappe!”, zischte der Mann, „sonst sterbt ihr beide, und Wargs Opfer war umsonst!”

Steinkind schloss den Mund wieder. Hörte wie aus weiter Ferne den Herrn wieder befehlen.

„Peitsch ihn, bis das Leben aus ihm gewichen ist. Dann sollen alle an ihm vorbeigehen und sein Gesicht ansehen. Ich will, dass jeder weiß, was ihn bei Ungehorsam erwartet. In diesem Haus gibt es nur einen Willen: meinen. Entweder ihr erfüllt ihn oder ihr sterbt. Wie dieses Stück Ungeziefer hier.”

„Er hat dich gemocht, weißt du. Irgendwie hast du ihn an seinen Sohn erinnert.“ Phe griff in die Kirschschüssel, hob eine weitere nicht ganz perfekte Kirsche heraus und schob sie in seinen Mund. Der Herr bekam nur das Beste vorgesetzt. Was mit dem Rest geschah, kümmerte ihn nicht. Und die Kirschen schmeckten süß und saftig, auch wenn der eine oder andere Wurm darin war. Phe kaute, schluckte, spitzte die Lippen. Mit einem leisen Ploppen flog der Kirschkern durch die Luft. „Mist. Schon wieder zu kurz.“ Er sah zu Steinkind hinüber. „Wie schaffst du das bloß, den Sandfleck immer zu treffen?“

Indem er ein Stück höher zielte, so, wie er das von seiner Schleuder von früher kannte. Aber das sagte Steinkind nicht. Sollte Phe ruhig rätseln.

Sein Blick wanderte von dem Sandfleck über den Hof und wurde von einem hoch aufragenden Objekt wie magisch angezogen, das von den Strahlen der Mittagssonne in fahles, schattenloses weißgrau getaucht wurde. Die helle Farbe hatte Flecken. Langgezogene, dunkle Flecken. Seit Wargs Tod hatte es noch nicht wieder geregnet, sein Blut klebte noch immer an der Strafsäule. Steinkind erinnerte sich an das Gesicht, dass als einziger Teil von Wargs Körper nicht von der Peitsche zerfetzt worden war. Schmerzverzerrt, der Mund in einem Schrei erstarrt. Aber er hatte etwas gesehen, das dem Herrn entgangen war. Trotz allem hatte Warg bei seinem letzten Atemzug gelächelt.

Würde er das auch können? Denn dessen war Steinkind sich sicher: Wenn er in diesem Haus und bei diesem Herrn blieb, würde er es nicht mehr sehr lange überleben. Seit seinem Hexensohn war der Herr nicht mehr derselbe. Früher hatte er nur gestraft, wenn es einen guten Grund dafür gab, und nicht mit Lob gespart. Jetzt war seine Miene düster, seine Laune gefährlich, Lob gab es nicht mehr und die kleinste Kleinigkeit zog harte Strafen hinterher.

Ploppp! Der nächste Kirschkern verfehlte sein Ziel.

„Phe“, fragte er zögernd. „Wie kann ich es anstellen, in ein anderes Haus zu kommen?“

„Überhaupt nicht.“

„Aber … du bist doch auch in einem anderen Haus aufgewachsen.“

„Ja, klar. Der Herr könnte dich verkaufen. Oder sogar verschenken. Aber warum sollte er das tun? Du hast schon zur niedrigsten Kaste gehört, bevor du ein Sklave wurdest. Viehhüter, Erdwühler. Von der Sorte gibt es reichlich, und immer wieder verkaufen einige sich selbst als Sklaven, wenn sie nichts mehr zu beißen haben oder die Steuern nicht mehr zahlen können. Solche wie du sind billig und als Geschenk nichts wert.“

„Dann muss ich etwas tun, was mich wertvoller macht.“

„Vergiss es. Damit würdest du andere in ihrer Position bedrohen. So idiotisch, dich direkt dafür zu bedrohen, würde keiner sein, aber es gibt andere Wege. Glaub mir, du willst nicht das halbe Haus gegen dich haben.“

„Aber was kann ich sonst tun, um hier rauszukommen? Seit über einem Jahr habe ich jetzt nur noch Ställe ausgemistet, Hundezwinger gereinigt und Fußböden geschrubbt. Diese Kirschen hier sind schon die höchste Abwechslung, die ich überhaupt gekriegt habe. Und nichts davon hat mir Gelegenheit geschafft, auch nur einen einzigen Kupferling zu verdienen. Wie soll ich mich da je freikaufen können?“

Phe musterte ihn spöttisch. „Träumst du immer noch davon? Ich kenne keinen einzigen Sklaven unterhalb der Position eines persönlichen Dieners, der sich je freikaufen konnte. Und in diesem Haus schon gar nicht. Der Herr hält ein Auge auf sein Eigentum.“

Steinkind ballte die Fäuste. „Willst du damit sagen, dass ich daran niemals etwas ändern kann? Dass ich immer ein Sklave bleiben werde, der die Ställe und Hunde versorgt, und sonst nichts?“

Phe spuckte den nächsten Kirschkern aus. „Na ja, du könntest immer noch in den Bergwerken landen. Dorthin verkaufen sie Sklaven, die Schwierigkeiten machen.“

Steinkind starrte ihn an. „Bergwerke?“

„Irgendwoher muss das Eisen für Werkzeuge und Waffen ja kommen. Und niemand arbeitet dort freiwillig, immer umgeben von Stein und Dunkelheit. Niemand.“

Steinkind zuckte zusammen. Steine … Nein. Resolut blockierte er den Gedanken.

„Und wenn ich fliehen würde?“

Phe verschluckte sich fast an seiner Kirsche. „Hast du sie noch alle? Weißt du, wie weit es zur Grenze ist? Und hast du mal überlegt, wozu unser Herr seine Hunde in so einem Fall nutzen könnte? Glaub mir, du würdest es nicht schaffen. Niemand hat das je geschafft.“

„Vielleicht sind die Hunde besser, als ein Leben lang ein Sklave zu sein und die Peitsche zu fürchten.“ Steinkind starrte auf die Säule. Das Blut war steinhart geronnen und schwarz. Nicht einmal die Fliegen versuchten sich noch daran.

„Du könntest immer noch zur Armee gehen. Du bist stark, jemanden wie dich würden sie nehmen.“

„Armee?“

„Es gibt nicht viele Möglichkeiten hier in Narkassia, um aus einer Kaste herauszukommen. Aber in der Armee kannst du das.“

„Du meinst, ich kann da einfach hingehen und Soldat werden? Und unser Herr hätte keine Einwände?“

„Hätte er bestimmt nicht. Wenn die dich nehmen, zahlt die Armee die doppelte Ablösesumme für deinen Freikauf. Und das ist ein Vielfaches von den paar Stoffbändern und Flöten, die der Herr für dich bezahlt hat.“

„Aber du wusstest das die ganze Zeit und gehst trotzdem nicht zur Armee“, sagte Steinkind langsam. „Wo also ist der Haken bei der Sache?“

„Wer zur Armee geht, verlässt sie nie wieder. Das heißt, natürlich kann man sie verlassen, irgendwann. Aber nicht vor dem sechzigsten Winter. Und den erlebt so gut wie kein Soldat.“

Schweigen.

Phe spuckte den nächsten Kirschkern aus. Er landete dicht vor dem Sandfleck, keine zwei Finger breit entfernt.

„Aber ich könnte dort lernen. Und mit dem arbeiten, was ich gelernt habe“, sagte Steinkind schließlich. „Und keiner würde mich dafür auspeitschen, dass ich mehr erreichen will.“

Phe senkte bejahend seine Hand.

„Dann gehe ich zur Armee.“

Es war geradezu lächerlich einfach. Phe hatte ihm gesagt, wo das Rekrutierungsbüro war. Nachdem er die Hunde versorgt hatte, marschierte Steinkind geradewegs durch das Tor hinaus. Der seit dem Kind dort stehende Wachposten hielt ihn nicht auf, als er sein Ziel hörte.

Das Rekrutierungsbüro lag im Nordosten der Stadt, eine halbe Kerze Weglänge entfernt, ein kleiner Anbau aus roh behauenen Stämmen, deren Ritzen mit Lehm abgedichtet waren, am Südende der großen Steinbaracke. Die Tür stand weit offen. Der Bretterboden knarrte leise, als er hineinging. Der graubärtige Soldat, der an einem einfachen, aus Holz gezimmerten Tisch saß und etwas schrieb, sah hoch, legte die Feder zur Seite und kratzte sich hinter dem Ohr. „Du siehst nicht aus, als ob du zu meinen Leuten gehörst, Junge.“

„Würde ich aber gerne.“ Steinkind blieb stehen, jetzt doch ein wenig unsicher. Was, wenn der Soldat ihn einfach zurückschickte? „Mein Freund Phe hat gesagt, bei der Armee kann sich jeder bewerben.“

„Ja, jeder Idiot und Tölpel“, knurrte der Graubart. „Aber wer sagt, dass wir so jemanden dann auch gebrauchen können? Du siehst nicht aus, als ob du Kampferfahrung hast.“

„Ich war einen Sommer lang bei den Nordmännern. Ich kann sehr gut mit einer Schleuder und einigermaßen gut mit Pfeil und Bogen umgehen.“ Steinkind musterte das Papier auf dem Tisch. „Und ich kann lesen. Ein wenig.“

Der Soldat drehte das Papier in Steinkinds Richtung. „Dann lies!“

„P… Pr… Pro…vi…vind? Nein“, verbesserte er sich hastig, als er das Wort endlich erkannte. „Proviant… liste.“

„Ein wenig ist noch ziemlich reichlich überschätzt“, knurrte der Graubart. „Ich kann nur hoffen, dass es mit deinen Zielkünsten besser aussieht. Komm!“

Er packte Steinkind am Arm und zerrte ihn aus seinem Büro heraus und um die Hausecke. Dahinter war ein kleiner Schießstand errichtet worden. Ein Bogen lag auf einem Strohballen, in dem mehrere Pfeile steckten. „Bedien dich!“

Steinkind zog einen der Pfeile aus dem Ballen, spannte den Bogen und legte an. Die Zielscheibe war nicht allzu weit entfernt. Aber der Bogen war größer und schwerer als der, den er bei den Nordmännern versucht hatte. Seine Armmuskeln zitterten, als er das Ziel anvisierte. Der Pfeil traf gerade noch den Rand der Strohscheibe. Steinkind runzelte die Stirn. Dann hob er einen Kieselstein vom Boden auf, nahm das Lederband aus seinen Haaren und begann, die improvisierte Schleuder zu schwingen. Wenn das jetzt ein Kaninchen wäre und er ohne diese Kaninchen kein Mittagessen haben würde …

Der Stein traf die Mitte der Scheibe.

„Besser als ich dachte.“ Der Graubart klang immer noch brummig, aber nicht mehr abweisend. „Vielleicht können wir ja tatsächlich einen Soldaten aus dir machen. Zurück ins Büro mit dir. Da ist noch einiges an Papierkram zu erledigen.“

Steinfaust

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