Читать книгу Steinfaust - Chris Svartbeck - Страница 6

Оглавление

Narkassia

Winter 1023

Fünf weitere Winterlager besuchten sie. Als der erste Schnee fiel, wandten sich die Händler nach Südwesten, die Ponys schwer bepackt mit Fellen.

Zwei Doppelhände an Tagen später erspähte Steinkind über den Baumwipfeln eines fernen Hügels ein kastenförmiges Gebilde. Das Gebilde entpuppte sich beim Näherkommen als kleines, von doppelt mannhohen Palisaden umgebenes Fort mit Aussichtsturm. Die Händler ritten ganz selbstverständlich auf dieses Fort zu.

„Die Grenze“, erklärte einer der Diener, der seinen fragenden Blick bemerkte. „Hier müssen wir dem Shorok unseren Zoll zahlen.“

Shorok, das bedeutete hoher Berg. Steinkind war perplex. „Wir müssen einem Berg etwas bezahlen?“

Der Mann schüttelte ungehalten den Kopf. „Der Hohe Berg ist ein Titel. So nennt man den Herrscher über ganz Narkassia.“

Ein Mann beherrschte also dieses Land. Steinkind wusste, was seine Mutter dazu gesagt hätte. „Die anderen Völker sind verrückt. Legen ihre Geschicke in die Hände der Männer. Da kann ja nichts Gutes bei herauskommen.“

Seine Mutter … Die Herrschaft der Frauen hatte Meelas nicht vor den Weißgesichtigen schützen können. Steinkind schluckte den Kloß herunter, der seinen Hals zu blockieren drohte, und kämpfte die Erinnerung an zu Hause nieder.

Die in dem Fort waren ausschließlich Männer. Soldaten, wie man ihm sagte. Männer, die sich durch zwei Dinge auszeichneten: Sie sahen alle gleich aus in ihrer schwarzen Kleidung und den kurz gestutzten Haaren und Bärten, und sie waren überaus gründlich und effizient. Jedes einzelne erhandelte Fell trugen sie in Listen ein, und auch Steinkind kam in diese Listen. Dann mussten die Händler bezahlen, mit kleinen ovalen Metallscheiben, die sie als Silberlinge bezeichneten.

Und keine zwei Kerzen später waren sie schon wieder unterwegs.

Narkassia war deutlich dichter besiedelt als das Land der Nordmänner. Und die Leute hier lebten in festen Häusern aus Holz und Stein, wie in Meelas. Die Häuser allerdings sahen anders aus. Dächer, die bereits in Schulterhöhe begannen und steil nach oben ragten, Balken, auf die merkwürdige Zeichen gepinselt worden waren. Sprüche, Gebete, wie man ihm erklärte. Aber kein einziges Haus war bunt bemalt oder hatte geschnitzte Verzierungen. Und die vorherrschende Kleidung war braun oder grün. In allen Schattierungen, aber eben nur das. Ganz selten, dass ein Mann oder eine Frau ein paar Farbtupfer in dunkelrot zeigte, noch seltener, dass es ein richtig kräftiges Rot war.

Erst in einer kleinen Stadt sah Steinkind andere Farben. Männer, die wie der Händler, der ihn gekauft hatte, orange Verzierungen auf ihrer braunen Kleidung trugen und offenbar ebenfalls Händler waren, einen rot gekleideten Schmied und einen Mann, der seinen Werkzeugen nach ein Zimmermann war, und dessen Kleidung intensiv rot und grün leuchtete.

Warg, der älteste der Sklavendiener, der ihn unterwegs in der Sprache Narkassias unterrichtet hatte, erklärte es ihm, als er ihm neue, dunkelgraue narkassianische Kleidung gab. Die Kleidung zeigte die Kaste. Jedermann wurde in eine Kaste hineingeboren und durfte sein Leben lang nur die Farben tragen, die seine Kaste ihm erlaubte. Dunkelgrau war die Farbe der niedrigsten Kaste, der Sklaven und der Strafgefangenen.

Steinkind spürte Wut in sich aufsteigen. „Heißt das, ich werde für immer ein Sklave sein und nichts als dieses trübe Grau tragen dürfen?“

„Unser Herr könnte dich freilassen. Oder du könntest dich freikaufen, wenn du genügend Silberlinge zusammenkriegst.“

„Du hast das nicht getan.“

Warg zuckte mit den Achseln. „Unser Herr hat noch nie jemanden freigelassen. Und für einen Freikauf braucht man zwölf Silberlinge. Ich habe erst acht. Sklaven werden selten für ihre Arbeit belohnt.“

Steinkind biss sich auf die Lippen. Verfluchte Götter! Hatten sie ihn nur vor den Weißgesichtigen gerettet, um ihn hier als Sklaven enden zu lassen? Einen Moment tat es ihm richtiggehend leid, dass Wokas damals nur den Hund erschossen hatte.

Sklaven hatten wenig Rechte, dafür aber umso mehr Pflichten.

Zu Hause, und später bei den Nordmännern ebenfalls, hatte es Spaß gemacht, die Herden zu hüten, die kleinen Kräutergärten zu jäten oder Wildfrüchte zu sammeln. Da hatten sich alle an der Arbeit beteiligt und dabei gelacht und gescherzt. In Narkassia schien es verpönt, zu lachen. Kinder taten es. Erwachsene nicht, und Sklaven erst recht nicht. Und Steinkind merkte sehr schnell, warum. Das erste Mal, als er seine zugewiesene Arbeit am Abend nicht geschafft hatte, bekam er einen scharfen Tadel zu hören und kein Essen. Beim zweiten Mal packte ihn der mürrische Kerl, der die Arbeiten für die Sklaven einteilte, band seine Hände mit einem langen Strick zusammen und schleppte ihn ganz hinten in den Hof zu einem großen, hohen, säulenartigen Stein mit einem Loch an der Spitze. Steinkind sah den Stein und erstarrte vor Angst. Der Mann zog den Strick durch das Loch, bis Steinkind fast daran hing, und band ihn irgendwo dahinter fest. Dann nahm er eine Peitsche und schlug zu.

„Du darfst nicht so laut schreien.“ Warg tupfte sanft mit dem nassen Tuch über Steinkinds Schultern. Der Junge spürte, wie ein Splitter der Holzbank sich schmerzlich in seinen Oberschenkel presste, aber er traute sich nicht, sich zu rühren. Jede Bewegung schmerzte höllisch. „Unser Herr mag kein lautes Gebrüll. Meist gibt er Befehl, denjenigen, die laut brüllen, ein paar extra Hiebe zu verpassen.“

„Aber…“ Steinkind konnte die Worte kaum aus seiner wunden Kehle pressen. „Warum? Was habe ich Verbotenes gemacht?“

„Nichts Verbotenes. Nur zu wenig. Du hattest den Auftrag, die Stallboxen auszumisten. Aber es waren immer noch vier dreckige Boxen da am Abend.“

„Ich konnte es aber doch nicht schneller! Die Boxen sind tief und der Mist ganz unten war so hart …“

„Kleiner Dummkopf!“ Wargs Stimme hörte sich halb mitleidig, halb belustigt an. „Was glaubst du denn, weshalb der Mist ganz unten so hart ist? Weil ihn nie jemand herausholt! Niemand schafft das, wenn er alle Boxen bis zum Abend fertig haben will. Mach oben sauber und streu frisches Stroh drüber. Dann sieht die Box ordentlich und frisch aus, das reicht.“

„Aber …“ Steinkind verstand nicht. „Wenn der Dreck nicht ganz rauskommt, dann fault das Stroh, und die Ponys kriegen wunde Hufe.“

„Was ist dir lieber – dass die Ponys wunde Hufe kriegen oder dass du einen wunden Rücken hast?“

Steinkind schloss die Augen. Sein Rücken schmerzte, sein Puls klopfte hart in seinen Ohren, seine Handgelenke waren wund, sein Magen leer. Und dann war da immer noch der Stein.

„Dachte ich mir“, brummte Warg und erhob sich.

Beim nächsten Mal waren alle Boxen rechtzeitig fertig.

Steinkind lernte schnell. Nach kaum einem Jahr sprach er wie ein Einheimischer. Die Ponys mochten ihn und er sie. Sie waren pflegeleichter als Hornziegen. Allerdings auch dummer. Aber das war nur gut, denn so rissen sie nicht aus, und er musste sie nicht suchen gehen.

Sein Herr war in diesem Jahr nicht zu den Nordmännern gegangen, sondern hatte eine Handelsfahrt nach Süden gemacht, zum Meer. Steinkind konnte sich nichts darunter vorstellen. Ein See, der so groß war, dass man die gegenüberliegenden Ufer nicht mehr sehen konnte? Unmöglich. Und noch dazu sollte das Wasser salzig sein und ungenießbar. Aber die älteren Sklaven beharrten darauf. „Warte, bis du groß genug bist, um auf einer der großen Fahrten nützlich zu sein. Dann wirst du auch das Meer sehen.“

Wozu? Welchen Vorteil brachte es, einen Haufen Wasser zu sehen?

„Es gibt Piraten dort. Räuber, die in Booten über das Wasser kommen. Sie überfallen besonders gerne Händler, weil sie da viel Beute finden.“

Und das sollte gut sein?

„Es heißt, sie nehmen jeden Sklaven, der sich ihnen anschließen will, als freien Mann in ihre Reihen auf.“

„Ja, wenn sie ihn nicht gleich umbringen. Wenn ihnen deine Nasenspitze nicht gefällt, war’s das.“

„Aber wenn … dann bist du frei!“

„Und wenn du dann je wieder narkassianischen Boden betrittst, bist du so gut wie tot“, knurrte Warg. „Was soll der Unfug? Frei sein wird überbewertet. Hier haben wir immerhin ein Dach über dem Kopf, ein warmes Feuer im Winter und genug zu essen.“

Als er den Stall verließ, knallte er die Tür hinter sich zu.

Einer der anderen Männer, Savet, warf Steinkind einen Blick zu. „Nimm das nicht so ernst. Der ist manchmal einfach so. Er ist ein Sklave geworden, nachdem seine halbe Familie in einem besonders harten Winter verhungert ist. Hat sich selbst, seine Frau und den verbliebenen Sohn verkauft für je einen Silberling.“

„Aber Warg lebt doch alleine?“

„Der Herr hat seine Frau in sein Bett gerufen. Sie ist von ihm geschwängert worden. Bei der Geburt des Kindes starb sie. Warg hat geweint, sein Sohn hat geweint. Der Herr, der ihr Geweine nicht hören mochte, ließ sie auspeitschen. Der Junge hat das nicht überlebt.“

Steinkind fühlte einen Felsblock auf seinem Herzen. „Und dann will Warg nicht weg?“

Savet zuckte mit den Achseln. „Er ist gebrochen. Selbst wenn er sich mal freikaufen sollte, der wird nie wieder etwas anderes sein als ein Sklave.“

„Und du?“

Savet gab keine Antwort. Aber Steinkind sah, wie sich seine Fäuste kurz ballten.

Das war der Tag, an dem Steinkind den Entschluss fasste, irgendwann ein freier Mann zu werden. Der Tag, an dem er begann, sich nach Geld umzusehen. Nicht, dass ein Sklave viele Möglichkeiten hatte an Münzen zu kommen, und wenn doch, dann waren es meist nur die kleinsten der Kupferlinge. Aber sechzig Kupferlinge konnten gegen einen Silberling eingetauscht werden. Mit genügend Fleiß und Geduld … Steinkind lernte, welche Arbeiten ihm tatsächlich Münzen einbringen konnten. Von seinem Herrn bekam er nichts. Aber wenn er seine Arbeit getan hatte und danach noch woanders helfen konnte, in anderen Haushalten, bei anderen Händlern, dann gab es hin und wieder für ihn einen Kupferling. Wenn nicht, bekam er zumindest einen guten Happen zu essen und manchmal ein Bier.

Es lohnte sich auch, für die Herrin zum Markt zu gehen. Sie gab das Geld immer sorgfältig abgezählt mit. Aber manchmal, wenn man geschickt handelte und den ganzen Markt nach einem passenden Händler absuchte, konnte man die Ware etwas günstiger kriegen und von dem Wechselgeld ein wenig abzweigen. Savet hatte ihm diesen Trick gezeigt. Die Herrin fragte nicht, solange das, was Steinkind nach Hause brachte, mit ihren Berechnungen übereinstimmte. Manchmal lächelte sie ihn sogar an.

Einmal allerdings war sie sehr zornig. Ihre Auftragsliste war sehr lang geworden. Steinkind hatte sich ein Stück Holzkohle und ein flaches Scheit geschnappt und sich ein paar Notizen darauf gemacht. Die Herrin hatte ihm das Scheit aus der Hand gerissen und es ins Feuer geschleudert. Aus der Schimpftirade, die sich anschließend über ihn ergoss, lernte Steinkind zweierlei: Sklaven war es nicht gestattet, lesen und schreiben zu können. Und solche, die es dennoch lernten, landeten bei nächster Gelegenheit als Opfer im Götterfeuer. Oder sie wurden den Meerhexen verkauft.

Meerhexen! Es gab also auch hier Wesen, die Magie ausübten, und man fürchtete sie. Gewiss nicht ohne guten Grund. Steinkind zitterte sich an diesem Abend in den Schlaf. Er träumte von Steinen.

Steinfaust

Подняться наверх