Читать книгу Der Weg zurück - Christa Burkhardt - Страница 10

7 Die Anzeige

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Er leistete sich ein Hotel. Das konnte er sich hier in einer Kleinstadt erlauben. Der Blick aus seinem Fenster zeigte den öden Pausenhof seiner ehemaligen Schule. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich bei seiner Schwester zu melden und möglicherweise bei ihr auf dem Hof zu übernachten, aber dann hatte er ihn verworfen. Das hätte ihn überfordert. Und sie vielleicht auch. Er musste mit seinen Kräften haushalten, die nicht besonders groß waren.

Der Besuch auf dem Friedhof war fürs Erste genug Zeitreise in seine Kindheit gewesen. Natürlich wollte er sich bei seiner Schwester melden. Enes Tages. Aber jetzt noch nicht. Alles hatte seine Zeit. Jetzt musste er erst einmal den Friedhof verdauen. Das und seine Schulzeit inklusive möglicher Lehrerkarriere vor Augen war mehr als genug für ihn.

Sein Handy klingelte. Es war Gregor, aber er ging nicht ran. Zum Glück versuchte er es nur einmal. Wenig später schickte er eine Nachricht. Ist das was für dich? schrieb er und ließ sogleich einen link folgen. Irgendwas mit schönem Wangerooge. Was sollte das denn? War Gregor unter die Reiseberater gegangen? Was sollte er mit einem Urlaubsangebot von einer Nordseeinsel? Eine Sinnkrise seines Lebens, das er verzweifelt in den Griff zu bekommen versuchte, jagte die nächste, und sein Freund empfahl ihm einen Badeurlaub? Wer solche Freunde hat, … dachte er.

Aber dann klickte er doch darauf. Und sei es nur, um sich so richtig über Gregor ärgern zu können. Es handelte sich gar nicht um ein Urlaubsangebot, es handelte sich um eine Stellenanzeige, lediglich versehen mit einem Logo der Urlaubsinsel Wangerooge, stellte er verblüfft fest. Sehr lustig! Was dachte sich Gregor dabei?

Wenn er sich schon nicht meldet, kann er wenigstens etwas arbeiten, der Krüppel? Er war froh, wenn er seine Hose selbstständig anziehen konnte, auch wenn es eine Ewigkeit dauerte, wie sollte er da arbeiten? Und was überhaupt? Er las weiter und wurde blass. Suche Vertretung für kleine Allgemeinarztpraxis auf Wangerooge für die Wintermonate, max. 50-Prozent-Stelle. Info unter

Eine Telefonnummer folgte. Also das hatte Gregor vor. Er wollte, dass er wieder als Arzt praktizierte. Na, toll. Was war in Gregor gefahren? Nach einem Gang über die Straße war er vor Anstrengung schweißgebadet. Jede Treppenstufe stellte ihn vor eine Herausforderung. Jede Nacht plagten ihn Albträume. Seine Feinmotorik war gerade mal so weit, dass er einigermaßen anständig mit Messer und Gabel essen konnte, aber jede Unterschrift stellte ihn vor Probleme.

Er versuchte, die Zeit im Pflegeheim zu verarbeiten, seinen unzuverlässigen Körper auszutricksen und wenigstens einige der Scherben wegzuräumen, die er in seinem Leben verursacht hatte. Die Liste mit den Menschen, die er verletzt hatte und bei denen er sich unbedingt entschuldigen und mit denen er möglicherweise wieder eine Beziehung aufnehmen wollte, war ellenlang.

Verzweifelt suchte er einen Weg zurück in sein Leben, obwohl er gar nicht wusste, was das überhaupt war, und sein einziger Freund schickte ihn arbeiten. Wollte ihn auf Patienten loslassen. Dabei war er genau genommen immer noch selbst einer.

In dieser Nacht schlief er noch schlechter als sonst. Das Grab seiner Mutter, sein Gymnasium, sein Besuch bei Lisa, seine nächsten Schritte, all das wälzte sich wie Lava durch seinen Kopf. Heiß und unkontrollierbar. Wo soll es hingehen, Felix Breitenbach? Wer bist du? Wer willst du sein?

Auch über die Stelle auf der Insel dachte er nach. Er konnte gar nicht arbeiten, er war noch lange nicht so weit. Vielleicht würde er es nie wieder sein. So viele andere Fragen waren dringender. Außerdem lenkte ihn diese Überlegung wieder einmal von dem ab, was er endlich tun musste: sich selbst in die Augen sehen.

Leider hatte er keine Ahnung, wie er das anfangen sollte. Bei Katja, seiner Ex-Frau? Bei Philipp, seinem Sohn? Bei seiner Schwester Beate? Bei Linda, der er sein zweites Leben verdankte? Bei Gregor, seinem Freund und Kollegen?

Hatte er sich nicht hier einquartiert, in Sichtweite seiner alten Schule, an der er in einem anderen Leben vielleicht als Lehrer gearbeitet hätte, damit er sich über seine Berufswahl klar werden konnte? Irgendwo musste er ja anfangen mit seiner Suche. Lehrer war sein Wunschberuf gewesen. Arzt war er geworden, weil seine Mutter Krebs bekam. Ihr Schicksal hatte seinen Beruf gewählt, nicht er.

Und dann bekam er eine Gänsehaut, denn siedend heiß fiel ihm ein: Als Arzt war er unterwegs gewesen in der Nacht des Unfalls, auf dem Rückweg von einem Hausbesuch. Ein Knall, ein Knacken im Rücken beendeten abrupt das Leben, das er bis dahin gelebt hatte. Vielleicht war es doch richtig, an dieser Stelle anzuknüpfen? An den Anlass seiner nächtlichen Autofahrt: Hausbesuch eines Allgemeinarztes. Vielleicht war Gregors Idee gar nicht so übel.

Er schaute sich die wenigen Zeilen Text der Anzeige noch einmal an. Draußen wurde es allmählich hell. Auf jeden Fall war es viel zu früh, um irgendwo anzurufen. Er nahm sein Handy und suchte im Internet nach der Praxis von Dr. Robert Kunstmann auf Wangerooge, aber er fand kaum Informationen.

Er musste lächeln. Auch Gregor und er waren stets ohne schicken Internet-Auftritt ausgekommen. Werbung durften sie sowieso nicht machen, wozu also eine Internetseite? „Wenn es jemanden interessiert, wie es in unserem Wartezimmer aussieht, soll er vorbei kommen“, hatte Gregor gesagt, als eine Praktikantin nach der homepage der Praxis gefragt hatte. Er beschloss, Dr. Robert Kunstmann anzurufen.

Wie er es geschafft hatte, mit diesem Anruf bis nach 8 zu warten, hätte er nicht sagen können. Jetzt, wo er sich entschlossen hatte, wollte er es auch durchziehen, sonst kämen doch nur wieder die Bedenken. Aber die Uhr zeigte gerade mal halb 6 und er musste warten. Diese durch die erzwungene Wartezeit bedingte Einladung nahmen seine Bedenken gern an.

In seinem Kopf schwirrte es nur so. Offenbar gelang es einer ausführlichen Dusche wenigstens einen Teil seiner Einwände abzuwaschen. Mit dem Gedanken ‚Wahrscheinlich wird das eh nichts, weil ich einfach noch lange nicht belastbar genug und ein Krüppel bin‘ ging er zum Frühstück.

Nach Rührei mit Speck und zwei Tassen Tee fasste er sich ein Herz. Er wählte die Nummer und räusperte sich. „Praxis Dr. Kunstmann, guten Morgen“, sagte eine fröhliche Frauenstimme. „Felix, Breitenbach hier, äh, Dr. Felix Breitenbach, ist Dr. Kunstmann zu sprechen?“ „Ihr Name kommt mir gar nicht bekannt vor. Sind Sie ein Urlaubsgast? Brauchen Sie medizinische Hilfe? Wir machen momentan keine Termine, Sie können einfach vorbeikommen“, sagte die freundliche Stimme wieder.

„Nein, vielen Dank, ich bin – kein Patient. Ich habe eine Anzeige von ihm gelesen und wollte gern mit Dr. Kunstmann darüber sprechen.“ Wie viel wollte und konnte er Kunstmanns Arzthelferin über sein Anliegen erzählen? „Ach so, die Vertretung im Winter? Warten Sie bitte kurz“, sagte sie. Sie wusste also Bescheid.

Warum auch nicht? Kleine Praxis stand in der Anzeige. Dann hörte er sie im Hintergrund rufen: „Robert, kommst du mal? Ich habe ein Telefongespräch für dich. Ich lege es dir in dein Sprechzimmer.“ Und wieder zu ihm sagte sie: „Er hat gleich Zeit für Sie, ich verbinde Sie eben.“

Ein lebhaftes modernes Klavierstück verkürzte ihm die Minute in der Warteschleife. „Kunstmann, guten Morgen?“, meldete sich wenige Augenblicke später eine tiefe Männerstimme, im Hintergrund klapperte Geschirr, Kaffeetassen vermutlich.

„Felix Breitenbach hier, Dr. Felix Breitenbach, ich habe Ihre Stellenanzeige gelesen und bin interessiert.“ Was sagte er da? Interessiert? War er das wirklich, oder war er eher neugierig? Außerdem fiel es ihm schwer sich mit seinem Titel zu melden. Als Arzt hatte er sich lange nicht mehr wahrgenommen.

„Ja, eine Praxisvertretung, die suche ich wirklich dringend. Wissen Sie, es melden sich gar nicht wenige Kollegen, interessante Kollegen, aber wenn sie dann die Konditionen erfahren, sagen sie alle ab“, sagte Kunstmann am anderen Ende der Leitung überraschend direkt und ehrlich.

„Ich spiele am liebsten mit offenen Karten, also hier, bevor Sie sich ernsthafte Gedanken darüber machen, möchte ich Ihnen Folgendes vorab skizzieren: Meine Praxis ist klein, im Winter ist eher wenig zu tun, nur die Stammpatienten, die ständig hier auf der Insel leben. Die meisten von ihnen sind alt. Es ist auch nicht reich zu werden damit, aber es ist ein Auskommen. Sämtliche Wochenenden von November bis einschließlich Januar ist Bereitschaft, Weihnachten, Silvester, Neujahr ebenfalls. Denn die zweite Praxis auf der Insel hat geschlossen. Also sind Sie der einzige verfügbare Mediziner bis der Hubschrauber vom Festland da ist. Meine beiden Mitarbeiterinnen sind Perlen, die Sie auf keinen Fall vergraulen dürfen, und ich habe eine gemütliche Ferienwohnung, die ich Ihnen kostenlos zur Verfügung stellen kann.“

Er macht eine Pause, aber nur eine kurze. „Und wenn Sie immer noch ernsthaft interessiert sind, kommen Sie einfach jetzt im Sommer ein paar Tage vorbei, dann können wir uns kennenlernen.“ Damit war Kunstmann offenbar fertig. Mannomann, so viele Informationen in so wenigen Sätzen! Er musste schlucken.

„Herr, äh, Breitenberg? Verzeihung, ich weiß nicht, ob ich Ihren Namen richtig behalten habe, sind Sie noch dran?“, fragte Kunstmann mit unsicherer Stimme. – Die Pause war wohl länger gewesen als sie ihm vorgekommen war. Er atmete aus. Jetzt war er dran.

„Breitenbach, Felix Breitenbach“, wiederholte er seinen Namen, um Zeit zu gewinnen. Den Titel brachte er nicht noch ein drittes Mal über die Lippen. „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Offenheit. Deshalb möchte auch ich offen zu Ihnen sein. Denn vielleicht komme ich für diese Aufgabe gar nicht infrage.“ Er ordnete seine Gedanken.

„Ich bin, - ich war über 20 Jahre Allgemeinarzt in einer kleinen Stadt, und meine Stammpatienten unterscheiden sich nicht sehr von Ihren. Allerdings habe ich seit über zwei Jahren nicht mehr praktiziert. Ich, äh, ich hatte einen schweren Unfall, lag lange Zeit in einer – Klinik und werde schwer gehbehindert bleiben. Mehr als das, was Sie zeitlich anzubieten haben, würde ich auf keinen Fall schaffen. Und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich überhaupt dazu in der Lage bin. Aber ich würde Sie und Ihr Team gern kennenlernen und, naja, dann können Sie immer noch nein sagen.“

Wieder entstand eine Pause. Sie hatten beide offenbar genug Material zum Nachdenken. „Wissen Sie was?“, fragte Kunstmann plötzlich, „sagen Sie mir, wann es Ihnen passt, und dann kommen Sie für ein paar Tage. Meine Ferienwohnung ist frei, Sie können in die Praxis schnuppern, und dann sehen wir weiter.“ Sie tauschten E-Mail-Adressen aus, erstellten Telefon- und WhatsApp-Kontakte, dann legten sie auf. Eine Insel im Winter. Als Arzt arbeiten. War er verrückt geworden oder war das die richtige Entscheidung? Wenige Tage später saß er im Zug nach Norden.


Der Weg zurück

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