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8 Reif für die Insel?

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Trotz des Sonnenscheins wehte ihm ein frischer Wind um die Nase, als er an der Reling der Fähre lehnte. Was machte er hier? Er konnte sich doch nicht nur aufgrund eines kurzen Telefonats in die Ferienwohnung eines wildfremden Kollegen einladen! Hunderte von Kilometern entfernt von allem, was ihm vertraut war.

Was, wenn Kunstmann ein richtiger Idiot wäre? Die Art arroganter Alleskönner, von denen es in seinem Berufsstand nur so wimmelte? Felix, mach halblang, dann würde er kaum in so einer kleinen Praxis mitten im Nichts arbeiten. Gib ihm eine Chance, er ist ein kleiner Landarzt wie du.

Ihm fiel ein, dass er Robert Kunstmann nicht einmal gefragt hatte, warum er eine Vertretung suchte. War er krank und musste sich einer längeren Behandlung unterziehen? Machte er irgendwo eine Weiterbildung? Zog es ihn in die Arme seiner Traum-Frau vom Festland und beide hatten die Nase voll von einer Wochenend-Beziehung? Hatte er doch noch irgendwo ein anderes, besserer berufliches Eisen im Feuer und entfloh dem öden Landarzt-Dasein? Er musste schmunzeln. Womit wir wieder beim alten Vorurteil von wegen arroganter Weißkittel wären. Bleib ruhig, Felix, es dauert kaum mehr eine Stunde, dann kannst du ihn das alles selbst fragen.

Kunstmann wusste, mit welcher Fähre er kam und wollte jemanden zum Abholen schicken, weil die Ankunftszeit noch in die Sprechstunde fiel. Er war mit dieser Information zufrieden gewesen. Als die Anlegestelle näherkam, fiel ihm auf, dass er keine Ahnung hatte, nach wem er Ausschau halten sollte.

Wie groß war die Insel eigentlich genau? Ach, sicher nicht so groß, dass man sich an einem Fähr-Anleger verpassen konnte. Im Zweifelsfall musste er einfach lange genug warten, dann würde nur noch ein Fahrzeug mit Fahrer übrigbleiben, beruhigte er sich. Und genauso war es.

„Guten Tag, ich bin Felix Kunstmann“, sagte er, nachdem er auf einen blauen Kleinwagen zu gehumpelt war, an dem ein älterer Mann lehnte. So sehen also die Stammpatienten hier aus, dachte er unwillkürlich. Hab‘ ich mir schon gedacht. „Hinner“, sagte der Mann und nickte grüßend, „ich fahr Sie dann man zum Doktor. Muss ja denn auch meine Hilde abholen, nech.“ Die Fahrt dauerte nicht lange. In einer Einfahrt neben einem stattlichen reetgedeckten Haus aus roten Klinkersteinen hielt der Wagen an.

„Sie ham nich viel Gepäck, was?“, fragte Hinner. Er schüttelte den Kopf und schaute sich um. Das Haus war sicher schon sehr alt, ein für den Norden typischer gedrungener Backsteinbau, eingeschossig mit hohem Dach. Es befand sich in einem ausgezeichneten Zustand, und war seiner Schätzung nach vor rund zehn Jahren liebevoll restauriert und erweitert worden. Auf der linken Seite des Hauses, wo Hinner in der breiten Einfahrt geparkt hatte, war ein moderner, sich über die ganze Höhe des Hauses erstreckender gläserner Windfang mit Treppenhaus angebaut worden.

Der Eingang befand sich an der Rückseite. Im Erdgeschoss vermutete er die Praxis, oben, im ausgebauten Dachgeschoss, Kunstmanns Wohnung oder die Ferienwohnung, von der dieser gesprochen hatte. Im Vorbeifahren hatte er gesehen, dass sich auch auf der anderen Seite ein Anbau befand, der aber einen anderen Charakter hatte. Viel Holz und Fachwerk mit sechsgeteilten Fenstern, einladend und drin sicher sehr wohnlich. Vielleicht war auch das die Ferienwohnung? Oder Kunstmann hatte auch noch ganz normale Mieter? Er würde es mit der Zeit erfahren.

Vor dem Haus lag ein Garten mit Blumen und einer kleinen Rasenfläche. Hinter dem Haus öffnete sich das Gelände zu einem großzügigen Garten mit Sitzgelegenheit. Nicht weit davon entfernt begann ein breiter Dünenstreifen mit Buschwerk und Strandhafer, der in den Strand überging.

Wo war er denn hier gelandet? Gab es solche Kulissen nicht nur im Film, überlegte er, als neben ihnen in der Einfahrt mit quietschenden Reifen ein silberner Kombi mit Dachträger hielt. Überrascht drehte er sich um. Auch Hinner war aufmerksam geworden.

Vom Fahrersitz sprang eine junge Frau, knallrot im Gesicht und furchtbar aufgeregt. „Pack mal mit an, Hinner, schnell“, rief sie, „ich hab‘ die beiden nicht gesehen.“ Hinner schaltete sofort, hob einen Jugendlichen vom Beifahrersitz, der offensichtlich nicht bei Bewusstsein war, und trug ihn ins Haus. „Als er eingestiegen ist, war er noch wach“, sagte die Frau und half einem zweiten Jungen, ein wenig jünger als der Erste, aus dem Fond ihres Wagens. „Geht’s?“ Er nickte und hielt sich schmerzverzerrt den Arm. Die Hose war verdreckt und zerrissen, er blutete an Ellbogen und Knien. Rasch folgte er auf seinen Krücken allen hinein.

Die Praxis befand sich tatsächlich im Erdgeschoss. Ein heller und gemütlicher Empfangs- und Wartebereich mündete in einen Flur, von dem links und rechts jeweils zwei oder drei Türen abgingen. Hinner verschwand gerade mit dem älteren Jungen im ersten Raum rechts.

Die Frau, die den Jüngeren stützte, brachte ihn ebenfalls dort hinein. Ohne groß nachzudenken, folgte er ihnen auch hier. Ächzend ließ Hinner seine menschliche Last auf die Liege fallen, und schon beugte sich ein anderer Mann über ihn. Das musste Dr. Kunstmann sein, aber zum Vorstellen blieb jetzt keine Zeit.

Wortlos griff er sich, als hätte er nie etwas anderes getan, ein Paar Handschuhe aus dem Spender neben der Tür, tat es Kunstmann gleich und widmete sich dem jungen Patienten. Ein geübter Blick hatte genügt, um ihn erkennen zu lassen, wer dringender seine Hilfe brauchte, der jüngere oder der ältere Junge.

Kunstmann hatte im Gegensatz zu ihm, der sich auf seine Krücken stützte, beide Hände frei. „Hinner, holst du mal den Hocker von nebenan für meinen Kollegen“, sagte er, ohne aufzusehen, und Hinner stellte ihn gleich möglichst hoch ein. Nun „stand“, saß, lehnte oder eine Mischung aus allem er zwar ein wenig wacklig auf einem Hocker mit Rollen, aber seine Hände konnten sich endlich auf den Jungen konzentrieren, um den es nicht besonders gut stand. Er musste sich eine Kopfverletzung und wahrscheinlich auch innere Verletzungen zugezogen haben.

„Die beiden waren mit dem Fahrrad unterwegs. Ich habe sie nicht gesehen“, sagte die Frau wieder und schluchzte auf. „Gut, dass Sie so schnell gekommen sind“, redete eine resolute Dame um die 60 beruhigend auf sie ein. War das Hilde? „Kommen Sie mit mir, wir setzen uns nach nebenan und Sie trinken einen Schluck Wasser.“ Behutsam führte sie die Autofahrerin, die offensichtlich unter Schock stand, hinaus. In der Tür begegneten sie einer jungen Frau mit langem braunem Pferdeschwanz. Wer war das nun wieder?

Auch diese erfasste mit einem Blick, was zu tun war, drückte den anderen Jungen auf einen Stuhl und besah sich dessen blutige Verletzungen. „Tut ganz schön weh, was?“, fragte sie einfühlsam, „ist das dein Freund?“, und zeigte in Richtung Liege. „Mein Bruder. Er heißt Tom.“ „Tom, kannst du mich hören?“, griff Kunstmann die Information sofort auf.

Sie arbeiteten konzentriert und routiniert, und als nach gut zweieinhalb Stunden der Helikopter mit Sanitäter und einem weiteren Notarzt-Kollegen vom Landeplatz unweit der Praxis – offenbar gab es hier öfter solche Situationen – wieder startete, kam er zum ersten Mal dazu, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Vorher hatte er wie in Trance agiert.

Kunstmann und seine beiden Helferinnen hatten die jungen Patienten hinausbegleitet. Er musste im Behandlungszimmer bleiben, weil er nicht wusste, wo Hinner seine Krücken hingestellt hatte. Langsam streifte er die Handschuhe ab und lauschte dem allmählich leiser werdenden Rotorgeräusch. Dann kamen Schritte näher, und die Routine im Raum ging weiter. Gebrauchte Verbandspäckchen, Tupfer, Verpackungsmaterial, die Unterlage der Liege wurden zusammengeknüllt und entsorgt, Instrumente zum Sterilisieren in einer Schale gesammelt, hier wurde gewischt, da desinfiziert. Ganz normale Handgriffe nach einer Behandlung.

Erst als sie fertig waren und Kunstmann noch einen prüfenden Blick in den Raum geworfen hatte, wandte er sich ihm zu. Was lag alles in diesem Blick? Neugier? Erschöpfung? Anerkennung? „Das war hervorragende Arbeit, Kollege“, sagte er schließlich und streckte ihm die Hand hin, „ich heiße Robert.“ Er lächelte.

„Und jetzt schauen wir mal, wo Hinner deine Gehhilfen geparkt hat.“ Der junge Pferdeschwanz wippte um die Ecke. „Ich habe den Sterilisator noch klar gemacht, Robert. Aber jetzt muss ich los. Tschau, bis morgen!“ „Grüß Aaron!“, rief ihr Robert noch hinterher, aber da fiel die Tür schon ins Schloss.

„Wir gehen dann auch mal“, sagte die ältere Dame, „Hinner wartet schon im Auto. Hella hat gekocht, weißt du“, sagte sie entschuldigend zu ihrem Chef. Dann wandte sich ihr Blick zu ihm. Mit einem „Ich bin übrigens die Hilde, Herr Doktor“, hielt sie ihm ihre Hand entgegen. „Nix Herr Doktor“, lächelte er, „ich heiße Felix“, und erwiderte den Händedruck. Wieder fiel die Tür ins Schloss. Robert reichte ihm seine Krücken und sie wandten sich ebenfalls zum Gehen. Robert schaute auf die Uhr.

„Beschauliche Landarztpraxis, Halbtagsjob“, murmelte er, „Junge, Junge, du kriegst einen völlig falschen Eindruck von dem Laden hier.“ Er lachte auf. Robert sprach weiter: „Wenn wir noch fünf Minuten warten, lernst du gleich noch Josy kennen. Sie hilft beim Putzen. Dann hast du die ganze Besatzung in einem Abwasch erledigt.“

„Und das in nicht einmal drei Stunden“, erwiderte er. Robert nickte. „Rekordverdächtig, oder? Das sollten wir feiern. Was hältst du von Salat und Saftschorle bei mir oben auf der Terrasse? Alkohol gibt es nicht. Ich kann damit schlecht umgehen.“ Er musterte ihn. „Ich meine, wenn das geht mit der Treppe?“ Er nickte. Es war eine gute Idee, hierher zu kommen, dachte er.

Robert kontrollierte Türen und Fenster, stellte das Telefon auf sein Handy um und zeigte mit einladender Geste die Treppe hinauf. „Leider habe ich keinen Aufzug“, bedauerte er mit einem rücksichtsvollen Blick auf seine Krücken. „Das macht nichts. Ich muss sowieso Treppen üben“, erwiderte er. Robert nahm seinen Rucksack und ging langsam voraus. „Die Ferienwohnung ist auf der anderen Seite. Aber ich habe oben auch ein Gästezimmer“, sagte er.

Sie betraten die Wohnung im Gegensatz zur Praxis darunter, deren Eingang mittig war, seitlich an der Straßenfront. Ein langer Gang mit Dachschräge und großzügigen Fenstern, die warmes Licht hereinließen endete an einer Tür.

Aber Robert blieb etwa auf halber Strecke stehen und öffnete eine Tür auf der linken Seite, die in einen Wohnbereich führte, der sich beinahe über das gesamte ursprüngliche Gebäude erstreckte. Der Tür gegenüber lag eine lange Fensterfront mit zwei Balkontüren, die den Blick auf das Meer freigab.

Wow, dachte er, würde ich hier leben, ich würde ständig diesen Blick einatmen wollen. „Mein Reich ist links, das Gästezimmer ist hier rechts, die Tür neben der Küchenzeile. Da gibt es auch ein eigenes Bad. Du kannst dich umschauen und ich kümmere mich um den Salat, was meinst du?“, sagte er. „Ich geh nur kurz Hände waschen, dann helfe ich dir“, erwiderte Felix und wandte sich zum Gästezimmer.

Auch das hatte einen Balkon und eine lange Fensterfront zum Meer, aber auch noch Fenster zur anderen Seite hin. Der Balkon reichte um die Ecke, sodass er fast zwei Seiten des Zimmers einnahm. Das andere Ende des Hauses. Er öffnete die Balkontür, atmete tief die gute Luft ein, schloss ein paar Sekunden die Augen und dachte: Egal wie das hier ausgeht, ich muss mich bei Gregor bedanken.



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