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6 Auf dem Friedhof

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Das letzte Stück fuhr er mit dem Taxi. Öffentliche Verkehrsmittel schienen hier nach wie vor ein Fremdwort zu sein. Wenigstens das hatte sich seit seiner Kindheit nicht geändert. Zum Glück war er mit den Krücken mittlerweile so geübt, dass ihm der Kies auf einem Teil des Weges nicht viel ausmachte.

Ohne Hilfe kam er seinem Ziel näher. Hoffentlich erinnerte er die Stelle richtig. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Damals hatte er schwarz getragen wie sein Vater, seine Schwester und alle anderen Besucher der Trauerfeier auch. Hier, gleich in der nächsten Reihe links musste es sein.

Roswitha Breitenbach, geborene Mager, seine Mutter. Kurz vor dem Abschluss seines Studiums war sie gestorben. Sein Medizinstudium, das er nur begonnen hatte, um ihr Leben zu retten. Wie wohl sein Leben ohne diesen verdammten Brustkrebs verlaufen wäre? Wäre er heute Oberstudienrat für Chemie und Biologie am heimischen Gymnasium, so wie er es immer gewollt hatte? Hätte er ein lässiges Studentenleben mit Partys, Mädchen und Reisen gehabt und nach dem Referendariat eine Kollegin geheiratet, Englisch/ Geschichte vermutlich? Wäre das sein Leben gewesen? Das Leben, das er selbst gewählt hätte?

Stets hatte er den Eindruck gehabt, in alles, was sich ereignet hatte zufällig hineingeschlittert zu sein. Nichts davon hatte er selbst bestimmt. Eine Suppe nach der anderen löffelte er aus. Aber kaum eine hatte er sie sich selbst eingebrockt oder zumindest nicht mit Absicht. Und was außer dieser Suppe noch alles auf der Speisekarte gestanden hatte, konnte er nicht sagen. Das hätte sowieso nichts geändert. Und jetzt war das Restaurant geschlossen.

Er versuchte, sich an seine Mutter zu erinnern. Zahlreiche Bilder, Eindrücke, Szenen erstanden in seinem Kopf. Auf keinem dieser Bilder hatte sie sich ausgeruht. Sie hatte in einen Bauernhof eingeheiratet und wusste, was auf sie zukommen würde. Ein Leben in Arbeit. „Ich schlafe, wenn ich alt bin“, hatte sie stets erwidert, wenn er sagte, sie sehe müde aus und solle kürzer treten. Alt war sie aber nicht geworden.

Ach, Mama! Auf dem Breitenbach-Hof hatte es keine Spiele-Abende und keine Urlaubsreisen gegeben. Auch keine sonntäglichen Familienspaziergänge. Auf dem Hof hatte es das Vieh gegeben, die Feldarbeit, die Reparaturen, die Hausarbeit und wenn man für heute fertig war, ging es früh am nächsten Morgen weiter. Das Vieh, die Feldarbeit, die Reparaturen, die Hausarbeit. Dafür war auf dem Hof immer jemand zu Hause, wenn er mal früher Schulschluss hatte oder krank war. Wie viele Kinder wuchsen heute noch so auf?

Bei den Schularbeiten konnte ihm freilich keiner helfen. Er wurstelte sich irgendwie aufs Gymnasium. Sein Vater war einverstanden gewesen, obwohl er wusste, dass sein Sohn damit als Erbe für den Hof ausfallen würde. „Solang das noch so lang gut geht wie ich bin, ist das lang genug“, hatte sein Vater gesagt und sein ganzes Leben lang gewusst, dass sein Hof mit ihm sterben würde.

Vielleicht hätte er ihn auf der Dorfschule gelassen, wenn er eine bessere Hilfe gewesen wäre. Aber er hatte zwei linke Hände und war weder für die Feld- noch für die Hausarbeit zu gebrauchen. Nicht einmal ein Gespür für das Vieh hatte er. Er schaffte es kaum, die Eier einzusammeln, ohne eins mindestens anzuschlagen.

Also durfte er in der Stadt in die Schule gehen. Hatte er wirklich Abitur gemacht, damit er auf dem Hof nicht im Weg herumstand? Die Antwort lautete ja. Wer zu blöd zum Ausmisten ist, muss halt studieren, Pech gehabt! Vielleicht wollte er auch nur deshalb Lehrer werden, weil Bauer und Lehrer die einzigen beiden Berufe waren, die er kannte. Ach, Mama, hast du dich wenigstens im Kindbett ausgeruht?

Warum habe ich so wenig von dir? Warum habe ich nicht deine Bescheidenheit, deine Ergebenheit in ein Leben voller Pflichten? „Die Arbeit ist da, ich bin da, wir können halt nicht ohne einander, wir zwei“, hatte sie gesagt, wenn sie wieder einmal statt einer kurzen Pause die nächste Aufgabe in Angriff genommen hatte. Auch der Krebs hatte daran nichts geändert.

Sie nahm ihn an wie ein kühles Lüftchen in Mai, einen schlecht tragenden Birnbaum im August oder einen zu früh nadelnden Weihnachtsbaum. „Ist halt so“, hatte sie gesagt, als er nach ihrer abendlichen Dusche zum ersten Mal die Narbe an der Stelle sah, wo ihre Brust hätte sein sollen. Warum habe ich dich nie gefragt, wie es dir geht?

Warum habe ich mich wie ein Besessener in ein Studium gestürzt, das dir nicht helfen konnte, statt an deiner Seite zu sein? Du hast meine Frau nie kennengelernt, deine Enkel auch nicht. Du weißt so wenig von mir wie ich von dir wusste. Mit einem Unterschied: Du hattest keine Gelegenheit, es anders kommen zu lassen, ich schon. Auch damit muss ich leben. Hörte das nie auf? Egal woran er in seinem Leben dachte, immer war der Gedanke mit einem Fehler oder einem Versäumnis verbunden.

Wie viel durfte ein Mensch falsch machen? Musste bei ihm nicht allmählich der Gong ertönen, dass sein Kontingent erschöpft war? Er wandte den Blick ein kleines Stück nach rechts. Alfons Breitenbach stand da auf dem Stein. Sein Vater. Drei Jahre hatte er nach dem Tod seiner Frau noch gelebt. Gerade so lange, dass er die wichtigsten Angelegenheiten, die den Hof betrafen, noch regeln konnte.

„Soll ja nicht alles die Beate allein machen müssen“, hatte er zu ihm gesagt. Und ihm, dem Sohn, dem inzwischen promovierten Mediziner, war entgangen, was er eigentlich gemeint hatte: „Du kümmerst dich ja sowieso nicht darum, obwohl es deine Aufgabe wäre.“ Ob seine Schwester Beate noch auf dem Hof lebte? Er gehörte auf jeden Fall ihr.

Seine Schwester und er, die Praktische und der Ungeschickte, sie hatten einander nie besonders viel zu sagen gehabt. Sie reparierte Landmaschinen in einer nahe gelegenen Werkstatt. – Noch ein Mensch mehr auf der Liste derer, bei denen er sich melden musste. Aber ihr Name stand nicht ganz oben.

Mama, Papa, es tut mir leid. Ich habe es vermasselt. Ihr wart auf eure spröde, wortkarge Art für mich da, als ich klein war. Ihr habt mich machen lassen, auch wenn ihr es besser wusstet. Ihr habt euren Frieden gemacht mit einem Sohn, den ihr euch ganz anders gewünscht hattet. Ich wünschte, ich könnte das auch, endlich meinen Frieden mit mir machen. Noch lange saß er weinend am Grab seiner Eltern.

Der Weg zurück

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