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9 Robert erzählt

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Ebenso wie noch vor knapp einer Stunde arbeiteten die beiden Männer auch in der Küche so zusammen, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Ab und zu musste er nach einem Messer, einem Gewürz oder einem anderen Gegenstand fragen, den er nicht auf Anhieb finden oder richtig verorten konnte.

Während er schnippelte und hackte, hantierte Robert mit einer Pfanne mit Croutons und dann mit knusprigem Putenfleisch, das er am Morgen schon eingelegt und gewürzt hatte. Nach allerhand Fachsimpelei über Salatdressings mischte er ihr Werk ein letztes Mal durch, während Robert auf dem großen Balkon den in der Abendsonne stehenden Tisch deckte.

„Herzlich willkommen“, prostete er ihm mit einem Glas Zitronenwasser zu. „Danke dass ich hier sein darf“, entgegnete er. Eine Weile aßen sie schweigend. „Das ist ein herrliches Fleckchen Erde“, sagte er schließlich, „bist du hier geboren?“ Robert schüttelte den Kopf. „Nein, ich komme aus dem Ruhrgebiet. Das ist das Haus und die Praxis meines Schwiegervaters.“

Er schaute ihn fragend an. „Meine jetzige Ferienwohnung war eigentlich als sein Altenteil geplant“, erklärte Robert, „aber dann ist vieles anders gekommen.“ „Das kenne ich“, sagte er, und dann fing Robert an zu erzählen.

„Mein Hobby ist Kunstgeschichte, fast hätte ich mich gegen die Medizin und für ein Studium der Kunstgeschichte entschieden. Als alle, meine Eltern, Freunde, Patenonkel und so weiter auf mich einredeten, auf die Medizin zu setzen, habe ich mich eben gefügt. Ich meine, im Nachhinein war es ja richtig, oder?“

Er schaute ihn fragend an. Er zuckte die Achseln. „Du weißt nicht, was passiert wäre, wenn du dich anders entschieden hättest. Es ist müßig, eine Entscheidung infrage zu stellen, wenn man sie erst getroffen hat und längst mit ihren Konsequenzen lebt“, warf er ein. Robert nickte. „Wie wahr.“

Dann fing er an zu lachen. „Auf jeden Fall habe ich so verhindert, dass mein Vater an einem Herzinfarkt stirbt“, dann wurde er wieder ernst. „Trotzdem verbrachte ich viel Zeit in Italien und streifte durch Museen, während alle anderen am Strand lagen“, fuhr er fort, „und so kam ich letztlich hierher. Ich trank gerade einen Espresso, da fiel sie mir auf. Es war in Florenz, eine meiner Lieblingsstädte. Ganz langsam umkreiste sie einen Brunnen, blieb hier stehen und da und schaute. Ich bestellte noch einen Espresso und noch einen, ein Wasser und noch eins, aber sie kreiste immer noch um diesen Brunnen. Irgendwann stand ich auf und bezahlte. Ich schenkte ihr mein schönstes Lächeln, und dann umkreisten wir den Brunnen zusammen.“

Roberts Blick schweifte in die Ferne. „In meinem ganzen Leben habe ich mir nie wieder einen Brunnen so genau angeschaut. Aber so war es. Als es dunkel wurde, hatte ich mich in sie verliebt. Die nächsten Tage verabredeten wir uns in verschiedenen Museen und an anderen Brunnen und Skulpturen in der Stadt. Am Ende tauschten wir Telefonnummern aus und unterhielten uns nächtelang über Kunst.“

Robert lachte wieder. „Kannst du dir vorstellen, dass man so verliebt ist, dass man vergisst, den anderen zu fragen, wo er überhaupt wohnt? Hör auf zu lachen, Felix!“, mahnte er, „denn es ist die Wahrheit, ich schwöre es! Wir verabredeten uns für ein verlängertes Wochenende in Verona, ungefähr zwei Monate nach unserer Brunnenrunde. Und da ist es dann passiert. Wir wurden ein Paar. Und als wir einander zwischendurch mal weder küssten noch über Kunst philosophierten, erfuhr ich, dass sie Biologie studiert hatte, demnächst ihre Promotion abgeben würde und eigentlich von einer Nordseeinsel stammte.“

Robert holte eine frische Karaffe Wasser aus der Küche und entzündete ein Windlicht auf dem Tisch. „Als ich sie zum ersten Mal hierher begleitete, praktizierte ihr Vater noch. Ich sah, wie viel ihr an der Insel, an diesem herrlichen Platz hier, an diesem Haus lag und zwei Jahre später, nachdem wir hier den ersten Umbau vorgenommen hatten, arbeitete ich in der Praxis mit und wollte bald schon nicht mehr weg von hier.“ Wieder machte er eine Pause.

„Franziska forschte an einem Institut auf dem Festland, das eine Beobachtungs- und Messstation hier auf Wangerooge betreibt und pendelte zwischen dem Stammsitz des Instituts und hier hin und her. Wir heirateten, sie wurde schwanger, wir bauten noch einmal an und ein wenig um, ich übernahm die Praxis und unsere Urlaube verbrachten wir in Italien und Griechenland, immer in Sichtweite von Brunnen, Skulpturen und Museen. Es war ein besseres Leben als ich es mir jemals erträumt hatte.“ Er machte eine lange Pause.

„Als Franziska wieder schwanger wurde, dachte ich, ich würde platzen vor Glück. Wenige Wochen vor der Geburt packte sie unsere Tochter Klara ins Auto und wollte ihre beste Freundin in der Nähe von Hamburg besuchen. Nur für ein paar Tage. Ich winkte ihnen nach.“

Wieder machte er eine Pause. „Der Anruf kam drei Stunden später. Ein Geisterfahrer auf der Autobahn. Frontalzusammenstoß. Franziska tot, Klara tot, das Kind im Mutterleib nicht zu retten. Es war ein Mädchen. Wir wollten sie Luna nennen.“

Er konnte nicht weitersprechen. Schweigend saßen beide Männer im Dunkeln. Das Meer rauschte. Warum dachte ich bisher immer, schlimmer als mich kann es keinen treffen? Wie konnte Robert weiterleben? Hier weiterleben? An dem Ort, den sie sich gemeinsam geschaffen hatten, um glücklich zu sein? „Mein Schwiegervater starb wenige Monate später. Er hat es nicht verkraftet, seine einzige Tochter und zwei Enkelkinder begraben zu müssen.“

Wieder schwiegen sie. Robert räusperte sich schließlich, dann sagte er: „Das ist meine Geschichte. Was ist mit deiner?“ Er winkte ab. „Die ist nicht der Rede wert.“ „Erzähl sie mir trotzdem“, bat der Mann, der seine Familie verloren hatte. Er seufzte.

„Ich hatte auch einen Unfall, aber ich habe überlebt. Wochenlang Koma, künstliche Beatmung, das ganze Menü. Als ich wieder zu mir kam, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Es gibt eine Patientenakte über mich, die über hundert Seiten umfasst, und auf jeder steht das Wort irreversibel. Ich vegetierte über ein Jahr in einem Pflegeheim und versuchte, den Verstand zu verlieren, wenn ich schon nicht sterben konnte. Eines Tages besuchte mich eine ehemalige Patientin. Sie war nach Monaten der erste Mensch, der mich wie einen Menschen behandelte. Sie holte mich gegen jede medizinische Prognose zurück. Ich brauchte einen Medikamentenentzug und monatelanges Training. Noch vor vier Wochen hätte ich die Treppe hier im Haus nicht geschafft.“ Er schwieg. Seine eigene Geschichte kam ihm auf einmal klein und unbedeutend vor. Ich muss mir angewöhnen, mich weniger wichtig zu nehmen, dachte er.

Noch eine Weile hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Es wurde spät. „Ich muss morgen früh raus“, sagte Robert schließlich und räumte die Gläser in die Spüle, „mach‘ dir einen schönen Tag am Strand oder so. Die Tür unten ist immer offen.“

In dieser Nacht lag er lange wach. Und diesmal war es nicht wie sonst so oft aus Angst vor den Albträumen, die ihn regelmäßig heimsuchten. Den für Robert wichtigsten Teil meiner Geschichte habe ich ihm gar nicht erzählt, dachte er.


Der Weg zurück

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