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2 Wie ein Blizzard

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„Ich glaube, das muss irgendwie mehr nach da drüben“, sagte Marie zweifelnd, „so geht das nicht.“ Severin seufzte. Warum hatte er sich dazu breitschlagen lassen? Die Möbel umstellen, was sollte das? Er mochte seine kleine Wohnung so wie sie war. Warum konnte er Marie keinen Wunsch abschlagen? Erst vor wenigen Wochen war sie in sein Leben getreten. Getreten? Nein, sie war über ihn gekommen wie ein Blizzard, völlig überraschend, und seitdem war kein Stein mehr auf dem anderen.

Ausgerechnet ihn hatte es erwischt. Dabei war er noch nie auf der Suche nach einer Freundin gewesen. Entweder treffe ich die richtige, oder ich will gar keine, hatte er immer gesagt. – Vor dem Blizzard.

Mit zerzausten Haaren, Klamotten von gestern, den Nerven am Ende, ein zerknülltes Flugticket in der Hand und ansonsten ohne Papiere, so stand sie vor ihm. Die Handtasche? Geklaut. Ausweis, Führerschein? Na, das sagte ich doch gerade! Das war ihr erstes Gespräch gewesen.

Er arbeitete im Einwohnermeldeamt und sie brauchte ganz furchtbar dringend neue Papiere. Das Auto ihres Freundes war aufgebrochen worden, ja, alles weg. Alles! Aber morgen wollten sie nach Indonesien. Backpacker-Tour. Länger halte sie es in Deutschland nicht mehr aus. Drei Monate war sie jetzt schon zu Hause gewesen. So lange wie seit Jahren nicht mehr. Und jetzt das mit dem Diebstahl. Er könne ihr doch bestimmt helfen, oder?

Natürlich hatte er alles in die Wege geleitet. Das war sein Job. Marie Lichtlein, 24, ein Jahr älter als er. Müsste er sie nicht eigentlich aus der Schule kennen? Die Stadt war klein. Als sie die Dokumente abgeholt hatte, war er nicht da gewesen. Aber seine Kollegen schwärmten noch stundenlang von dieser Wahnsinnsfrau und beneideten unbekannterweise ihren Reisebegleiter offen und lautstark.

Wann war das gewesen? Kurz vor Weihnachten, glaubte er sich zu erinnern. Er hatte an diesem Tag früher Schluss machen und mit seiner Mutter und ihrem ungewöhnlichen Gast Plätzchen backen wollen. Und dann hatte er statt Zimtsternen Marie Lichtlein im Kopf gehabt. Backpacker-Tour. Indonesien. Offensichtlich machte sie so etwas nicht zum ersten Mal. Ihr gefiel es nicht in Deutschland.

Wenn er ehrlich war, hatte er noch nie darüber nachgedacht, ob es ihm in Deutschland gefiel. Er lebte hier, er arbeitete hier, er hatte hier Familie und Freunde. Warum sollte er nach Gründen suchen, aus denen es ihm hier nicht gefiel? Warum sollte er sich in irgendein fernes Land sehnen?

Okay, Urlaub in Thailand, Brasilien, Indien, das hatte er zusammen mit seinen Freunden schon gemacht. Es war jedes Mal toll gewesen. Im nächsten Sommer wollten sie auf Korsika wandern. Er freute sich schon sehr darauf. Ferne Länder waren etwas für den Urlaub und nichts, um sich dort wochen- oder monatelang nur mit einem Rucksack durchzuschlagen. Nein, danke.

Er hatte eine Weile über Marie Lichtlein und ihren Lebensstil nachgedacht, hatte mit seinen Freunden über verschiedene Lebensmodelle philosophiert, und dann hatte er sie vergessen. – Bis sie plötzlich vor ihm stand. Wieder war es im Amt gewesen. In der Hand hielt sie einen stattlichen Korb, eingewickelt in ein bunt gebatiktes Tuch. Da bin ich wieder, hatte sie gesagt, als hätten sie sich erst gestern verabschiedet.

Dabei war April, und verabschiedet hatten sie sich gar nicht. Er war garantiert nicht der Typ, der sich leicht aus der Fassung bringen ließ. Aber außer einem lang gezogenen Äh war ihm nichts eingefallen. Sie wollte sich bedanken, sagte sie. Ohne ihn hätte sie ihre Reise mindestens verschieben, wenn nicht absagen müssen. Indonesien, ein Traum. Du glaubst es nicht, sagte sie.

Und jetzt solle er ihr endlich diesen doofen Korb abnehmen. Blöde Frage! Natürlich sei der für ihn. Kleines Mitbringsel und herzlichen Dank. „Das, das darf ich nicht annehmen“, hatte er gestottert. „Du sollst es auch nicht annehmen, du sollst es zu dir nehmen“, hatte sie seinen Beamteneinwand weggefegt.

„Das sind Gewürze und Tees, und ich zeige dir heute Abend wie man damit kocht. Du hast doch Zeit, oder?“ Obwohl er nun schon zum zweiten Mal nur ein Äh zustande brachte, hatte sie abends an seiner Haustür geklingelt. Was soll man sagen? Blizzard eben.

Erst als sie hinterher nackt ins Bad schwebte, hatte er gefragt: „Was ist eigentlich mit deinem Freund? Du weißt schon, der mit dem aufgebrochenen Auto, mit dem du in Indonesien warst?“ „Ist dort geblieben“, hatte sie die Achseln gezuckt. Damit schien alles gesagt.

Marie kam von da an regelmäßig. Nein, sie schneite vorbei, wann es ihr gerade einfiel. Severin, was tust du da?, fragte er sich manchmal in stillen Momenten. Ich genieße, was dagegen?, antwortete er sich selbst. Das wird nicht lange gut gehen, meldete sich die Vernunft. Ich weiß, na und?, lachte ihm sein Herz ins Gesicht.

Und jetzt stellte er die Möbel um. Marie Lichtlein, was hast du mit Severin Keller, der Zuverlässigkeit und Bodenständigkeit in Person gemacht?, fragte er sich. Dabei war Marie genau zum richtigen Zeitpunkt in sein Leben gestürmt. Er brauchte dringend ein wenig Abstand und Ablenkung von den jüngsten Ereignissen im Haus.

Severin lebte in der Einliegerwohnung bei seiner geschiedenen Mutter. Vor rund vier Jahren hatten sie das langjährige Familienheim verlassen und sich hier sowohl zusammen als auch jeder für sich eingerichtet. Manchmal trafen sie sich wochenlang kaum, manchmal saßen sie jeden Abend zusammen im Garten. Sie waren beide der Typ Mensch, der prima mit sich allein sein kann. Und nach der Wallung mit Felix war allein sein mal wieder angezeigt.

Dr. Felix Breitenbach war der Arzt seiner Kindheit gewesen, aber Severin neigte eher zu Gesundheit als zu Krankheit, also kannte er ihn kaum. Dann hatte er ihn eines Tages auf dem Sofa seiner Mutter gefunden. Hilflos wie ein Säugling und trotzdem war ihm klar gewesen: Felix gehört jetzt hier irgendwie dazu.

Wie lange war das her? Das musste letztes Jahr im Juli gewesen sein. Oder im August? Auf jeden Fall im Sommer. Monate später, irgendwann nach Ostern, hatte Felix dann seinen Rollstuhl, seine Krücken und eine kleine Reisetasche gepackt und war nach Amerika verschwunden.

Seine Mutter erledigte weiterhin Schreibarbeiten und übersetzte weiterhin Buchprojekte, aber wenn er ehrlich war, hatte er kaum mit ihr gesprochen, seit Felix weg war. Blizzard und so, entschuldigte er sich vor sich selbst. Wie ging es ihr eigentlich mit Felix‘ Entscheidung? Seiner Reise? Damit, dass er nach so vielen aufwühlenden Monaten plötzlich weg und sie wieder allein war? Warum wusste er das nicht? Hatte sie Kontakt mit ihm? „Hier steht das Regal doch viel besser, oder“, fragte Marie. Er musste dringend mit seiner Mutter reden.


Der Weg zurück

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