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3 Lisa

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Das Flugzeug ihres Vaters war schon lange nicht mehr zu sehen. Aber sie stand noch an der Panorama-Fensterscheibe am Flughafen und konnte nicht aufhören zu weinen. Nun hatte sie ihn zum zweiten Mal verloren. Nur wenige Wochen durfte sie erleben, wie er lachte, erzählte, die Stirn kraus zog, wenn er nachdachte, mit seinen Enkeln spielte, seine Nähe spüren, seine Gedanken teilen, ihm ihr Leben zeigen. Ihn als Teil ihres Lebens betrachten. Nie hätte sie gedacht, dass ihr dieser erneute Abschied so schwerfallen würde. Nie hätte sie gedacht, dass er so schnell kommen würde.

Warum ließ er sie schon wieder allein? Warum konnte sie ihn schon wieder nicht in ihrem Leben halten? Zum zweiten Mal hatte sie versagt. Sie hatte nicht gewusst, wie viel er ihr bedeutete. Über ein Jahr hatten sie sich nicht gesehen. Über ein Jahr, in dem sie wieder und wieder versucht hatte, sich ihren Vater und ihre Liebe zu ihm aus dem Herzen zu reißen. Denn darum hatte er sie gebeten. Versprechen hatte sie es ihm müssen. „Behalte mich so in Erinnerung wie ich vor dem Unfall war“, hatte er gesagt. Bis heute klangen seine Worte in ihren Ohren. „Du kannst nichts mehr für mich tun. Dein Vater ist tot.“

Sie war wie betäubt gewesen, als ihr Bruder sie damals angerufen hatte. „Papa hatte einen Unfall. Er liegt im Koma. Wir wissen nicht, ob er es schafft“, hatte Philipp gesagt. Auch diese Worte würde sie nie vergessen. „Bleib, wo du bist“, hatte er gesagt, „du kannst hier eh nichts tun. Ich melde mich sofort, wenn er aufwacht.“ Sie hatte trotzdem den nächsten Flieger genommen, hatte gerade mal das Nötigste für Josh gepackt. Josh war damals erst wenige Monate alt gewesen und sie hatte ihn noch gestillt. Brian hatte sich frei genommen, um bei Daniel zu bleiben.

Wie sie die Wochen auf der Intensivstation in diesem ständig piepsenden Krankenzimmer überstanden hatte, wusste sie nicht zu sagen. Tausende Kilometer entfernt von ihrem Mann und ihrem Sohn, der einfach nicht verstand, weshalb seine Mama und sein kleiner Bruder plötzlich nicht mehr da waren, hoffte und bangte sie um das Leben ihres Vaters.

Wie hätte Brian Daniel trösten wollen? Wie konnte sie so einem Säugling gerecht werden, der seine gewohnte Umgebung, seinen Papa, einen geregelten Tagesablauf und eine Mama brauchte, die ganz für ihn da war? Was tat sie ihrer Familie da an?

Sie stillte Josh und sprach mit ihrem Vater, von dem niemand wusste, ob er sie hören konnte. Sie lebte wochenlang in einer Pension in unmittelbarer Nähe der Klinik, immer auf dem Sprung, immer rastlos, immer in Gedanken, die mit Was ist, wenn …? begannen. Natürlich nahm ihr ihre Mutter manchmal Josh ab. Natürlich weinte sie manchmal eng umschlungen mit ihrem Bruder. Dennoch fühlte sie sich unendlich einsam. Der für sie wichtigste Teil ihrer Familie, ihr Vater, kämpfte um sein Leben, und sie konnte nichts für ihn tun.

Schon als Kind war er ihr Idol gewesen. Ihr großes Vorbild. Ihr Held. Mit Puppen, Stofftieren und allerlei Krankheiten, Medikamenten und Utensilien, die es nur in ihrer Fantasie gab. hatte sie stundenlang Arzt gespielt. Ihr Papa konnte machen, dass ein Aua nicht mehr wehtat. Ihr Papa wusste immer, was ein Patient hatte. Ihr Papa konnte machen, dass Menschen nicht sterben.

Und bei all der Arbeit blieb er doch immer ihr Papa. Er las ihr abends vor, er schubste sie auf der Schaukel an, er machte mit ihr Radtouren, er applaudierte nach ihrem Theaterauftritt. Sie wusste nicht, wie oft er nachts seine Bettdecke angehoben hatte, damit sie zu ihm krabbeln und sich an ihn kuscheln konnte. „Gut, dass du kommst, ich fürchte mich allein ein wenig“, hatte er geflüstert. Sie wusste nicht, wofür sie ihn mehr liebte: für diese Geste oder für diesen Satz.

„Ich hatte auch immer Probleme mit Französisch“, hatte er gesagt, während Mama schimpfte und drohte. „Lieber ein glückliches Kind als eine unglückliche Abiturientin“, hatte er gesagt und sie gegen den Willen ihrer Mutter – „Du verbaust dem Kind seine ganze Zukunft!“ – vom Gymnasium genommen und an der Realschule angemeldet. Sie war ihm so unendlich dankbar gewesen.

„Du bist genauso klug wie dein Bruder“, hatte er gesagt und ihr zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn gestrichen. „Der einzige Unterschied ist der, dass Philipp Dinge kann, die in Schulfächer passen und du Dinge kannst, die dafür zu groß sind.“ Sie wollte ihn gar nicht mehr aus ihrer Umarmung entlassen. Okay, sie würde nicht Ärztin werden, aber sie würde trotzdem Menschen helfen, genau wie ihr Papa. Das hatte sie sich damals vorgenommen. Später war sie Krankenschwester geworden.

Natürlich liebte sie auch ihre Mutter, aber die Beziehung zu ihrem Vater war immer die engere gewesen. Außer an diese große Auseinandersetzung wegen ihrer Schullaufbahn konnte sie sich kaum an ernsthafte Streitigkeiten zwischen ihren Eltern erinnern. Trotzdem waren sie ihr nie wie die Eltern ihrer besten Freundin Charlotte vorgekommen.

Die liebten sich heiß und innig. „Wofür die mich überhaupt gekriegt haben? Die sind sich doch selbst genug“, hatte Charlotte so manches Mal geseufzt, wenn ihre Eltern wieder einmal turtelten wie frisch Verliebte oder eng umschlungen durch das Wohnzimmer tanzten. – „Bei Kerzenschein! Mensch Lisa, ich schäme mich so. Keiner hat so peinliche Eltern wie ich. Die sind über 40! Wo gibt es denn sowas?“

Bei Breitenbachs jedenfalls nicht. Obwohl ihre Freundin sichtlich litt, nahm sie sich damals vor, im Zweifelsfall eine Ehe wie die von Charlottes Eltern zu führen und nicht wie die ihrer eigenen Eltern. So mit Umarmungen und Küssen und Flirten und Komplimenten und zusammen lachen. Als Liebespaar eben und nicht nur als Eltern so wie ihre Eltern es praktizierten. Nein, es flogen nicht die Fetzen zwischen ihnen, nie knallte einer mit der Tür oder verletzte den anderen absichtlich. Aber die Liebespaar-Komponente fehlte bei den Eheleuten Breitenbach eindeutig.

Außerdem war ihre Mutter, solange sie sich erinnern konnte, beinahe jede Woche zwei Mal über Nacht weggeblieben. Lisa kannte es gar nicht anders. „Wo fährt deine Mama eigentlich immer hin, sonntags und donnerstags?“, fragte Charlotte. „Keine Ahnung. Irgendwas mit Arbeit, sagen sie“, antwortete sie achselzuckend. „Ich dachte, deine Mama arbeitet in der Praxis mit?“ „Ja, aber nur am Dienstag und am Mittwoch. Wenn sie wegfährt, arbeitet sie irgendetwas anderes.“

Lisa hatte sich nie getraut, ihre Mutter zu fragen. Weder wo sie hinfuhr noch was sie dort tat. Es war einfach so. Punkt. Es schien sie nichts anzugehen und weder ihre Mutter noch ihr Vater hielten es für nötig, ihr reinen Wein einzuschenken. Wenn sie weg war, passte Tante Jojo auf sie auf. Zumindest als Philipp und sie klein waren. Als sie herausfand, dass Tante Jojo gar nicht ihre richtige Tante war, sondern ein Kindermädchen, das Papa dafür bezahlte, dass sie nett zu ihnen war, hatte sie furchtbar geweint. Denn sie fühlte sich betrogen. Warum sagten einem Erwachsene nie die Wahrheit?

Dann hatte eines Nachts ihr Handy geklingelt. Ihr Vater sei aufgewacht, sagte eine Pflegerin mit müder Stimme, aber sie solle sich keine allzu großen Hoffnungen machen. War das ihr Ernst? Er war wach geworden, aber sie sollte nicht hoffen? Der wichtigste Schritt war doch geschafft! Er war wach! Nun würde alles wieder gut werden. Sie sollte sich irren. Ja, er war wach, aber das war kein Fortschritt. Im Grunde ist es jetzt noch viel schlimmer als vorher, wurde ihr bewusst, und sie schämte sich für diesen Gedanken.

Als er noch im Koma lag, hatte sie sich vorstellen können, wie es wäre, wenn er wieder zu sich käme. „Na, meine Große, habe ich lange geschlafen?“, würde er sie fragen, seine Bettdecke ein wenig anheben und sie bitten sich an ihn zu kuscheln. „Ich muss erst in einer halben Stunde los, und ich habe kalte Füße, rette mich, Lisa!“ Genau so würde es sein, wenn er aufgewacht war. So oft hatte sie es sich ausgemalt. Genauso wie vorher würde es sein. Wie auch sonst? Aber nichts war so wie vorher. Und das würde es nie wieder sein.

Er konnte nicht allein atmen, er konnte nichts spüren, er konnte sich nicht bewegen. Deshalb sagte er weder ‚Hallo, mein Schatz‘ zu ihr noch strich er ihr übers Haar. Ja, als er noch im Koma lag, konnte sie seinen Anblick ertragen, auch wenn er schrecklich war. So klein und vor allem so fremd lag er da. Aber sie konnte es ertragen.

Das war doch verständlich gewesen. Schließlich war er Komapatient, und da lag man nun einmal so da. Mit all den Schläuchen und piepsenden Geräten. Aber jetzt war er doch gar kein Komapatient mehr. Jetzt war er aufgewacht. Jetzt war er wieder ihr Vater. Ihr Idol. Ihr Held. Der Mensch, der immer zu ihr hielt.

Wie hatte sie nur so naiv sein können? Die Ärzte machten Tests und Untersuchungen, brachten ihn dazu wieder selbst zu atmen, aber auch als dieser eine Schlauch aus seinem Rachen entfernt worden war, blieben genügend andere, die das Lebewesen fest im Griff behielten, das einst ihr Vater gewesen war.

„Du kannst nichts für ihn tun, Lisa“, hatte ihre Mutter gesagt, „flieg‘ nach Hause, deine Familie braucht dich.“ Und so nahm sie von all den Wochen am Bett ihres schwer verletzten Vaters ein einziges Wort mit nach Boston: irreversibel. Nie wieder würde er aufstehen.


Der Weg zurück

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