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Wauers Hochzeit mit Sibylle Schiller fand im Wonnemonat Mai jenes denkwürdigen Jahres statt. Es war in jeder Hinsicht ein perfekter, warmer Frühlingstag gewesen. So jedenfalls gab es Wauers Gedächtnis wider.

Ihre Trauung hatte am Vormittag des 20. Mai, einem Sonnabend, im Rathaus Berlin-Weißensee stattgefunden. Mittagessen und Kaffee hatte Wauer in einer Gaststätte am Fennpfuhl bestellt, nur wenige Schritte von der kleinen, versteckten Kirche entfernt, in deren Gemeinderäumen sie zusammen mit Alwin Ziel und den „Genossen“ des Wendeaufbruchs im September und Oktober 1989 eine Reihe von Versammlungen abgehalten hatten.

Am 8. April hatte er sein fünfzigstes Lebensjahr vollendet und das, so gut es ging, vor seinen Mitarbeiten und den Kreistagskollegen geheim gehalten. Er hatte damals weder Zeit noch wirklich Lust gehabt hatte, dieses „einschneidende“ Ereignis in einem größeren Rahmen zu begehen. Ein viel wichtigerer Grund war aber der, dass Sibylle ihm ein ganz besonderes Geheimnis anvertraut hatte...

Was für eine herrliche Braut war seine Sibylle an jenem sonnigen und warmen Wochenende gewesen! Mit ihren zweiundvierzig Jahren war sie vielleicht schon ein wenig über die Blüte ihres Lebens hinaus gewesen. Mit vierundzwanzig hatte sie ihren Sohn Christian bekommen. Das war in jener Zeit gewesen, als viele Menschen in der DDR gedacht hatten, es käme in Ostdeutschland so etwas wie ein demokratischer Sozialismus á la Alexander Dubcek auf, weil im Jahr 1976 Erich Honecker zum Staatsratsvorsitzenden ernannt worden war. Seitdem versuchte er, die sozialistische Lehre der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ im deutschen Vasallenstaat des Sowjetimperiums umzusetzen. Das hatte sich jedoch bald als eine weitere Illusion erwiesen.

Christian hatte ihre blauen Augen geerbt, seine Haare aber waren mittelblond. Sie dagegen hatte fast schwarze, zu einer Pagenfrisur geschnittene, Haare und dunkle, schmalgeschwungene Augenbrauen. Ihre sehr schlanke Figur ließ sie mindestens zehn Jahre jünger wirken, fand Wauer. Sie war sportlich, joggte, fuhr Fahrrad und schwamm gern. Entsprechend sicher und geschmeidig waren ihre Bewegungen.

Ganz besonders deutlich hatte Wauer natürlich ihre Erscheinung an ihrem Hochzeitstag vor Augen: Ihr zartgelbes, knielanges Kleid, mit einem dunkelblauen Ledergürtel, und die blauen Rosen, die sie bei der Ansprache der Weißenseer Standesbeamtin fest in ihrem Arm hielt. So bescheiden und sparsam sie ansonsten war, was Stilfragen betraf, war sie sehr eigen und ließ sich das manchmal auch etwas mehr kosten. Sie hatte blaue Rosen verlangt und Wauer hatte ein paar Sekunden gebraucht, bis er es auf den Zünder gekriegt hatte. Er hatte natürlich rote Rosen im Visier. Doch Wauer hatte wie sie einen Sohn, der zu der Zeit vierundzwanzig Jahre alt war. Sibylles Sohn war gerade achtzehn gworden. Wauer war geschieden und Sibylle lebte getrennt vom Vater ihres Sohnes. Angesichts dieser Tatsachen wären ein weißes Kleid und rote Rosen einfach Scheiße gewesen. Und sie wusste so etwas von vornherein, während Wauer bis zu derartigen Erkenntnissen einen Denkprozess benötigte. Und es gab in diesem schönen, neuen, wiedervereinigten Deutschland ja wirklich alles zu kaufen, sogar blaue Rosen!

Eigentlich, so dachte er heute, war diese Hochzeitsfeier mit den beiden großen Söhnen, Sibylles Schwester Christin und deren Tochter Claudia, ihrer Mutter und einigen Bekannten und Freunden - auch Thomas Deutscher war mit Frau Annemarie erschienen - und die darauffolgende einwöchige Reise nach Venedig, wohin denn sonst? - die schönsten und glücklichsten Tage seines Lebens nach dem Mauerfall gewesen. Danach begannen allenthalben, auch in seiner „Sachsenprojekt“, Entwicklungen, die den Optimismus der ersten Nachwendejahre immer mehr schrumpfen ließen.

Doch in jenem Jahr war er ausnahmslos glücklich gewesen und hatte gedacht, dass sie doch eine beneidenswerte Generation waren, welche ohne Krieg und ohne Hunger, mit sicheren Arbeitsverhältnissen, zahlreichen Reisen - vor 1990 vor allem in die „Karpatenländer“ - mit guten Büchern, viel Musik und mannigfaltigen Kulturerlebnissen, mit mancherlei Querelen mit Organen der DDR-Führung zwar, aber schließlich mit dem Glück der deutschen Wiedervereinigung, eine viel bessere und friedlichere Zeit durchlebt hatte, als ihre Eltern- und Großelterngenerationen. Auch viel wohlhabender als diese waren sie mittlerweile geworden!

Eine ganz besondere Zeit für ihn war Sibylles Schwangerschaft gewesen. Kurz vor seinem 50. Geburtstag hatte sie es ihm offenbart, als sie ihn an einem Wochenende in seiner Oberlausitzer Heimat überraschte. Es war für beide keine Frage gewesen, dass sie umgehend heiraten würden. Den winzigen Augenblick, in dem es in der Gegend seines Magens einen schmerzhaften Stich gegeben hatte, als sie es ihm mitteilte, dass sie schwanger war, hatte er schnell vergessen.

Denn die Erinnerung an das Weihnachtsfest 1981 war mit einem hochgeschossen: In jenen Tagen wollte Helga, seine damalige Geliebte, unbedingt, dass er ihr ein Kind zeugte und er hatte das stur abgelehnt. Darum hatte sie sich unverzüglich von ihm getrennt. Dabei waren sie beide noch jung gewesen und hätten auch kaum irgendwelche materiellen Probleme bekommen. Doch Wauer hatte damals seine politischen Alpträume gehabt. Und deshalb wollte er keinesfalls Kinder in diese Welt setzen. Verglichen dazu waren er und Sibylle im Jahr 1995 um einiges älter und erfahrener gewesen. Damals war ihnen die Zukunft rosig und ohne unüberwindbare Probleme erschienen.

Wauer hoffte von Anfang an, dass dieses Kind eine Tochter werden würde. Für ihn schien alles nochmal von vorn anzufangen. Er hatte die neue Situation dennoch keineswegs als eine Einschränkung seiner Freiheit empfunden, wie bei Lothar. Er hatte sich auf dieses Kind ohne Einschränkungen gefreut, auch wenn ihm klar war, dass er ihm ein „alter Vater“ sein würde. Und auch die Mutter war nicht mehr die Jüngste! Aber, so dachte er damals und so dachte er auch noch heute: War es nicht der größte Liebesbeweis einer Frau, wenn sie mit dem Mann ihrer Wahl all die Umstände und Schmerzen auf sich nahm, die damit verbunden waren, ein Kind auf die Welt zu bringen und großzuziehen?

Ihre Tochter Maren wurde am 15. November 1995 geboren.

Soeben hatte Diana, Prinzessin von Wales, ihre endgültige Trennung vom alternden Kronprinzen Charles und damit auch vom englischen Königshaus erklärt. Mit ihrer Liaison mit dem ägyptischen Geschäftsmann Dodi Al-Fayed hatte sie offenbar auf eine Befreiung von den Zwängen des königlich-britischen Establishments gehofft. Später starben beide zusammen bei einem mysteriösen Autounfall in London.

Die Villa in Großschönau war mittlerweile soweit instand gesetzt, dass Wauers neue Familie zu Weihnachten einziehen konnte. Die endgültige Übersiedelung von Sibylle, Christian und Baby Maren fand am Sonnabend vor dem vierten Advent statt. Vielleicht war das der zweitschönste Tag Wauers nach der Wende gewesen. Heute wusste er das nicht mehr so genau. Denn er fand rückblickend eigentlich jeden Tag in den achtzehn Jahren bis zu ihrem verfluchten Tod wunderbar. Besonders aber eben die Monate ihrer Schwangerschaft!

Es war ein riesiger Vorteil gewesen, dass Sibylle während dieser Zeit zusammen mit ihrer Schwester und den Kindern in der Wohngemeinschaft am Friedrichshain leben konnte. Christian war gerade mit den Prüfungen für sein Abitur beschäftigt und fand dort die nötige Ruhe und Konzentration. Die Schwangere wurde von ihrer Schwester versorgt und nach Strich und Faden verwöhnt. Wauer hingegen hatte mit seinen diversen politischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen und seinem Betrieb stets wahnsinnig viel um die Ohren, so dass er meistens erst spät in der Nacht nachhause in seine Großschönauer Villa heimkehrte, die diese ganze Zeit über eine unruhige Baustelle darstellte. Deshalb sahen sich die Liebenden nur an den Wochenenden, doch auch dies nicht regelmäßig.

Glücklicherweise waren die Kommunikationsmedien in den „Neuen Bundesländern“ inzwischen auf einen befriedigenderen Stand gebracht worden, so dass sie fast jeden Tag miteinander telefonieren konnten. Wauer hatte sich zudem ein schnelles Sportauto der Marke „Audi“ zugelegt, mit dem er auf der im Rahmen des gigantischen Aufbauwerkes „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit“ kürzlich freigegebenen, nagelneuen „Spreewaldautobahn“ von Berlin nach Cottbus die deutsche Hauptstadt in knapp drei Stunden erreichen konnte. Oft war er freitags spätabends noch losgefahren, um zu seiner geliebten Schwangeren zu kommen.

Es war „seine“ dritte Schwangerschaft, doch darüber schwieg er selbstverständlich, wenn er in Berlin war. Aber er konnte nicht ganz verhindern, dass er bei der Betrachtung ihrer beachtlichen Rundungen gelegentlich an die verrückte Zeit mit Helga dachte, die ihn bis zu ihrer Entbindung als geradezu sexsüchtige Schwangere regelmäßig seiner Wohnung in der Libauer Straße, nahe des S-Bahnhofs Warschauer Straße, besucht und es dort ziemlich wild mit ihm getrieben hatte. Es war damals freilich nicht sein Kind gewesen, mit dem sie schwanger ging. Während der Zeit ihrer Trennung hatte sie ihren Kopf durchgesetzt und sich von ihrem Mann schwängern lassen. Als er dann sein Vorhaben, nach dem Westen abzuhauen, an jenem denkwürdigen Budapester Abend aufgegeben und sich gleich nach seiner Rückkehr bei ihr meldete, hatte er diese verrückten Monate mit ihr erlebt. Seither liebte er schwangere Frauen außerordentlich und wurde immer ganz unruhig, wo auch immer er eine sah.

Im neuen Gesamtdeutschland verlief sogar eine Schwangerschaft ganz anders, als in den so genannten sozialistischen Zeiten. Die Krankenhäuser waren mit neuartigen, komfortablen Geburtsabteilungen ausgestattet, welche die Frauen, die ein Kind erwarteten, vorher besichtigen konnten, um sich auszusuchen, auf welche Weise sie es zur Welt bringen wollten. Möglich war das auf einem ganz normalen, jedoch vielfach verstell- und anpassbaren Geburtsstuhl, aber auch unter Wasser in einem Geburtsbecken, auf einem Ringhocker oder an einer Sprossenwand; hängend, liegend oder hockend, je nachdem, wie es der Gebärenden am angenehmsten war.

Wie anders hatte ihm das seine erste Frau Barbara von der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Lothar berichtet. Damals, 1972, lagen gleich mehrere niedergekommene Frauen in einem Raum, nur durch spanische Wände voneinander getrennt. Lediglich zum eigentlichen Geburtsakt wurden sie dann in den Kreißsaal geholt und auf den berüchtigten „Pflaumenbaum“ gelegt. Und die Kindesväter wurden an der Kliniktür kurz angebunden abgewiesen und nach Hause geschickt. Dennoch, oder vielleicht deswegen, konnte die DDR eine der niedrigsten Sterblichkeitsraten bei Säuglingen nachweisen.

An der Geburt seines zweiten Kindes wollte Wauer aber unbedingt teilnehmen. Er hatte Sibylle darum gebeten und sie hatte ohne weitere Diskussionen zugesagt. Wie gerne wäre er auch früher schon dabeigewesen, bei Lothar oder sogar bei seiner „Hexe“ Helga. Wie gut aber, dachte er rückblickend, dass alles genau so gekommen war, wie es gekommen war.

Bereits im April war eine Chorionzottenbiopsie durchgeführt worden; nunmehr medizinische Routine bei Schwangeren über fünfunddreißig Jahre. Alles war gut gewesen. Auf die im Mai angebotene Fruchtwasseruntersuchung und einen Triple-Test hatte Sibylle jedoch verzichtet. Sie hatten sich natürlich beide belesen, welche Risiken für „ältere“ Ehepaare bei der Kinderzeugung bestanden. Gerade bei ihm, dem Nochkriegsgeborenen, der als Kind und Jugendlicher in einer Atmosphäre von mehr als weltweit tausend überirdischen Atombombenversuchen aufgewachsen war, bestand die Gefahr der Schädigung der Fortpflanzungschromosomen in besonderem Maße. Dennoch hatte er Sibylles Entscheidung unterstützt, während der Schwangerschaft nichts über Erbkrankheiten, Chromosomenstörungen, Fehlbildungen oder ein Down-Syndrom ihres Kindes wissen zu wollen.

Sie hatten auch eine Weile gezögert, sich das Geschlecht ihres künftigen Ablegers mitteilen zu lassen. Schließlich fanden sie es im Hinblick auf alle notwendigen Vorbereitungen dann doch vernünftiger, Bescheid zu wissen. Die Ultraschallbilder, die regelmäßig erstellt wurden, waren inzwischen so hochauflösend, dass eine diesbezügliche Vorhersage bereits nach der zweiten Pflichtuntersuchung keinerlei Problem mehr darstellte. Zur Vorbereitung seiner Teilnahme an der Entbindung musste Wauer nun auch an einem Geburtslehrgang für die werdenden Mütter und Väter teilnehmen. Dabei war er der Älteste gewesen. Nur noch einer der teilnehmenden Männer war um die Vierzig. Aber Wauer war es inzwischen egal, zumal die westdeutsche Regenbogenpresse immer wieder darüber berichtete, warum und auf welche Weise prominente Männer in fortgeschrittenem Alter Kinder gezeugt hatten und stolze Väter geworden waren. Einige von ihnen kannte Wauer sogar noch aus seiner Bonner und Berliner Parlamentszeit persönlich.

Der Anruf, dass es endlich soweit war, erreichte ihn während einer Sitzung des Bauausschusses, welcher an diesem Abend im schönen Neorennaissancebau des Zittauer Rathauses stattfand. Der Zittauer Carl August Schramm, ein Schüler des Preußen Friedrich Schinkel, hatte es nach den 1833 von Schinkel erstellten Entwürfen im Auftrag des Zittauer Rates ebenso wie die im Siebenjährigen Krieg zerstörte Johanniskirche wieder aufgebaut. Sibylles Schwester Christin war am Apparat gewesen. Wauer war froh, dass er an diesem Abend noch in der Kreisstadt geweilt hatte, und sich nicht bereits zuhause in Großschönau befand.

Er verließ die Sitzung unverzüglich, nachdem er seinem Skatbruder und Kreisratskollegen Heyer sowie dem Vorsitzenden den Grund für seinen hastigen Aufbruch mitgeteilt hatte. Kurz vor 22 Uhr erreichte er Berlin. Die Schwestern warteten bereits auf den Krankentransport. Wauer hatte einen neuen Rekord aufgestellt, indem er es vom Zittauer Rathaus in die Strausberger Straße in Berlin Friedrichshain in zwei Stunden und 25 Minuten schaffte. Das verdankte er dem „Aufbau Ost“ und der Tatsache, dass an diesem Dienstagabend sowohl auf der B 115 nach Forst wie auf der neuen „Spreewaldautobahn“ nur wenige PKW und LKW unterwegs gewesen waren.

Kaum hatte er Sibylle das Begrüßungsküsschen verabreicht, klingelte der Krankentransporter, der auch Sibylles Tasche mitnahm. Wauer fuhr die kurze Strecke zum Friedrichshainer Krankenhaus gemeinsam mit Christin hinterher. In den zweiten Stock zur Entbindungsstation gelangten alle gemeinsam mit dem Aufzug. Nur während der Aufnahmeformalitäten und der Einweisung Sibylles in ihr Zimmer wurden sie für ein paar Minuten getrennt.

Während die Zeitabstände zwischen den Wehen immer kürzer wurden, machten die Schwestern noch einmal eine Ultraschallaufnahme und Wauer und Christin konnten zusammen mit der Niederkommenden das ihnen auf dem Bildschirm riesig vorkommende Kind betrachten, das nun mit Macht in diese Welt drängte.

Dann erschien die ihnen bereits aus den Geburtslehrgängen bekannte Hebamme und erläuterte dem Paar noch einmal die adäquaten Verhaltensweisen für den optimalen Ablauf der Geburt. Sibylle wurde gefragt, ob sie noch einmal ein schönes warmes Bad wünsche. Davon erhoffte sie sich, inzwischen ziemlich regelmäßig von krampfartig schmerzhaften Wehen heimgesucht, offenbar einige Linderung. Wauer auf der einen und Christin auf der anderen Seite der Wanne hielten Sibylles Hände. Mittlerweile zeigte die Uhr zwei. Es war nun bereits der 15. November, ein Mittwoch.

Sie erfuhren, dass zur gleichen Zeit noch zwei weitere Geburten vorbereitet wurden, bemerkten aber nichts weiter davon. Nur die Hebamme war anscheinend schwer beschäftigt, kam jedoch noch einmal kurz nachsehen und empfahl, dass die Gebärende lieber noch einmal aufstehen und so lange wie möglich herumlaufen sollte, bis sich der Muttermund signifikant geöffnet habe und der Fruchtblasensprung bevorstehe. Sibylle gehorchte, und einen etwas großen, weißen Bademantel des Krankenhauses um sich geschlungen, wanderten die Drei eine Weile den Korridor der Entbindungsstation auf und ab.

Wauers Herz schlug bis zum Hals und Sibylle stöhnte jetzt laut bei jedem neuen Wehenschub. Schließlich war es endlich soweit. Die Fruchtblase war offenbar aufgegangen, denn eine gelbliche Flüssigkeit war an Sibylles Schenkeln heruntergelaufen. Wauer und Christin gerieten in helle Aufregung, während die herbeigerufene Hebamme ganz gelassen blieb. Sibylle hingegen schien offenbar schon in einer anderen Welt zu weilen.

Ins Geburtszimmer durfte nur noch Wauer mit, der zu diesem Zweck einen grünen Kittel übergestreift bekam, nachdem er sich gründlich die Hände gewaschen hatte. Er war plötzlich ganz ruhig geworden. Diesen Zustand kannte er von seiner Armeezeit her. Immer in brenzligen Situationen überkam ihn seither eine kalte Ruhe, als ob jemand seine Emotionen und seinen Stoffwechsel von außen steuernd herunterfahren würde. So war es auch jetzt, während er gleichzeitig erstaunt beobachtete, welch verdammtes Arschaufreißen für eine Frau eine Geburt tatsächlich bedeutete.

Ja doch! - Es waren schon mehrere Milliarden auf diesem Erdball geboren worden, dachte er. Und außer dem in Mode kommenden Kaiserschnitt gab es derzeit keine andere schmerzfreie Methode, einen Ableger auf diese Welt zu bringen. Dennoch, und obwohl sich Wauer das vor Augen hielt, war die Geburtsstunde seiner Tochter Maren eines der einschneidendsten Erlebnisse seines Lebens, und jedes Mal, wenn er in seinem weiteren Dasein seiner Tochter begegnete, stand dieser Moment, als er sie als winziges, schleimiges und blutiges Bündel zum ersten Mal in seinen Händen hielt, vor seinem geistigen Auge.

Anfangs hatte er nur Sibylles Hand gehalten, während sie versuchte, die vortrainierten Atemübungen zu absolvieren. Dann, als das erfahrene Auge der Hebamme gesehen hatte, dass es wirklich ernst wurde, widmete sie sich voll und ganz der Gebärenden. Sie hatte eben noch kurz telefoniert und durchgegeben, dass der diensthabende Arzt „oben“ bleiben könne, da hier alles normal verlaufe. Das fand Wauer nun überhaupt nicht! Aber die Hebamme „couchte“ Sibylle beim Endspurt des Geburtsvorganges wie ein erfahrener Trainer, indem sie sie mehrmals regelrecht anschrie und forderte: „Atmen - pressen - atmen - pressen - atmen - pressen!“

Dann befahl sie Wauer: „Los Martin, helfen Sie mal!“ Dabei nahm sie sein Handgelenk als ein Gegenlager, legte ihren Unterarm wie eine Rolle auf den hohen Leib der Gebärenden und drückte ihn mit voller Kraft von oben nach unten durch. Auch Wauer befand sich während dieser Gewaltprozedur im „Urmodus“. Und dann lächelte die Hebamme:. „Sehen Sie, da ist sie schon!“ Mit beiden Händen hatte sie das schwarz beflaumte Köpfchen ergriffen und das gesamte Baby mit einer geschickten Drehung in die Welt befördert.

„Na, nun kommen Sie, Martin. Herzliche Gratulation! Ein ganz wunderbares Töchterchen. Warten sie noch einen kleinen Moment, bevor sie die Nabelschnur durchtrennen. Inzwischen können Sie schon mal ihrer Frau gratulieren. Sie ist eine Heldin!“

Das empfand Wauer ehrlichen Herzens ebenfalls. Natürlich sagte die Hebamme so etwas jedem Paar nach einer erfolgreichen Entbindung. Dennoch war es wahr und richtig! Nach einigen Minuten gab sie ihm die Schere und Wauer vollzog diesen notwendigen, aber deshalb nicht minder symbolträchtigen Schnitt. Dann nahm der das mit einem sterilen Tuch umwickelte Menschlein und zeigte es seiner Liebsten, die bereits wieder voll aufnahmefähig schien. Sie legte es ein paar Sekunden an ihre Brust und begrüßte mit einigen für Wauer unverständlichen Worten ihre Tochter.

„Sie können jetzt ihr Baby säubern und waschen. Was jetzt noch kommt, müssen Sie nicht unbedingt sehen“, befahl die Hebamme und Wauer tat, wie ihm geheißen und wie er es im Lehrgang hatte üben müssen. „Keine Angst, das Baby ist stabil, das hält was aus.“ In diesem Moment gab das Kind die ersten Laute von sich und fing alsbald zu schreien an.

Es war geschafft! Die Uhr zeigte kurz vor drei.

Westdämmerung

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