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„Habt ihr in der Volkskammer oder im Bundestag je herausbekommen können, wer Rohwedder wirklich erschossen hat?“

Wauer sah Thomas wie elektrisiert an.

„Wieso? Zweifelst du an der offiziellen Darstellung unserer unabhängigen Rechtspflegeorgane?“

„Ja, ein bisschen schon . Was sollte die RAF denn für ein Motiv gehabt haben? Schließlich war er, nach allem was ich während der Wende von ihm gelesen habe, ziemlich anders als die üblichen Großmanager des Kapitals, wie zum Beispiel der damalige Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, den die RAF 1977 ermordet hat; oder auch als der Generalbundesanwalt Buback. Kanntest du Rohwedder näher? Schließlich hat ihn doch eure Volkskammer in das Amt des Treuhandchefs gehievt?!“

„Das war nicht ‚unsere Volkskammer‘ gewesen, sondern der Ministerrat der Noch-DDR unter Modrow im Juli 1990. Ich habe ihn ein paarmal in irgendwelchen Sitzungen gesehen bzw. reden hören. Persönlich kannte ich ihn jedoch nicht. Ich weiß nur, dass er kurz vor der Machtergreifung der Nazis in Gotha, also im damaligen Mitteldeutschland, geboren wurde und auch mal Vorstandschef der Hoesch-AG gewesen ist. In den siebziger Jahren war er wohl Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Helmut Schmidt, ich glaube, sogar noch unter Graf Lambsdorff.“

Martin Wauer nippte an seinem Bier. Sie hatten sich eine Woche nach der Beerdigung seiner Mutter an einem Sonnabend im Biergarten in der Weinau getroffen. Thomas Deutscher hatte wohl bemerkt, dass es dem Freund nicht gut ging und ihn zu einem nachmittäglichen Miteinander ermuntert. Reden war immer gut, dass wusste auch Wauer, der durch seine Arbeit auch weiterhin übermäßig in Anspruch genommen war und kaum Zeit hatte, seine Freundschaften ausreichend zu pflegen. Hinzu kam, dass er möglichst schnell den Haushalt seiner Mutter auflösen musste.

In Großschönau hatte er kurz entschlossen eine der halb verfallenen, aber schönen, aus der Gründerzeit stammenden, Fabrikantenvillen erworben und begonnen, diese zu sanieren und zu modernisieren. Das tat er nicht nur, um mit seiner neuen Familie „standesgemäß“ wohnen zu können, sondern auch, um alles unterzubringen, was er nach Mutters Tod von den Eltern geerbt hatte, darunter einige schöne alte Möbel, aber vor allem eine Menge interessanter Bücher seines Vaters.

Es war ein schöner, sonniger Frühherbsttag. Die Bäume in der Weinau begannen bereits, ihr buntes Herbstkleid anzulegen. Zurzeit leuchteten die Blätter überwiegend gelb in der wärmenden Sonne. Sobald man jedoch in den Schatten geriet, dauerte es nicht lange und man begann zu frösteln.

„Die Sache nahm ja schon mit dem Staatsvertrag über die ‚Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion‘ und dann nochmal mit dem Einigungsvertrag eine ganz andere Wendung, als wir Ossies in der SPD-Fraktion es uns gewünscht hatten. Wir wollten, dass die Treuhandanstalten nach dem Subsidiaritätsprinzip den Landesregierungen der so genannten neuen Bundesländer zugeordnet werden. Das hätte dem Privatisierungsprozess vielleicht eine andere, regionalere Richtung gegeben.“

„Und warum habt ihr das nicht durchgesetzt?“

Wauer lächelte den Freund müde an: „Erstens bekamen wir nicht einmal eine Mehrheit innerhalb der Fraktion zustande. Und dann waren wir ja auch noch die Minderheit in der Koalition mit der CDU. Außerdem war die Übergangs-DDR trotz der westdeutschen Transferleistungen so gut wie pleite und der totale Zahlungsausfall stand bevor. Nach den Wahlen, in der kurzen Periode, die wir ‚Übernommenen‘ dann in Bonn waren, wurde die Treuhand dem Finanzministerium zugeordnet und bekam lediglich Dependancen in den fünf Ostländern. Was sich jetzt zum Beispiel in der Leipziger Niederlassung mit den sächsischen Betrieben abspielt, hast du ja sicherlich in den Zeitungen gelesen.“

„Na ja, das war bei diesem Umbruch nicht anders zu erwarten. Dennoch frage ich mich, wieso ausgerechnet die RAF, die ja nur noch ganz unbedeutende aktive Resttruppen hatte, den Rohwedder umgelegt haben soll. Sie haben sogar noch auf seine Frau geschossen. Für mich ergibt das gar keinen Sinn! Er war doch eigentlich einer, der gegen die allgemeine Tendenz des Plattmachens der ostdeutschen Kernindustrie angegangen ist. Seine Hervorhebung der sozialen Verantwortung des westdeutschen Staates beim ‚Anschluss‘ kam jedenfalls beim Großkapital nicht so besonders gut an. Insofern war er für die RAF überhaupt nicht das richtige Ziel! Da fallen einem doch viel signifikantere Leute ein, die in deren Visier gepasst haben könnten.“

„Auf seiner letzten USA-Reise, auf der er potentielle Investoren für den Osten informieren und gewinnen wollte, erregten seine sozialverträglichen Anschauungen auch nicht gerade nur Zustimmung, da hast du schon Recht. Die merkwürdig eindeutigen Hinterlassenschaften der Attentäter, Bekennerbrief, Handtuch, Patronenhülsen und so weiter, müssen einen jedenfalls verwundern. Es gab schließlich ganz andere ‚interessierte Kreise‘, denen der Tod Karsten Rohwedders Vorteile brachte. Selbst bestimmte Gruppierungen der aufgelösten Stasi könnten in Frage kommen. Das wird zu unseren Lebzeiten wohl niemals ans Tageslicht gelangen. Außerdem: Nicht Rohwedder, sondern Leute wie Horst Köhler und der SPD-Finanzexperte Tilo Sarrazin, mit ihren Vorbereitungen zur schnellen D-Mark-Einführung, sind für mich die eigentlichen Helfer des Sterbens der DDR-Industrie. Andererseits gab es dazu vielleicht tatsächlich keine Alternative. Denn die Ostdeutschen wollten reisen und Bananen essen. Andernfalls wären aber schließlich alle ‚rübergemacht‘.“

Der Freund grinste. „Für mich sieht es unzweifelhaft wie ‚Sterbehilfe‘ aus, vor allem für unser Gesundheits- und Sozialsystem. Vielleicht am Ende sogar für das bestehende westdeutsche.“

Wauer sog scharf die kühle Herbstluft ein und nahm einen weiteren Schluck, ehe er antwortete: „Das ist wieder eine deiner pessimistischen Interpretationen. Ist übrigens das erste Mal, dass ich dich unser DDR-Gesundheitssystem loben höre. Ich kann nur sagen, dass ich die neuen Freiheiten wunderbar finde und mich noch deutlich und sehr ungern an meine Albträume in der DDR-Zeit erinnere. - Aber mir wird kalt, wir sollten jetzt lieber reingehen.“

„Ich lobe es nicht, auch wenn das westdeutsche gänzlich anders ist und ich Mühe habe, mich da zu assimilieren. Es ist einfach schrecklich, wie wir jetzt von Beratern und Vertretern der internationalen Pharma-, Versicherungs- und Gesundheitsindustrie förmlich überrannt werden. Und es ist beängstigend zu sehen, wie die das Heft in die Hand nehmen. Und sollte diese Tendenz zunehmen, wird es in Deutschland bald so werden wie in den USA. Dann können wir uns alle auf etwas gefasst machen.“

Westdämmerung

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