Читать книгу Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze - Страница 5
3.
ОглавлениеAn jenem Tag hatten sie es der „Sippe“ zu erklären versucht und den Eindruck gewonnen, dass die Verwandten auch verstanden hatten, dass die beiden „Ältesten“ nach der Begräbnisfeier und dem Kaffeetrinken in der „Sonnebergbaude“ noch einen Spaziergang allein miteinander brauchten. Auch Lothar hatte nach einem kurzen, erstaunten Blick davon abgesehen zu fragen, ob er mitkönne, nachdem er bemerkt hatte, dass die beiden Cousins alleine auf den Berg wollten.
„Wir sind spätestens halb acht wieder hier. Ihr könntet ja mal auf den Sonneberg hinaufgehen, das macht man sonst ja nie und es ist für die Frauen nicht so schwer. Bittet den Wirt, das Abendessen etwas später zu servieren. Und kümmere dich um deine Mutter!“
Der Sohn hatte genickt. Er war der Einzige gewesen, der am Grab der Großmutter geweint hatte. Er sah immer noch tieftraurig aus.
Von der Gaststätte, in der Wauer Kaffee und Abendbrot für die Trauergemeinde bestellt hatte, bis hinauf zur Hubertusbaude am oberen Ende des Skihanges, benötigten sie nur fünfzehn Minuten. Von da ab stieg der nördliche Weg auf der deutschen Seite bis zum Gipfel allmählich immer mehr an, bis er hinter der Abzweigung des Wanderweges zum Weberberg in zwei größeren Kehren richtig steil nach oben führte.
Das Wetter war klar gewesen und die Luft kühl. Es wanderte sich hervorragend an diesem schönen Herbstnachmittag. Die bereits tiefer stehende Sonne beschien allerdings die andere, tschechische Seite des Berges. Den kühlen Schatten des Nordaufstiegs empfanden sie jedoch als sehr angenehm. Wauer freute sich auf den Rundblick über das Oberlausitzer und Böhmische Land, denn der Tagesausgang verhieß eine gute Fernsicht.
„Sie war die Letzte von den Alten, die den Krieg noch mitgemacht haben“, hatte Robert nach einer Weile geäußert. Wauer bemerkte, dass der nur wenige Monate Jüngere eine deutlich bessere Kondition hatte als er. Das kam sicherlich daher, dass der Vetter mit Frau und Kindern an den Wochenenden von München aus oft in die nahen Alpen zum Wandern fuhr.
„Ich weiß nicht mal mehr, wann deine Eltern gestorben sind.“
„Na, müssen wir uns ja auch nicht merken. Renate weiß so etwas dagegen immer. Sie hat alle diesbezüglichen Daten im Kopf, Geburtstage, Sterbetage, Hochzeitstage, alles. Jedenfalls starb unsere Mutter lange vor dem Mauerfall.“
Wauer wunderte sich, wie steinig ihm der Gipfelweg hinter der großen Abzweigung heute vorkam. So „alpin“ hatte er den Lauscheaufstieg gar nicht in Erinnerung. Das letzte Mal, als er den Berg besuchte, hatte ein knackiger und schneereicher Winter geherrscht. Diesmal war der Pfad trocken, steinig und hart. Die Pflanzen und Gräser, die ihn säumten, ebenso wie die Buchen, Fichten und Birken des Bergwaldes, strahlten immer noch im satten Grün. Nur ganz winzige Anzeichen des beginnenden Herbstes waren zu bemerken gewesen.
„Es ging alles wahnsinnig schnell.“
Wauer war sich nicht ganz sicher, was Robert meinte.
„Ja, es scheint mir noch, als wäre es erst gestern gewesen, als ihr uns kurz nach dem Mauerfall in Berlin besucht habt“, entgegnete er, angestrengt atmend, da die Kraxelei ihn ziemlich forderte.
„Das war so irre, das waren derart intensive Tage, das werde ich niemals vergessen.“
„Geht mir genauso. Als wäre man damals ganz neu auf die Welt gekommen.“
„Seid ihr ja auch, irgendwie jedenfalls. Außerdem scheinst du ja auch noch ein neues Glück gefunden zu haben.“
„Welches Glück?“ Wauer schnaufte. Diesmal nicht nur wegen der Anstrengungen des Aufstiegs.
„Nun ja. Es war doch alles richtig, wie du es gemacht hast. Ich meine, dass du dich damals in Budapest plötzlich entschieden hast, nicht mitzukommen und mich allein nach Österreich zurückgeschickt hast. Ich hab eine Weile gebraucht, es zu verdauen. Aber du hast in allem Recht behalten. Und nun auch diese wunderbare Frau.“
„Ich glaube, so war es nicht“, erwiderte Wauer, nachdem er eine Weile dazu geschwiegen hatte. Die Anspielung auf Sibylle ignorierte er lieber, denn plötzlich standen ihm die gemeinsamen Erlebnisse mit Helga bei jenem geheim geglaubten Treffen in Warschau, kurz nach den ersten Aufständen der Solidarnosz, vor Augen. Da hatten sie das erste Mal über die Möglichkeit einer Republikflucht Wauers über Ungarn gesprochen.
„Ich hab das ´81 voll aus dem Bauch heraus entschieden. Ich kann nicht sagen, was es wirklich war. Ich hab an Helga gedacht, an Lothar, an Barbara, an Mutter. Ich weiß es nicht. Es ahnte doch wirklich niemand, dass es nur noch acht Jahre dauern würde bis zum Mauerfall. Damals glaubten wir jedenfalls überhaupt nicht daran, dass ein friedlicher Weg gefunden werden könnte, die beiden so unterschiedlichen Teile Deutschlands wieder zusammenzuführen und die Wunden des Kalten Krieges irgendwie zu heilen. Vor allem waren wir überzeugt, dass es nur unter der Bedingung der völligen Neutralität Deutschlands geschehen könne. Und jetzt? Die Russen ziehen mit ihren Armeen aus Mitteldeutschland ab, der Warschauer Pakt wird aufgelöst, die Westalliierten aber bleiben und das gesamte Deutschland wird Mitglied der NATO. Ist das positiv? Jetzt redet man sogar davon, dass eventuell Russland NATO-Mitglied werden könnte. Was sind das denn für Träume?“
Wauer musste eine Weile stehen bleiben, denn sein Redefluss hatte ihn zu viel Luft gekostet.
„Aber es geht dir doch jetzt richtig gut, oder? Man hört ja neuerdings die schlimmsten Geschichten vom Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie und von der Massenarbeitslosigkeit eurer Braunkohle- und Textilarbeiter. Doch den Bausektor betrifft es ja wohl nicht.“
„Ja richtig, selbst hier in der Oberlausitz ist der Wiederaufbau bereits in vollem Gange. Es war doch alles schon halb verfallen und vollkommen marode hier. Vor allem die ganze Infrastruktur und ganz besonders die Straßen und Autobahnen. Dieser so genannte ‚Investitionsrückstau‘ ist wirklich gewaltig. Straßen-, Abwasser- und Eigenheimbau, das gesamte Bauwesen boomt jetzt unglaublich. Überall werden auch die heruntergekommenen öffentlichen Gebäude renoviert, restauriert und rekonstruiert, dass es eine Freude ist. Das alles ist ein Glücksfall für meine neue Firma und ich weiß mich vor Aufträgen gar nicht zu retten. Ich bin im Begriff, Einkommensmillionär zu werden. Und wenn wir gerade dabei sind: Wieviel schulde ich Dir überhaupt noch? Ich wäre, glaube ich, bald in der Lage, es Dir zurückzuzahlen.“
„Du schuldest mir überhaupt nichts. Schließlich haben wir im Westen unverdientermaßen vierzig Jahre in Freiheit und Wohlstand leben können, während ihr euch mit eurer merkwürdigen sozialistischen Planwirtschaft und den Reparationen an die Sowjetunion herumschlagen musstet. Ich denke, das war dann nur ein kleiner Solidaritätsbeitrag, den ich leisten konnte.“
„Na ja, ‚unverdienter Maßen‘ war es ja wohl in der Bundesrepublik für die arbeitenden Menschen auch nicht gerade. Die Schufterei nach dem Krieg war im Westen vor allem für die kleinen Leute horrende, wenn man den ganzen Wiederaufbau, angefangen bei der Trümmerbeseitigung bis zur Maloche in den Betrieben in Betracht zieht. Ich hab einige von Wallraffs Reportagen gelesen. Es ging ja auch nicht nur um ostdeutsche Städte, wie Dresden, Leipzig, Plauen, Chemnitz oder Berlin. Hamburg, Köln, Frankfurt am Main, Nürnberg, München und so weiter, haben die Alliierten genauso platt gemacht. Wir müssen also trotzdem nochmal darüber reden.“
„Nein, müssen wir nicht! Darüber sollten wir nie mehr reden! Es gibt Wichtigeres in diesen Tagen. Zum Beispiel diese merkwürdige Treuhandpolitik, die soviel Unruhe unter der ostdeutschen Bevölkerung verursacht“, meinte Robert nach einer kleinen Pause. „Denkst du wirklich, dass ihr jetzt das große Los gewonnen habt mit dieser Wiedervereinigung?“
„Ja, wegen der verdiene ich derzeit so gut, während tausende andere ihre Arbeit verlieren. Überall in den Kommunen errichten sie jetzt auf der grünen Wiese diese neuen Gewerbegebiete. Natürlich ist das ziemlicher Unsinn, denn es gibt eigentlich genug stillgelegte Fabrikviertel. Unser Gewerbe hier im Osten, Textilindustrie, Braunkohle, Waggonbau usw., bricht wegen der schnellen D-Mark-Einführung gerade völlig in sich zusammen. Aber weil es für Neuerschließungen so unglaublich viele ‚Fördermittel‘ gibt, reißen sich die Kommunen natürlich unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte darum, als förderwürdig zu gelten und die Zuschläge für die Gestaltung ihrer neuen ‚Gewerbegebiete‘ auf der grünen Wiese zu bekommen. Man staunt bloß, welche produktive Kraft dieses Gesamtdeutschland dabei entwickelt. Und was die Freiheiten betrifft, dagegen möchte ich weder die stalinschen noch die honeckerschen Zeiten wiederhaben.“
„Und welche Rolle spielst du jetzt in eurem Kreistag?“
„Na ja, ich kriege über die dortigen Bekanntschaften einen Teil der Planungsaufträge. Über diese Schiene kommen eben einige Leute auf mich zu, besonders Wohlhabende aus dem Westen, die aufgrund der Steuersparmodelle, die die Bonner Regierung aufgelegt hat, hier investieren wollen. Sie haben zum Beispiel in Görlitz ganze Straßenzüge aufgekauft und fangen an, sie von Grund auf zu sanieren, einschließlich aller Medien und der maroden Abwassersysteme. Auf diese Weise wird endlich unser Wohnungsproblem gelöst. Tiefbau war schon in ‚Schwarze Pumpe‘ mein Metier. Jetzt ist es eine einträgliche deutsch-deutsche Zusammenarbeit.“
„Ist doch prima oder?“
„Vielleicht ist das der wahre Grund, weswegen die Russen dem Abzug zugestimmt haben. Hier war fast alles Schrott und lag darnieder. Für sie war am Ende nichts mehr zu holen.“
Mittlerweile waren sie auf dem Gipfelplateau angekommen. Hier hatte sich seit Wauers letztem Besuch nichts verändert. Bis jetzt war glücklicherweise noch niemand auf den Gedanken gekommen, auf den Grundmauern der abgebrannten und inzwischen längst zerfallenen ehemaligen Lauschegaststätte eine neue Bergbaude zu errichten.
Wie Wauer es erwartet hatte, gab es eine wunderbar klare Rundsicht von diesem höchsten südöstlichen Gipfel der neuen gesamtdeutschen Republik. Ringsum lag das weite Land: Böhmen im Süden mit seinen vulkanischen Magmagipfeln, die ostsächsischen Berge im Norden, mit ihren bewaldeten Kämmen, die die Wasserscheiden des Oberlausitzer Landes der Flüsse zwischen Ostsee und Nordsee bildeten. Auf den Bergrücken im Osten dagegen waren die Verheerungen der Nadelwälder durch die Abgase der tschechischen Industrie unübersehbar. Es war kurz nach sechs und die Sonne stand tief und rot über den westlichen Bergkämmen. Die Dämmerung hatte sich angeschickt, die Nacht herbeizurufen.
Plötzlich lagen sich beiden Vettern in den Armen. Wauer wähnte, in den Augen Roberts Tränen gesehen zu haben. Auch er war sich der Einmaligkeit dieses Momentes bewusst gewesen: Dieser Punkt der Erde, an dem sie sich befanden, würde, wenn nicht ewig, aber doch noch sehr lange bestehen, während sie beide, die bereits über den Zenit ihres Lebens hinaus waren, mit etwas Glück vielleicht noch drei Jahrzehnte vor sich hatten. Es war ziemlich ungewiss, dass sie noch einmal zusammen hier oben stehen würden. Das hatten die beiden Männer damals instinktiv gefühlt.
„Man müsste in die Zukunft schauen können, dann könnte man vielleicht sinnvollere Entscheidungen treffen“, meinte Robert.
„Du weißt, dass das Mist wäre!“
„Ja, aber bei dir habe ich manchmal das Gefühl, dass du es kannst. Damals, bei unserem Treffen in Prag war es, glaube ich, hast du jedenfalls gemeint, dass es durchaus so weit kommen könne, dass die Russen an der Lösung der deutschen Frage einmal ein größeres Interesse bekämen. Am meisten hat mich der Satz beeindruckt, den du von deinem Vater zitiert hast: ‚Im Osten geht die Sonne auf und im Westen ist ihr Untergang vorbereitet‘.“
„Das hatte er angeblich von seinem Geschichtslehrer. Der hatte aber meines Erachtens China damit gemeint. Dass sie in Form von Glasnost und Perestrojka aufgehen würde, habe ich damals beim besten Willen nicht ahnen können. Nee, ich analysiere nur, möglichst ohne meine Wunschvorstellungen dominieren zu lassen. Da kommen manchmal merkwürdige Dinge heraus.“
Die beiden genossen ein Weile die weite Aussicht. Niemand außer ihnen war noch an diesem Nachmittag heraufgekommen.
„Denkst du nicht, dass der Untergang der Kernindustrie, besonders der Braunkohlenförderung, eure Heimat auf Jahrzehnte zu einer armen Region machen wird?“
„Das hat uns Oskar Lafontaine schon voriges Jahr in einigen Nachtdiskussionen eindringlich nahe gebracht. Aber das ist wohl unvermeidlich. Übrigens hält die Abwanderung jugendlicher, gut ausgebildeter Facharbeiter nach dem Westen auch nach der Vereinigung unvermindert an.“
Sie schwiegen wiederum eine Weile und beobachteten, wie die Sonne langsam hinter den westlichen Bergrücken verschwand. Es war ein außergewöhnlicher Sonnenuntergang! Schade nur, dass sie nicht öfters auf diesem Berggipfel weilen konnten.
„Ihr müsst aber nun unbedingt bald mal zu uns nach München kommen. Dann machen wir zusammen einen Ausflug nach Garmisch und auf die Zugspitze.“
Für Wauer klang das immer noch, als redeten sie von Gegenden in fernen Ländern.
„Wir sollten gut aufpassen, dass wir nicht auf die Schnauze fallen, wenn wir jetzt im Halbdunkeln hier wieder `runtersteigen“, mahnte er.
Sie begannen den Abstieg hinunter zur Baude am Sonneberg, in der ihre Lieben auf sie warteten. Sie liefen dicht hintereinander und schwiegen. Die Dämmerung war schnell hereingebrochen und sie mussten sich ganz auf den Weg konzentrieren, um einen Unfall zu vermeiden.