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4. Granitschädel

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„Feldspat, Quarz und Glimmer, die drei vergess’ ich nimmer.“ Diesen Merksatz über unser heimatliches Urgestein, den Granodiorit, mussten wir schon als Grundschüler im Heimatkundeunterricht lernen.

Die Geologen berichten uns, dass sich von jenseits des Ostufers der Elbe, von den Radebeuler Lößhängen, an denen die berühmten Meißner Weine gedeihen, bis weit nach Osten und ans Zittauer Gebirge heran, eine mehrfach geschichtete Granitplatte erstreckt, die das Fundament der Oberlausitz bildet. Bereits am Einfallstor zu dieser ostsächsischen Region, am Pass des Hochsteins, über den die Autobahn A 4 auf den Gefilden der „Unteren Straße“ der „Via Regia“ hinein in die Oberlausitz, das Budissiner Land, führt, kann man auf allen Berggipfeln bizarre granitene Felsformationen bewundern, die die letzte Eiszeit unberührt gelassen hat. Zahlreiche, meist verlassene Trichter- und Stufensteinbrüche, viele bereits im Mittelalter begonnen, markieren das einstige slawische „Milzenerland“ und die spätere böhmische Provinz jenseits der Elbe bis zur Neiße.

Wer jemals solch einen Steinbruch etwas ausführlicher besichtigt hat, kann den archaischen Eindruck menschlicher Arbeitsqual, den eine solche Anlage vermittelt, nicht mehr vergessen: Seit Jahrhunderten schlagen Steinbrecher, Steinhauer und Steinmetzen tagein, tagaus den Lausitzer Granit, diesen überwiegend grauen, grobkristallinen Granodiodorit, aus der Lausitzer Platte heraus und formen ihn anschließend zu Quadern, großen und kleineren Pflastersteinen, Simsen, Stufen, Trägern, Trögen und Säulen, oder gar zu verschiedensten künstlerischen Skulpturen, wie es die zahlreichen in- und ausländischen Auftraggeber wünschen. Kälte und Hitze, Regen und Sturm, Staub und Lärm, brütenden Sommern und eisigen Wintern trotzend, hockten die Tagelöhner bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts unter den nach vorn offenen Schuppen mit ihren ausladenden Schleppdächern, arbeiteten sich, nur kargen Lohn empfangend, bis zur Erschöpfung und ohne ausreichenden Schutz vor dem tödlichen Siliziumstaub ab, damit der begehrte, extraharte Stein in alle Welt exportiert werden konnte. Diese erbarmungslose Arbeitstradition, die in den Sandsteinbrüchen des Neujonsdorfer Rabengebirges ihre Entsprechung fand, schmiedete in den Jahrhunderten einen Menschenschlag, der als „Oberlausitzer Granitschädel“ in das ethnologische Schrifttum Eingang gefunden hat. Neben dem Granit sind es noch die Umgebindehäuser und der eigentümliche, das „R“ im Gaumen rollende, Dialekt mit seinen vielen, teilweise vollkommen fremdländisch klingenden Begriffen, der diesen Landstrich im Besonderen prägt.

Außer den Steinbrechern und den mit ihnen verbundenen Handwerkern waren es im späten Mittelalter die Bauern, die der Ackerkrume des Ostens, welche die Granitplatte bedeckt, ihre Früchte abtrotzten. Und da außer Getreide und Kartoffeln hier auch der Lein gedieh, begannen sie mit ihren Frauen und Mägden in den langen Wintern mit der Oberlausitzer Leineweberei, dem eigentlichen späteren gewerblichen Markenkern der Region. In Jonsdorf und in Großschönau kann man in liebevoll hergerichteten Museen vieles über die Entwicklung dieses Industriezweiges und des Leinwandstoffes lernen.

Peter I. entstammt einem solchen Geschlecht. Er war im Frühjahr 1982, ein Jahr nach ihrer Heirat, zusammen mit seiner Frau Sonnhild nach Niederjonsdorf in das Haus auf der „Huchtswiese“ eingezogen.

Am 11. Juni 1957 war er als Sohn des Schlossers Joachim Reinhard I. und dessen Ehefrau Elfriede in der damals noch existierenden Geburtsklinik in Großschönau geboren worden. Er war das zweitälteste Kind der Familie, aber der einzige Junge. Zusammen mit seinen drei Schwestern und seinen Eltern verbrachte er seine Kindheit auf dem großen Vierseithof seiner Großeltern Max und Anna I. des schönen Oberlausitzer ehemaligen Waldhufendorfes Bertsdorf. Die Fluren des Ortes reichten südwärts bis hinauf zur „Colonie Hänisch Mühe“ und ostwärts bis hinunter zur inzwischen eingemeindeten Hörnitz. Die hofeigenen Felder befanden sich unterhalb des Breiteberges.

Von klein auf wurden die Kinder in die Arbeit auf dem Hof mit einbezogen. Der Junge sah seinem Vater oft bei den ständig anfallenden Schlosserarbeiten an den landwirtschaftlichen Maschinen und Gerätschaften zu. Bald war er in der Lage, selber kleinere Arbeiten auszuführen. Von Anfang an stand für ihn fest, er würde genauso Schlosser werden wie sein Vater. Doch auch bei den Arbeiten auf dem Feld, in den Scheunen und im Stall mussten die Kinder stets mit zupacken. Zwar war diese Bauernwirtschaft Anfang der sechziger Jahre, wie alle freien Bauernhöfe, in die „sozialistische“ Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) „Breiteberg“ eingegliedert worden, doch Kinderarbeit war deswegen keineswegs untersagt. Kartoffellesen, Heumachen, Stroheinbringen, Mistkarren, Steinelesen, Viehfüttern und viele andere Tätigkeiten, die auf einem Bauernhof anfallen, wurden unter Anleitung der Großeltern oder des Vaters auch von den Kindern mit erledigt. Aber die liebste Beschäftigung des Jungen war, noch bevor er 1964 in die Grundschule von Bertsdorf eingeschult wurde, das Treckerfahren.

Schule freilich war Peters Ding nicht. Seine diesbezüglichen Leistungen blieben überwiegend mangelhaft. Einerseits mag dies dadurch begründet gewesen sein, dass er während der ganzen Jahres, außer im Winter, nachmittags stets auf dem Hof zu tun hatte, anderseits interessierten ihn die diversen Fächer des Schulunterrichts nur wenig. Bis auf das Rechnen! Rechnen und kalkulieren konnte er von Anfang an sehr gut. Dennoch war er nicht zu bewegen, nach dem Grundschulabschluss noch die Mittelschule zu besuchen. Viel mehr interessierte ihn eine Lehrstelle als Schlosser, die er im Herbst 1972 im Ausbesserungswerk der Reichsbahn in Zittau antrat. Dort blieb er bis zur Einbeziehung zur Nationalen Volksarmee der DDR, wo er nach der Grundausbildung zum Artilleristen gemacht wurde. Seine Armeezeit verbrachte er, nachdem er verschiedene Führerscheine für Krad, PKW und LKW erworben hatte, als Sankra-Fahrer. Danach ging er zu den berühmten Zittauer Robur-Werken als Betriebsschlosser.

In jener Zeit traf Peter I. seine Sonnhild. Schon als Lehrling war er hin und wieder auf diversen Dorf-Schwofen gewesen, welche sonnabends in Bertsdorf und umliegenden Orten in den größeren Gaststätten stattfanden. Diese Tanzlokale heißen in der Oberlausitz oftmals „Kretscham“, abgeleitet von dem slawischen Wort Karczam, was so viel wie Gericht bedeutet. Sie waren in früherer Zeit zugleich Sitz des mit der Schankgerechtigkeit ausgestatteten Schultheißen und Gerichtsort des Dorfgerichts (Gerichtskretscham). Besonders in der Faschingszeit und nach der Erntezeit fanden vermehrt verschiedene Dorffeste statt, deren bekanntestes das „Dorfbüschelfest“ in Mittelherwigsdorf war.

Eines Tages, im Februar 1980, war es dann soweit: Während eines Faschingsballs in Großschönau lernte Peter I. Sonnhild S. aus Ditteldorf bei Hirschfelde kennen und verliebte sich in sie. Als er sie das erste Mal dort besuchen wollte, gab es einen kleinen Zwischenfall: Er suchte Sonnhild in der Dr.-Rudolf-Friedrichs-Straße in Hirschfelde, anstatt in Dittelsdorf, weil er bei der Adressenübermittlung unaufmerksam gewesen war. In dem kleinen Ort an der Neiße mit dem großen Kraftwerk kannte man die junge Frau jedoch nicht. Sein Pech war, dass es in beiden Ortschaften eine Straße gab, die nach dem Widerstandskämpfer und ersten Ministerpräsidenten Sachsens nach 1945 benannt ist, welcher wegen dauernder Zerwürfnisse mit den Sowjets und den sächsischen Kommunisten einen plötzlichen und bis heute ungeklärten Tod fand.

Sie kamen dennoch bald zusammen – und wie! Denn obwohl oder weil Sonnhild von ihren kirchlichen Eltern sehr streng und religiös erzogen worden war und auch am Gemeindeleben der Landeskirchlichen Gemeinschaft ihres Heimatdorfes regen Anteil nahm, wurde sie alsbald schwanger und es musste geheiratet werden. Alleinerziehende Mütter waren damals selbst in der sich „sozialistisch“ bezeichnenden DDR noch nicht in Mode...

Peter war nicht besonders religiös, beugte sich aber seiner Sonnhild und der Tradition der Familie zuliebe und begab sich nach der Hochzeit unverzüglich auf Wohnungssuche; damals ein schwieriges Unterfangen für junge Paare. Währenddessen wohnten sie getrennt, jeweils in ihren Elternhäusern

Von einem Arbeitskollegen erfuhr Peter, dass auf der „Hutchwiese“ in Niederjonsdorf ein Haus zum Verkauf stünde. Unverzüglich machte er sich auf, dieses Anwesen zu erwerben und hatte Erfolg. Wenig später zog das junge Paar in das Erdgeschoss des Umgebindehauses ein.

Am Anfang wohnten sie einigermaßen beengt in der unteren Etage des Hauses, weil sich die schon betagten Eigentümerinnen, die Schwestern S., ein Wohnrecht in den oberen Etagen ausbedungen hatten, bis ein Platz für sie im Olbersdorfer Altenheim frei würde.

Das dauerte noch mehr als zwei Jahre.

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