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1.1. EINE PERSÖNLICHE REISE

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1994 erzählte mir ein guter Freund zum ersten Mal von der Möglichkeit, Osteopathie zu erlernen. Als frisch examinierter Physiotherapeut war ich offen für jegliche Form der Weiterentwicklung, und so entschloss ich mich umgehend, mit der Ausbildung zum Osteopathen anzufangen. Von Beginn an war ich von der Art und Weise begeistert, wie lebendig und funktionell uns die Anatomie erklärt und mit welcher Fülle an Techniken man ausgestattet wurde. Erst sehr viel später sollte ich verstehen, dass uns der bedeutendste Teil der Lehre des Begründers der Osteopathie nicht vermittelt wurde: die philosophische Haltung des Osteopathen zur Welt.

Da ich mich schon immer brennend für das interessiert habe, was hinter einer Sache stand, fragte ich im zweiten Ausbildungsjahr einen meiner Lehrer nach den Ursprüngen der Osteopathie. Darauf bekam ich ein schulterzuckendes „Von irgendeinem Arzt aus Amerika“ als Antwort. Meine Nachfrage, ob es Literatur von oder über diesen ominösen Arzt gebe, wurde beiläufig mit „Ein paar Fachartikel …“ beantwortet. Da ich nun das Glück hatte, bereits 1997 das Internet nutzen zu können, recherchierte ich daraufhin in einigen amerikanischen Portalen und wurde rasch fündig. Neben seinen vier Büchern Autobiografie, Die Philosophie der Osteopathie, Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie und Forschung und Praxis1 fand ich zudem mit Carol Trowbridges Andrew Taylor Still 1828 – 1917)2 eine Biografie über den Begründer der Osteopathie. Ich ließ mir jeweils ein Exemplar aller Titel zuschicken, begann zunächst die sehr dicht mit Informationen gespickte Biografie (nicht zu verwechseln mit Stills Autobiografie) zu lesen und recherchierte einige mir wichtig erscheinende Aspekte nach, wie etwa den Methodismus, den Amerikanischen Transzendentalismus, die juristischen Rahmenbedingungen für Ärzte jener Zeit. Besonders fiel mir aber eine kritische Bemerkung von Trowbridge aus ihrem Vorwort auf, in der sie bereits auf den erheblichen Unterschied zwischen Stills Ansatz und der modernen Osteopathie hinwies. Damals schenkte ich dieser Aussage aber keine weitere Beachtung und widmete mich zunächst Stills Autobiografie. Wie die meisten Therapeuten, die Stills Bücher zum ersten Mal in die Hand nehmen, war auch ich zu Beginn ziemlich verwundert über die für mich so ungewohnte, einfache und erzählerische Sprache, voll von militärischen, religiösen und mechanistischen Ausdrücken, die so gar nicht zu der ganzheitlichen, sanften und filigranen Osteopathie passte, die ich gerade selbst erlernte. Erst als ich mehr über den Amerikanischen Bürgerkrieg und die Einstellung der Menschen im Mittleren Westen zu jener Zeit, den Methodismus und die immense Bedeutung der Elektrizität und der Maschinen gerade im 19. Jahrhundert gelesen hatte, konnte ich dies besser nachvollziehen. In diesem Zusammenhang zeigte sich mir auch, wie unsere Sprache stets von der gerade aktuellen Wissenschaft geprägt wird. (Denken Sie nur einmal an die inzwischen inflationäre Verwendung des Begriffs Vernetzung in der modernen Medizin.) Mir wurde schnell klar, dass ich meinen bis dahin geprägten Anspruch und die damit verbundenen Erwartungen bezüglich medizinischer Literatur vollständig über Bord werfen musste, um zu erfahren, was Still uns eigentlich vermitteln wollte bzw. was er selbst unter Osteopathie verstand. Unabhängig von den Schwierigkeiten mit Stills ungewöhnlicher Sprache frustrierte mich aber ganz grundlegend, dass ich die mitunter äußerst langen und verschachtelten Sätze, in denen er zum Teil hochkomplexe Sachverhalte beschrieb, allein schon deshalb nicht verstand, weil meine Muttersprache nicht Englisch war.

Es gab also auch für mich gute Gründe, Stills Bücher rasch wieder beiseitezulegen. Andererseits jedoch ging von einigen seiner Ideen eine seltsame Faszination aus, die mich auf sehr sympathische Art und Weise berührte und mir das Gefühl gab, in den Texten schlummere etwas, das weit über praktische Erfahrung, Grundwissen und Techniken hinaus reichte und die Medizin dadurch in einem völlig neuen Kontext erhellte. Hier ging es auf einmal nicht mehr primär um Krankheiten, Konzepte oder Techniken, sondern um Philosophie, um den Menschen, das Leben und vor allem den Therapeuten selbst; nicht als Gesundmacher oder Heiler, sondern als aufmerksamen Beobachter mit einer bewussten inneren Haltung zur Welt. Erstmalig begegnete mir ein Text, der in Bezug auf seine medizinische Relevanz nicht durch seine von Gelehrten als allgemeingültig vorgegebene Form - in puncto Terminologie, Methodik und Systematik - bestach, sondern allein durch die Kraft origineller Gedankengänge. Erst sehr viel später sollte ich erkennen, dass Still auch ganz bewusst keine üblichen Sammel- oder Lehrwerke schaffen wollte, um die Leser nicht durch eine Fokussierung auf deskriptive Inhalte von der eigentlichen Bedeutung seiner Aussagen abzulenken.

Nun hielt ich also ein meines Erachtens für die Medizin ganz allgemein hochrelevantes Schriftgut in meinen Händen, war aber aufgrund meiner deutschen Muttersprache nur sehr bedingt in der Lage, wesentliche Tiefen darin wirklich befriedigend zu erfassen. Zu diesem Zeitpunkt, etwa 1999, arbeitete ich als Physiotherapeut im Süden von München, um mir mein inzwischen begonnenes Medizinstudium zu finanzieren. Ich hatte die Osteopathie-Ausbildung bereits im vierten Ausbildungsjahr abgebrochen, da sich Inhalte und Techniken zu wiederholen begannen und das bei Still Beschriebene und für mich Wesentliche weder an meiner noch an einer anderen Osteopathieschule unterrichtet wurde. Zwar kam es vor, dass man Osteopathie als eigene Medizinphilosophie bezeichnete, aber auf meine Nachfrage, was damit denn genau gemeint und wo dies anhand von Quellen nachzuprüfen sei, erhielt ich lediglich unbefriedigende Aussagen, die bis hin zu ‚Sammle erst einmal Praxiserfahrung, dann wirst du es schon verstehen.‘, ‚Die Philosophie der Osteopathie ist das, was man daraus macht.‘ oder gar ‚Still meint das mit der Philosophie nicht so. Osteopathie hat mit Philosophie nichts zu tun.‘ reichten. Heute weiß ich, dass diese Antworten auf Unkenntnis oder unwissenschaftliche Betrachtung in Bezug auf Stills Texte zurückzuführen sind.

Da mein Interesse an diesem Wesentlichen der Osteopathie aber nach wie vor ungebrochen war, fragte ich einige medizinische Verlage, ob sie nicht Interesse hätten, eine deutschsprachige Version der Bücher von Still zu veröffentlichen. Nun muss man wissen, dass es zu diesem Zeitpunkt kaum 200 geprüfte Osteopathen in Deutschland gab und den Verlagen die Investition in osteopathische Literatur, allem voran im historischen Bereich, nicht lukrativ erschien. So traf ich 2000 eine für mein weiteres Leben wichtige Entscheidung, gründete den Ein-Mann-Verlag JOLANDOS und begann mithilfe von Freunden das Übersetzungs-Projekt in die eigenen Hände zu nehmen. Als Das große Still-Kompendium mit der deutschsprachigen Fassung der vier Bücher von Still Ende 2002 zeitgleich mit dem Abschluss meines Medizinstudiums erschien, stand auch schon die nächste wichtige Entscheidung an. Osteopathie hatte in Deutschland inzwischen deutlich Fahrt aufgenommen und die Nachfrage nach Stills Texten wuchs. Dabei wurde schnell klar, dass den meisten Lesern bei der Lektüre jenes umfassendere Wissen rund um Still und die Gründerjahre bzw. die Geschichte der Osteopathie fehlte, das nötig ist, um sie besser verstehen und verorten zu können. So entschied ich mich, meine klinische Karriere zu bremsen, um mich ganz der Veröffentlichung deutschsprachiger Ausgaben der in meinen Augen relevanten Literatur rund um Geschichte und Philosophie der Osteopathie zu widmen. Zudem begann ich ab dem Jahr 2004 ein eintägiges Seminar über Geschichte und Philosophie der Osteopathie anzubieten. Der anhaltende Boom der Osteopathie und der damit zunehmende Aufwand für meinen kleinen Verlag, zunehmende Nachfragen nach Seminaren und Vorträgen zum Thema sowie ganz private Gründe führten schließlich dazu, dass ich 2012 meine klinische Tätigkeit vollständig beendete, um mich ganz dem Verlag und den Seminaren widmen zu können. Vorrangiges Ziel hierbei war es (und ist es immer noch), nicht ‚Wahrheiten‘ zu verbreiten, sondern Interessierten einen möglichst breiten Zugang zum Thema zu eröffnen, damit sie sich eigenständig anhand von Originaltexten ein persönliches Bild der Wurzeln der Osteopathie verschaffen konnten. Zudem hoffte ich natürlich, dass die daraus gewonnenen Einsichten zum kritischen Reflektieren über das eigene therapeutische Selbstverständnis anregen würden, wie es bei mir der Fall war und wie es mein Leben ungeahnt bereichert hatte.

Zu den großen Bereicherungen durch die Beschäftigung mit der Osteopathie-Geschichte gehört auch ein besseres Verständnis für die chaotische Situation der modernen Osteopathie. Und da die Kenntnis dieses Sachverhalts zudem leichter verständlich macht, warum mein Augenmerk ungebrochen und sogar noch viel intensiver als früher auf den Texten Stills liegt, möchte ich Ihnen das gegenwärtige Osteopathie-Chaos im nächsten Unterkapitel ein wenig näherbringen.

Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie

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