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1.2. DAS OSTEOPATHIE-CHAOS

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Osteopathie wird in der Öffentlichkeit als Methode zur Behandlung von Menschen beschrieben, die überwiegend auf manuellen Techniken basiert. Dabei finden sich abhängig von den einzelnen Strömungen Beschreibungen, die von sehenden Hände mit quantenmedizinischem Wirken zur Beseitigung so ziemlich aller denkbaren Beschwerden auf der einen Seite bis hin zur ausschließlichen Behandlung vorwiegend muskuloskelettaler Beschwerden vor allem des Rückens mittels rein strukturell-manipulativer Techniken auf der anderen Seite reichen. Von Wunderheilung bis Knocheneinrenken wird also alles geboten. Entsprechend angereichert ist die osteopathische Terminologie auch mit zum Teil unkritisch übernommenen Fantasiebegriffen. Interessierten begegnet beim ersten Versuch, sich ernsthaft mit der Osteopathie zu beschäftigen, daher eine Menge an Unklarheiten. Die Frage, was Osteopathie eigentlich genau sei, wird jedenfalls nicht allgemeingültig geklärt.

Kenner der Osteopathie-Geschichte verwundert dies nicht, denn die Osteopathie hat sich im Laufe ihres noch jungen Bestehens abhängig von kulturellen und juristischen Einflüssen und aufgrund eines bis vor Kurzem erheblichen Mangels an interner und internationaler Kooperation in ganz unterschiedliche Richtungen entwickelt. Die beiden einzigen gemeinsamen Kriterien scheinen zu sein, dass sie sich alle – zumindest aus historischer Sicht – auf Still und seinen Ansatz beziehen und dass sie auf eine gewissen Eigenständigkeit gegenüber der orthodoxen Medizin bestehen.

Da innerhalb des Projektes der Philosophischen Osteopathie ein transdisziplinärer Austausch von großer Bedeutung ist, halte ich es für angebracht, die wichtigsten Strömungen der Osteopathie kurz vorzustellen. Dies erleichtert es, die Position der Gesprächspartner aus dem Bereich der Osteopathie besser einschätzen und die eigene Position besser zuordnen zu können. Selbstverständlich existieren auch Mischformen und kleinere individuelle Ausnahmen, die ich hier aber unerwähnt lasse, da sie nur eine Randerscheinung innerhalb der internationalen Osteopathie darstellen.

STILLS PHILOSOPHIE DER OSTEOPATHIE

Sie repräsentiert die vom amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 - 1917) entdeckte Osteopathie, die er in mehreren Büchern, Artikeln und mündlicher Überlieferung der Nachwelt hinterließ. Eine ausführliche Darlegung des philosophischen Aspektes seines Ansatzes und eine kurze Zusammenstellung seiner praktischen Ideen erfolgt in den weiteren Abschnitten dieses Buches. Einfach ausgedrückt leitet Still aus einer eher philosophischen Haltung heraus Mechanismen der Natur ab und überführt diese in pragmatische und im medizinischen Kontext wirksame Hypothesen, aus denen er Handlungskonzepte ableitet, die mit den Händen am Patienten umgesetzt werden. Diese Techniken setzen bei Still noch ausschließlich am Bewegungsapparat an, wobei die Knochen (gr. osteo) als Haupthebel für die Kraftübertragung wirken. Mit diesen Techniken werden optimale, das heißt an die individuellen Bedürfnisse des Patientenorganismus angepasste anatomische Rahmenbedingungen geschaffen. Innerhalb dieser können sich dann nach Still die unentwegt im Sinne des Lebens wirkenden und durch eine vollkommene höhere Intelligenz bestimmten Selbstregulationskräfte bestmöglich entfalten, was wiederum den heilenden und lindernden Effekt auf Beschwerden bzw. Krankheiten oder Leiden (pathos) begründet. Auf dieser gesundheitsorientierten und menschenzentrierten Überzeugung basiert auch der von Still erstmals im funktionellen Kontext ausgelegte Begriff Osteopathie. Da Still die philosophische Haltung als entscheidenden Aspekt des Osteopathen betrachtete, bedeutete der an seiner Schule vergebene Titel D.O. (Doctor of Osteopathy) für Still ‚Dig on!‘ (Grabe weiter!) im Sinne eines Wissenwollens.

Still war weiterhin der Überzeugung, dass die Natur alle zur Heilung notwendigen Mittel zur Verfügung stellen könne, insofern es die anatomischen Rahmenbedingungen den physiologischen Prozessen erlauben, sich vermittelt durch das ungehinderte Fließen der Körperflüssigkeiten und Nervenströme im Körper auszubreiten. Folglich lehnte er jegliche Gabe von Medikamenten einschließlich homöopathischer Mittel ab, da er darin einen Mangel an Vertrauen in die natürlichen Selbstregulationskräfte sah.

Die Berücksichtigung der Individualität zwingt den Osteopathen zu einem prozesshaften Vorgehen, das nicht mehr streng an einem einzigen Konzept ausgerichtet wird, sondern durch eine Anpassung unterschiedlicher Techniken gekennzeichnet ist.

DIE AMERIKANISCHE OSTEOPATHIE

Bereits zu Lebzeiten Stills wurden in den Vereinigten Staaten diese philosophischen Aspekte von Stills Osteopathie aus berufspolitischen Gründen zunehmend ausgeklammert. Dies ermöglichte der Osteopathie die schrittweise Anerkennung als voll anerkannter Arztberuf in allen Bundesstaaten. Erheblich beschleunigt wurde dieser Prozess durch den 1910 vorgelegten Fletcher-Report, der eine Evaluation sämtlicher medizinischer Einrichtungen in den USA beinhaltete und letztlich dazu führte, dass die osteopathischen Hochschulen ihre Lehrpläne jenen Universitäten anglichen, an denen orthodoxe Medizin gelehrt wurde. Aufgrund der Tatsache, dass die Anerkennungsjahre nach dem Studium ausschließlich in orthodox ausgerichteten Krankenhäusern erfolgten, haben die manuellen Techniken (OMTs = Osteopathic Manipulative Techniques/​Therapy) nach und nach an Bedeutung verloren. Dieser Prozess erklärt, warum die heutige Osteopathie in den Vereinigten Staaten sehr stark der orthodoxen Medizin gleicht und manuelle Techniken im Praxisalltag – wenn überhaupt – nur noch rudimentär angewendet werden. Zudem gibt es immer wieder starke berufspolitische Bestrebungen, die Osteopathie gänzlich in die orthodoxe Medizin zu überführen. Demzufolge steht in der amerikanischen Osteopathie nicht mehr die Unterstützung der Selbstregulierungskräfte des Organismus, sondern das Auffinden von Krankheiten und deren Bekämpfung durch ausschließlich medizinisch bestätigte Konzepte im Vordergrund.

DIE COMMONWEALTH-OSTEOPATHIE

Nach dem Ersten Weltkrieg begann sich die Osteopathie langsam, vor allem aufgrund der Initiative John Martin Littlejohns (1866 - 1947), in England zu etablieren. Da hier anders als in den Vereinigten Staaten ein ärztliches Praktizieren der Osteopathie von Beginn an aus juristischen Gründen nicht möglich war, konnte der ursprünglich allgemeinärztlich, d. h. auf die Behandlung aller Beschwerdebilder ausgerichtete systemische Ansatz nicht mehr in vollem Umfang ausgeübt werden und entwickelte sich daher rasch zu einer nicht-ärztlichen und rein manuellen Behandlungsmethode, die sich vorwiegend auf Beschwerden des muskuloskelettalen Systems bezog.1 Durch den großen internationalen Einfluss der British School of Osteopathy verbreitete sich diese Strömung im Rahmen des Commonwealth vor allem in Australien und Neuseeland, aber auch in einigen spanischsprachigen Ländern. Eine Unterscheidung der Commonwealth-Osteopathie von der Chiropraktik bzw. der Manualmedzin (Chirotherapie) ist heutzutage kaum noch möglich.

DIE ZENTRALEUROPÄISCHE OSTEOPATHIE

William Garner Sutherland (1873 - 1954), wie Littlejohn ein Zeitgenosse und Schüler Stills, entwickelte in den 1930er bis 1950ern die sogenannte Kraniosakrale Osteopathie. Sie etablierte sich ab den 1950ern als eher unbedeutende Randerscheinung innerhalb der amerikanischen Osteopathie. Zu Beginn zeichnete sich Sutherlands Ansatz wie bei Still noch durch ausschließlich mechanisch orientierte Überlegungen aus. Dies änderte sich offensichtlich unter dem Einfluss bestimmter Schriften Emanuel Swedenborgs (1688 - 1772) und durch die Bekanntschaft mit dem Esoteriker Walter Russell (1871 - 1943). Ab den 1940ern finden sich zunehmend spirituelle Kontexte bei Sutherland, die er mit seinen mechanischen Ansätzen kombinierte und so ein neues ganzheitliches Konzept innerhalb der Osteopathie begründete. Da er ein großer Verehrer Stills war, floss dessen Gedankengut in Sutherlands Seminare ein, was zu einer Vermischung von Stills ursprünglichem Ansatz mit Sutherlands Interpretationen führte. Der ursprünglich philosophische Aspekt in Stills Ansatz wurde dadurch immer stärker in einen spirituellen Kontext überführt, was unter anderem auch dazu führte, dass innerhalb der Kraniosakralen und der daraus entspringenden Biodynamischen Osteopathie zunehmend eine Art geheimes Heilwissen zwischen die Zeilen der Texte von Still interpretiert wurde.

Auf Initiative einer Gruppe kraniosakral arbeitender Osteopathen kam es auf Umwegen zur Gründung der European School of Osteopathy (ESO), die ursprünglich in Paris lokalisiert war und sich nun in Maid-stone (England) befindet. An der ESO wurde Stills Gedankengut zwar nicht wirklich studiert und sein philosophischer Ansatz auch nicht unterrichtet, die spirituelle Ausdeutung seiner Gedanken führte aber dazu, dass erstmals wieder metaphysische Aspekte innerhalb der Osteopathie an Einfluss gewannen. Auch begann man nun wieder Still vermehrt im Original zu lesen und nicht nur tradierte Zitate ungeprüft zu übernehmen. Besonders ESO-Schüler aus Frankreich, Holland und Belgien, aber auch zunehmend deutsche Schulen sind seit den 1980ern dafür verantwortlich, dass sich diese Mischform aus Stills Osteopathie und Sutherlands Kraniosakraler Osteopathie nach und nach auch in Zentral- und inzwischen auch in osteuropäischen Ländern etablierte, wobei sie heute vor allem in Zentraleuropa die am schnellsten wachsende und zunehmend an Einfluss gewinnende Strömung der Osteopathie darstellt.

Diese Form der Osteopathie wird vor allem von (ehemaligen) Physiotherapeuten ausgeübt. Ärzte tendieren eher zu einer Mischung aus amerikanischer und Commonwealth-Osteopathie, wobei es hier gerade im deutschsprachigen Raum auch Ausnahmen gibt. In der Außendarstellung werden häufig drei Bereiche beschrieben: eine am Bewegungsapparat ansetzende, aber im systematischen Sinn verstandene parietale/​myofasziale Osteopathie, eine abhängig von der Schule mehr oder weniger stark spirituell geprägte Kraniosakrale Osteopathie und eine auf französische Osteopathen zurückgehende Viszerale Osteopathie (innere Organe). Es werden fast ausschließlich manuelle Techniken angewendet, wobei je nach Ausrichtung entsprechend ausgeprägte strukturelle, funktionelle oder energetische Aspekte einfließen.

Auch im zentraleuropäischen Ansatz der Osteopathie sucht man vergeblich nach ernsthaften Versuchen, sich wissenschaftlich mit dem philosophischen Aspekt von Stills Ansatz auseinanderzusetzen. Lediglich im deutschsprachigen Raum sind hier ernsthafte Ansätze auch auf breiterer Ebene zu erkennen.

OSTEOPATHIE IN DEUTSCHLAND

Die heute bekannte Osteopathie in Deutschland ist überwiegend der zentraleuropäischen Strömung zuzuschreiben (siehe dort), es finden sich aber auch immer mehr Vertreter der amerikanischen und der Commonwealth-Form. Daneben existiert eine insbesondere auf eine Initiative der Orthopäden und eines großen Physiotherapie-Verbandes zurückgehende, ebenfalls inzwischen dreigliedrige Osteopathie, die aber im Gegensatz zur zentraleuropäischen Osteopathie stärker krankheits- und symptombezogen ist und sich als Erweiterung der bestehenden Manualmedizin (Chirotherapie) versteht. Die ärztliche Osteopathie in Deutschland geht vor allem auf Kooperationen zwischen amerikanischen Ausbildungsstätten im Bereich Osteopathie und Chiropraktik und der British School of Osteopathy zurück, wobei der Einfluss zentraleuropäischer Schulen abhängig von der berufspolitischen Ausrichtung ebenfalls sichtbar ist. Die Osteopathie im gesamten deutschsprachigen Raum ist aufgrund ihrer heterogenen Entstehung nicht eindeutig zu verorten. Inwieweit eine krankheits- oder gesundheitsorientierte Vorgehensweise im Mittelpunkt steht, welche Techniken man anwendet und welche Philosophien man verfolgt, wird durch die Wahl der Schule bestimmt, an der man die Osteopathie erlernt bzw. welcher Ausrichtung man zuneigt. Die Anwendung der Hände im praktischen Kontext ist demnach ebenfalls unterschiedlich ausgeprägt.

Stills philosophischer Ansatz wird im deutschsprachigen Bereich seit kurzem zumindest ansatzweise auf breiterer Ebene diskutiert.

Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie

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