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Ich versuchte gar nicht erst, meiner Großmutter noch mehr zu entlocken. Am nächsten Tag fuhr ich nicht bei ihr vorbei. Doch das war auch keine Lösung. Leo Bronski, Elisabeth Breuning und alle um sie herum hatten meine Gedanken und Fantasien besetzt wie eine feindliche Armee ein wehrloses Land. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren und fühlte mich all meinen unbeantworteten Fragen täglich mehr ausgeliefert. Mit Stephan sprach ich nicht darüber und nickte bloß, als er mir am übernächsten Tag vorschlug, nachmittags bei ihm vorbeizukommen, um gemeinsam Aufbau und Inhalt unseres Referats schon einmal zu skizzieren. Da seine Gedanken andererseits sehr von Katharina eingenommen schienen, merkte er nicht, wie schweigsam ich geworden war, oder achtete nicht darauf.

Nach der Schule beschloss ich, doch wieder zu meiner Großmutter zu fahren. Ich musste wenigstens ungefähr wissen, was es zu wissen gab, um dem, was Stephan herausbekommen haben mochte, nicht ganz unvorbereitet gegenüberzustehen. So legte ich mir jedenfalls meine Absicht zurecht. Eine andere Stimme in mir sehnte sich danach, meine Großmutter würde mir doch wenigstens etwas über meinen Vater erzählen. Und vielleicht könnte sie mir ja einfach erzählen, wie sie und Leo sich kennengelernt hatten.

Aber „einfach“ war hier nichts mehr, so viel hatte ich längst verstanden.

Zögernd fuhr ich die Wilhelmstraße entlang und bog in die Kölner Straße ein. Dort wurde ich immer langsamer, nicht nur, weil es wieder ein wenig bergauf ging. Wenn mein Vater als Junge ebenfalls ein Fahrrad gehabt hatte, dann war er auch hier entlanggefahren. Auf jeden Fall war meine Großmutter von hier aus regelmäßig zur Kirche gefahren, wie sie es jetzt noch häufig auf ihrem alten Fahrrad tat. Seit wann wohnte sie in dem von der Zeit übersehenen Häuschen? War mein Vater dort aufgewachsen?

Ich blieb stehen, schaute zum Haus meiner Großmutter hinüber und versuchte, einige Jahrzehnte zurückzuspulen. Doch diesmal ließ mich meine Fantasie im Stich. Der Film schnellte wieder vor: bis zum Dezember 1969. Meine Großmutter lebte inzwischen allein und mein Vater mit uns ein paar Straßen weiter, wo wir auch jetzt noch wohnten. Jemand – ein Polizist? – überbrachte meiner Mutter die Nachricht von dem Unfall. War mein Vater gleich tot gewesen? Und hatte meine Mutter meine Großmutter benachrichtigt? Ich hatte keine Erinnerung an diesen Tag und überhaupt nur wenige bruchstückhafte aus dieser Zeit, über die im Übrigen bei uns nicht gesprochen wurde. Auch über die Jahre und Jahrzehnte davor nicht. Im übernächsten Sommer wurde ich eingeschult und besaß einen Schulranzen, eine Schultüte und einige erste gesicherte Erinnerungen, wusste jedoch schon nicht mehr mit Gewissheit, ob ich mich an meinen Vater oder an die Fotos von ihm erinnerte.

Fotos. Ich musste unbedingt noch einmal die alten Fotos sehen, die meine Großmutter mir – mehr unfreiwillig – drei Tage zuvor gezeigt hatte. Leo Bronski, von dem ich inzwischen wusste, dass er mein Großvater war. Jetzt wusste ich auch, woran mich sein Gesicht erinnert hatte. Es war das Lächeln. Dasselbe Lächeln wie auf den Fotos von meinem Vater.

Plötzlich wurde ich wütend. Was war hier geschehen? Warum hatte ich von meinem Vater und meinem Großvater nur ein fotografiertes Lächeln? Was machte meiner Großmutter solche Angst, dass sie mir nicht mehr erzählen mochte? Sie hatte mich sogar gebeten, die Finger von der Sache zu lassen.

Sie war mein einziger Zugang zu Leo Bronski und zu allem, was damals geschehen war und wovon ich bis vor ein paar Tagen nicht einmal etwas geahnt hatte. Ich wollte ihr weder Angst machen noch ihr weh tun. Doch ich war jetzt fest entschlossen, alles zu erfahren. Es war mein Recht, es zu wissen. Alles. Und wie sollte ich es sonst in Erfahrung bringen?

Weder Klavierspiel noch Zigarettenrauch drangen diesmal durch die Terrassentür in den kleinen Garten. Immerhin stand sie offen. Eigentlich war alles wie immer.

„Felix.“

„Großmutter.“

Ihre Stimme war nicht wie sonst und dadurch war alles anders.

Das ganze Zimmer schien die Luft anzuhalten. Die Wanduhr war stehengeblieben, Charles-Marie Widor nicht an seinem gewohnten Platz und das alte Klavier starrte mich misstrauisch und feindselig an.

Den Eindringling.

Meine Großmutter saß am Tisch, auf den sie wieder ihre Fotos gebreitet hatte. Ansonsten war das Zimmer aufgeräumter als sonst.

„Setz dich zu mir.“

Die liebevolle Aufforderung brachte mich endgültig aus dem Konzept. Beschämt und linkisch nahm ich neben ihr Platz. Ein kleiner Junge, der seiner über alles geliebten Oma irgendeinen Verdruss bereitet hat, aber es ist schon nicht mehr so schlimm, er ist ja auch noch klein.

Tatsächlich strich sie mir übers Haar.

„Ich hatte schon befürchtet, ich hätte dich vertrieben.“

Dann seufzte sie.

„Aber ich glaube, das lässt uns jetzt beide nicht mehr los.“

Ich schwieg und wartete ab.

„Ich wusste natürlich, dass es irgendwann so weit sein würde. Ich konnte es ja selber nicht vergessen, all die Jahre lang. Nur beiseiteschieben. Um irgendwie weitermachen zu können. Dabei habe ich die Kraft dazu eigentlich nie gehabt. Zum Beiseiteschieben, meine ich.“

Beinahe mit Scheu betrachtete ich die vor uns ausgebreiteten Fotos. Elisabeth und Leo. Sie sahen aus, als hätte irgendeine gute Fee beide mit ihrem Zauberstab angerührt. Ich war überrascht über die Selbstverständlichkeit und Unschuld, mit der sie Leos Bruder gestatteten, ihre Liebe festzuhalten. Ganz Haan musste etwas davon mitbekommen haben! Dieses Paar musste Stadtgespräch gewesen sein! Der Kommunist und die Pfarrerstochter – doch wenn sie etwas trennte, so zeigten es diese Aufnahmen nicht. Die beiden waren ein Märchen. Aber es war keine Zeit für Märchen gewesen.

„Wir haben uns auf der Kirmes kennengelernt, zweiunddreißig. Na ja, kennengelernt: Wir sind eher übereinander gestolpert! Also, ich bin gestolpert und wäre hingefallen, wenn Leo mich nicht aufgefangen hätte. Normalerweise hätte ich mich höflich bedankt und wäre mit meinen Freundinnen weitergegangen. Aber dann … Wir haben einander nicht mehr losgelassen. Ich konnte die Augen nicht von ihm nehmen und er hielt immer noch meine Arme fest. Obwohl ich es längst nicht mehr brauchte. Es war wirklich, als ob die Zeit still gestanden hätte. Ich nahm nichts mehr sonst wahr – und Leo sagte später, bei ihm sei es genauso gewesen. Ich könnte dir nicht sagen, wie lange es gedauert hat. Vielleicht nur ein paar Sekunden. Vielleicht aber auch mehrere Minuten. Meine Freundinnen meinten jedenfalls, wir hätten eine ganze Weile da gestanden und uns angeschaut. Aber vielleicht haben sie es auch als länger wahrgenommen. Oder sie haben übertrieben. – Ich habe so etwas nie wieder erlebt. Natürlich hatte ich auch später Männer. Ich habe das nie an die große Glocke gehängt, weil ich lieber allein bleiben wollte, unabhängig. Aber natürlich war ich auch noch mal verliebt. Doch nie mehr so.“

Ich wartete schweigend, bis sie weitersprach.

„Irgendwann merkte ich, dass er lächelte. ‚Krieg ich ’ne Belohnung?‘, fragte er. Freches Grinsen, es war klar, was er haben wollte. Und es war wirklich auch das Einzige, was ich in dem Moment wollte. Ich hatte die Arme immer noch nicht frei, beugte mich vor und gab ihm einen Kuss. Auf den Mund und nicht nur so flüchtig. Mit diesem Kuss bin ich erwachsen geworden, würde ich heute sagen. Ich fühlte mich mit einem Mal groß. Ich fühlte mich frei, zu tun und zu lassen, was ich wollte. Natürlich war es nicht wirklich so. Ach was, ganz und gar nicht! Aber vielleicht habe ich es deshalb so empfunden, weil ich mich zum ersten Mal einem anderen Menschen gegenüber ganz frei und ebenbürtig fühlte. Nicht wie mit meinen Freundinnen: Wir waren vielleicht ebenbürtig, aber nicht frei. Brave Mädchen aus gutem Hause. Und dazu noch alle bei der Frauenschaft! Dafür hat bei mir schon meine Mutter gesorgt, die ist ja als eine der Ersten mit fliegenden Fahnen dahin. Mir war dort irgendwie nicht wohl, aber ich hätte nicht genau sagen können, warum. Ich war jung, sehr jung und sehr naiv und habe mich eigentlich nur für mein Klavier interessiert. Der Himmel allein weiß, was er sich dabei gedacht hat, ausgerechnet so ein liebes, wohlbehütetes Mädel aus einem deutschnationalen Pfarrhaus einem jungen Arbeiter und glühenden Kommunisten in die Arme fallen zu lassen! Aber ich weiß ganz sicher, dass es wirklich der Himmel war. Es stimmte von Anfang an, es waren Leo und ich, das haben alle gesagt. – Nein, leider nicht alle …“

Monsieur Widor kam und rieb sich an meinem Bein. Ich nahm ihn auf den Schoß und kraulte ihn abwesend.

„Mein Vater … Ich dachte, er wollte mich schlagen. Das hatte er nie getan! Ich hatte in meinem ganzen Leben keine Ohrfeige und kaum ein hartes Wort bekommen. Ich war wirklich wie in einem Elfenbeinturm aufgewachsen. Wie eine Märchenprinzessin – so muss ich Leo erschienen sein. Ich habe mich schon bald danach gefragt, wie ich um Himmels willen so blind durch die Welt gegangen sein konnte! Aber es war so. Ich kann es nicht ändern. Als mein Vater von Leo erfuhr, schrie er mich an wie von Sinnen. Er unterstellte mir, ich wäre sicher auch längst schwanger ‚von dem Kerl‘ – dabei war ich sogar noch Jungfrau. Aber dann nicht mehr lange. Ich glaube fast, er hat mich Leo sogar noch mehr in die Arme getrieben. Später, als ich tatsächlich schwanger war, war es natürlich noch viel schlimmer. Da hatte er sogar schon die Hand gehoben. Da endlich hat meine Mutter eingegriffen. Sie ist ihm nicht direkt in den Arm gefallen, aber doch einmal laut geworden, wenigstens dieses eine Mal. Dann wollten sie es darauf schieben, dass ich mehr oder weniger vergewaltigt worden wäre – und dass ich zu unschuldig und zu dumm gewesen wäre, um zu verstehen, was da passierte. Aber das habe ich genau verstanden! Und gewollt. Ich glaube, es ging sogar fast mehr von mir aus als von Leo. Ich wollte ihn. Da war ich ja schon nicht mehr blind, da konnte ich ja sehen, wo es hinführte – und ich glaube, ich habe gewusst, dass ich ihn nur ganz kurz würde haben dürfen. Wahrscheinlich haben wir beide gewusst, dass wir die Zeit ausnutzen mussten. Es waren nur so wenige Monate. Wir waren ja nicht gleich nach der Kirmes ein Paar. Darüber wurde Winter. Ich konnte Leo nicht vergessen und ihm ging es genauso. Einige Male trafen wir uns zufällig. Und als uns das zu wenig wurde, haben wir es bewusst herbeigeführt. Da war es aber schon Januar. Im April kam er zum ersten Mal in Schutzhaft, wie sie das damals nannten. Dann noch mehrere Male, seit Juni war er gar nicht mehr draußen. Da war er in der Koburg im Neandertal, bei Mettmann. So eine feine Villa mit Folterkeller. Im August haben sie ihn von dort in die Kemna gebracht. Und im Oktober war er tot. Ende Oktober kam dein Vater, drei Wochen zu früh. Ich habe ihn Robert genannt, das hatten Leo und ich schon beschlossen, falls es ein Junge werden würde. Robert hieß auch der Vater meiner Mutter, das passte dann doch gut. Wenigstens dagegen hatten meine Eltern nichts einzuwenden. – Ja, Leo hat noch erfahren, dass er Vater wurde. Als er nach der ersten Haft wieder rauskam, habe ich es ihm gesagt. Er war so glücklich! Ich glaube, er hat auch versucht, sich jetzt vorzusehen. Obwohl er natürlich für ‚die Sache‘ glühte! Die Weltrevolution und all das. Fast hätte er mich auch damit angesteckt. Ein wenig jedenfalls. Was er glaubte, daran wollte ich auch glauben. Es ist mir allerdings nicht besonders gut gelungen. Ich fand die Parolen genauso lärmig wie die der Nazis. Trotzdem finde ich, dass es ein Unterschied war. Der zwischen Idealisten und Verbrechern. Für Leo war längst alles zu spät. Er wurde verpfiffen. Das, was man ihm vorwarf, hatte er gar nicht getan, aber das war doch alles gleich. Sie brauchten einen Vorwand. Seinen Vater hatten sie schon vorher abgeholt. Der war im Stadtrat, auch im März dreiunddreißig wurde er noch gewählt. Aber die kommunistischen Stadträte durften ihr Amt gar nicht erst antreten. Sechs waren es insgesamt, davon haben sie Leos Vater und zwei andere schon im März eingesperrt. Leos Vater kam später in ein anderes KZ. Er kam noch mal frei, aber ist dann bald gestorben. Da hatte er schon seine Frau verloren – sie war schon ein paar Jahre tot – und nun noch seine beiden Söhne. Nur eine Tochter blieb ihm noch, Leos ältere Schwester, Fränzi. Sie mochte mich nicht besonders. Nach dem Krieg hatten wir trotzdem wieder ein bisschen Kontakt. Sie war nach Wuppertal gezogen. Ich glaube, da lebt sie heute noch, ich habe allerdings schon ein paar Jahre nichts mehr von ihr gehört.“

„Warum mochte sie dich nicht?“

„Ach … Ich glaube, sie hat mich für Leos Tod verantwortlich gemacht. Vielleicht sogar für Roberts und auch noch für den Tod ihres Vaters. Mein Vater war nicht in der Partei, aber nur deshalb, weil er als Pfarrer unparteiisch sein wollte. Das war er natürlich in Wirklichkeit nicht. Meine Eltern waren im Grunde überzeugte Nationalsozialisten, auch wenn sie das später nicht gerne zugegeben haben. Mein Vater war stramm deutschnational wie viele Pfarrer damals. Am liebsten hätte er den Kaiser wiedergehabt. Dann wurde es eben Hitler, auch gut. Später hat er sich sehr zurückgehalten. Mehr als einmal hat er von Leuten Dinge gehört, für die er sie ans Messer hätte liefern können. Das hat er aber nicht getan. Eigentlich war er auf seine Weise ein feiner Mensch. Trotzdem: Bei ihm war es keine Blindheit. Er war fest von all dem überzeugt, was die Nazis vertraten. Vielleicht nicht von der Gewalt, obwohl er der Meinung war, dass Ordnung notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden müsste. Also, was er unter Ordnung verstand. Was die Juden anging, musste er sich nicht weit aus dem Fenster lehnen – in Haan lebten so gut wie keine. Und meine Mutter war der Überzeugung, dass sie ihrem Mann in allem zu dienen habe. Was bei uns politisch gedacht wurde, hatte er zu bestimmen. Das habe ich alles empfindlich gestört. Aber das hat Fränzi so nicht mitbekommen. Sie war der Meinung, ich hätte die Aufmerksamkeit der Leute noch stärker auf Leo gelenkt. Zumindest, was einen anging, hatte sie recht … Später hat sie akzeptiert, dass Leo und ich uns so sehr geliebt haben, dass es wahrscheinlich nicht anders gehen konnte, als es eben ging.“

Ich schüttelte verwirrt den Kopf.

„Aber was hattest du denn mit Leos Tod zu tun?! Das war doch nicht deine Schuld! Nicht einmal die deines Vaters!“

Bestürzt sah ich, wie sie anfing zu weinen, und legte ihr vorsichtig den Arm um die Schulter. Mit zitternden Fingern suchte sie ein Foto aus der Menge und schob es mir hin. Die Aufnahme war etwas unscharf, als wäre der Fotograf gerannt und hätte ganz kurz innegehalten, um das Foto zu schießen. Es zeigte eine Prügelei auf der Straße. Junge Männer waren ineinander verkeilt, einige lagen auf dem Boden, andere rannten. Ein Teil der Männer trug die Uniformen der SA. Mitten in dem Knäuel stand einer der Uniformierten wie ein Fels in der Brandung. Man sah sofort, dass er das Kommando führte.

„Wer ist das?“

„Arno Schenkendorf. Der Sohn von Doktor August Schenkendorf. Anwalt wie sein Vater. Der Vater regierte in den Amtszimmern, der Sohn auf der Straße.“

„Arno Schenkendorf?“

Zumindest der Name Schenkendorf war mir bekannt. Allerdings wusste ich nicht, wie Stephans Großvater mit Vornamen hieß.

Sie nickte.

„Der Großvater deines Freundes.“

Nun, befreundet war ich mit Stephan nicht direkt, aber konnte ihn schon ganz gut leiden.

„Er wollte mich. Dafür musste Leo verschwinden.“

Orgelnachspiel

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