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Leo Bronski wartete sozusagen an der nächsten Straßenecke auf mich, als ich zur Schule fuhr. Vergeblich verwehrte ich ihm den Zugang zu meinen Gedanken, konnte aber wenigstens verhindern, dass er meine Fantasie missbrauchte. Antworten auf meine drängenden Fragen verweigerte er mir, was mich freilich nicht erstaunte, denn bisher war er nicht viel mehr als ein Fotomotiv seines Bruders.

Ich stellte mein Fahrrad im überdachten Ständer hinter der Turnhalle ab und ließ mich von dem Strom der meist jüngeren anderen Schüler sowie einiger Lehrer zum Hintereingang des Gymnasiums schwemmen, von wo ich gleich die Treppe zum zweiten Stock nahm. Herr Krauss empfing uns wie immer mit unerschütterlich unternehmungslustiger Miene zur Doppelstunde des Geschichte-Leistungskurses und nahm mein gedankenverlorenes Lächeln eher wahr als ich.

„Herr Breuning, irgendetwas amüsiert Sie ganz köstlich!“

Ich zuckte grinsend die Schulter.

„Ja. Ein junger Kommunist, der in eine Pfarrerstochter verliebt ist.“

„Heutzutage soll das vorkommen.“

„Ja, heutzutage vielleicht …“

Sein Blick hatte etwas unschuldig Verschwörerisches. Wir ließen meinen Satz beide in der Luft hängen.

* * *

„Schon irgendwas rausgefunden?“

Stephan und ich schlenderten über den Pausenhof. Ich versuchte, ihm zu antworten, ohne mich dabei an meinem Wurstbrot zu verschlucken, das ich schnell aß, um die Hand wieder in die Jackentasche zu bekommen.

„Nur das, was ich vorhin schon gesagt habe.“

„Der Kommunist und die Pfarrerstochter?“

„Meine Großmutter …“

Dann war das Wurstbrot erfolgreich vertilgt und mit wieder freiem Mund erzählte ich Stephan von meinen Besuchen bei meiner Großmutter am Vortag.

„Dann hast du’s ähnlich gemacht wie ich. Hab gestern auch meinen Großvater gefragt. Der war ähnlich gesprächig wie deine Großmutter.“

Unser beider Blicke blieben an der hübschen Katharina hängen. Sie bemerkte es und lächelte uns fröhlich zu.

„Was hat ihr Vater wohl dazu gesagt?“

Stephans plötzliche Frage ließ mich zusammenzucken. Einen kurzen Moment überlegte ich, was Katharinas Vater wozu gesagt haben sollte, dann verstand ich, dass Stephan vom Vater meiner Großmutter sprach.

„Ist eigentlich was draus geworden?“

Es gab Zeiten, wo es mir leichter fiel, Stephans sprunghaften Gedankengängen zu folgen.

„Du meinst, aus meiner Großmutter und dem Kommunisten?“

„Mh.“

Ein großes, eigentlich nur schlecht verschlossenes Tor öffnete sich polternd in meinem Kopf und gab den Blick auf ein sehr unvertrautes Gelände frei. Ein leeres Gelände, ohne Anhaltspunkt. Mein Vater hätte diesen fixen Punkt bilden können. Wenn ich mehr von ihm gewusst hätte.

Ich hatte ihn kaum gekannt. Er war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als ich fünf Jahre alt war und meine Schwester elf. Mir fiel plötzlich sein Name ein: Robert. Wie der Fotograf. Robert Breuning. Da ich so daran gewöhnt war, keinen Vater mehr zu haben, wusste ich nicht genau, wann er geboren worden war. Doch wenn ich jetzt so darüber nachdachte und nachrechnete …

Leo Bronski konnte mein Großvater sein. Was freilich mehr Fragen aufwarf als beantwortete.

„Felix?“

„Ich glaube, ich muss meine Großmutter ein paar Dinge fragen.“

In Stephans Blick, dem ich gleich wieder auswich, las ich, dass er verstand: Hier ging es nicht mehr in erster Linie um das Referat.

* * *

Sie hatte mich erwartet. Und mein Kommen befürchtet. Nicht so sehr mein Kommen. Die Fragen, die ich mitbringen würde. Vielleicht sah sie schon meinem Gesicht an, welche Fragen es sein würden.

Ich beschloss, uns beiden eine Pause zu gönnen, obwohl ich vor Ungeduld fast platzte. Doch es war unübersehbar, dass sie nicht geschlafen hatte. Und sie konnte die Angst und Verwirrung in ihrem Gesicht, in ihren Augen nur schlecht verbergen, was wiederum mich ängstigte und verwirrte. Sie tat mir leid. Wir beide taten mir leid.

„Spielst du uns etwas vor? Etwas, das so schön ist, dass man darüber alles andere vergisst?“

Meine Bitte schien sie ebenso zu erheitern wie zu befremden, doch immerhin lächelte sie sogar ein wenig, mit belustigt zusammengezogenen Augenbrauen. Einen kurzen Moment war die Luft im Zimmer voller Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Ich erwiderte ihr Lächeln so unschuldig, wie ich es zustande brachte, und nahm Charles-Marie Widor auf meinen Schoß, kraulte ihn, bis er leise zu schnurren anfing, und wartete, bis meine Großmutter sich für ein Stück entschieden hatte.

Es klang nach Mozart. Ganz zart und zweifellos wunderschön. Aber auch sehr traurig. Ich spürte plötzlich einen dicken Kloß in meiner Kehle.

Mitten im Spiel brach sie ab. Ohne sich nach mir umzuwenden, sagte sie leise: „Du bist gekommen, um mich etwas zu fragen.“

Ich betrachtete sie von hinten. Die zierliche, fast zarte Gestalt. Die etwas unordentlichen, ehemals dunkelblonden, jetzt leicht ergrauten Haare, die sie im Nacken irgendwie zusammengesteckt hatte. Ich dachte an Katharina und versuchte, in der schon lange nicht mehr jungen Frau vor mir am Klavier das bezaubernde Mädchen auf dem Foto wiederzuentdecken. Es war gar nicht einmal schwer. Doch die junge Elisabeth blieb in dem Reich ihres alten Schwarz-Weiß-Fotos gefangen; ich konnte sie mir nicht fröhlich lächelnd oder an Katharinas Seite übermütig albernd auf unserem Schulhof vorstellen. Meine Großmutter gehörte einer Welt an, in der die wichtigen Dinge in Schwarz-Weiß geschehen waren. Aber selbst Katharina wirkte im Vergleich blass.

Immer noch wandte sie mir den Rücken zu. Einen schmalen und, wie mir plötzlich bewusst wurde, zerbrechlichen Rücken. Ich nahm Anlauf und versuchte, es als ein Spiel zu verstehen. Das Spiel hieß „So lange ich dich nicht anschaue, darfst du mich alles fragen“. Ich wärmte meine klammen Finger in Monsieur Widors Altkaterpelz und begann schließlich, wobei ich meiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Ton gab: „Ich würde gerne mehr über deinen Vater wissen. Und über meinen.“

Überrascht hob sie den Kopf und drehte ihn halb zu mir. Es war offensichtlich nicht die Frage, die sie erwartet hatte. Dann schien ihr bewusst zu werden, dass sie diese Frage insgeheim befürchtet hatte, und sie vollendete die Drehung ihres Kopfes nicht. Ihr Profil mir zugewandt, schaute sie durchs Fenster in ihren winterkahlen Garten und sah verloren aus.

„Mein Vater war Pfarrer. Das weißt du doch. Ich war sein einziges Kind und er hätte alles für mich getan.“

Das mochte stimmen oder auch nicht ganz. Ihr Tonfall ließ es offen.

„Hätte oder hat?“

Sie zögerte einen Wimpernschlag zu lang.

„Hat. – Er hat sich für mich eingesetzt, dass ich die Stelle als Organistin bekommen und behalten konnte. Davon habe ich schließlich bis heute gelebt!“

„Warum musste er sich so dafür einsetzen? Gab es so gute Konkurrenz?“

Ich verstand nicht wirklich viel von der Musik, die meine Großmutter spielte, wenn auch sicher mehr als der Durchschnitt, doch meiner Ansicht nach spielte sie herausragend und ich wusste immerhin, dass sie einige Prüfungen gemacht hatte. Aber wahrscheinlich erst spät.

„Reichten deine Nachweise nicht?“

Sie lächelte ganz leicht.

„Das haben sie dann vorgeschoben. Es stimmte ja auch. Ich hatte kein einziges Zeugnis, als ich anfing. Und …“

Ich wartete, doch sie hatte sich entschlossen, den Satz unvollendet in der Luft hängen zu lassen.

„Was hat dein Vater dazu gesagt, dass du dich in einen jungen Kommunisten verliebt hattest?“

Jetzt lächelte sie richtig, wenn auch wehmütig.

„Begeistert war er nicht …“

Ich wusste nicht genau, was es Anfang der Dreißigerjahre bedeutete, Pfarrer zu sein. Doch ich war davon überzeugt, dass es nicht bedeutete, viel für Kommunisten übrig zu haben, schon gar nicht für solche, die der einzigen Tochter nachstellten.

Und nun zu meinem Vater. Er hieß Breuning, das war der Mädchenname meiner Großmutter; sie hatte nie einen anderen gehabt. Also war er unehelich geboren. Ich konnte mir inzwischen das Wesentliche zusammenreimen.

„Und dann warst du irgendwann schwanger.“

Sie nickte. Mit Tränen, die sie nicht zurückhielt.

„Und auch deswegen musste dein Vater sich für dich einsetzen.“

Sie biss sich auf die Lippen und starrte in den Garten.

„Es war von Leo, nicht wahr? – Mein Vater, meine ich?“

„Ja. Leo Bronski ist dein Großvater. War.“

„Sie haben ihn auch umgebracht.“

„Ja.“ Ihre Stimme war hart geworden. „In der Kemna. Kannst du dir schon mal für dein Referat merken. Obwohl das erst später war. Im Herbst dreiunddreißig. Vorher war er woanders in Schutzhaft. Und dann haben sie in Barmen diese stillgelegte Fabrik dafür umgebaut. Bis die Lager im Moor fertig waren. Doch das hat er nicht mehr erlebt.“

Hart und schnell hatte sie die Worte hervorgestoßen. Dabei hatte sie die rechte Hand auf ihrem Bauch liegen. Als ob ihr schlecht wäre oder als hätte ihr jemand in den Leib getreten. Oder …

Ich sah sie vor mir, gerade neunzehn Jahre alt, die Hand auf dem runden Bauch, ganz allein in einer kleinen Stadt, in der man auch ein Jahr zuvor kein Verständnis für eine Liebschaft zwischen der Pfarrerstochter und dem Kommunisten gehabt hätte, geschweige denn jetzt. Plötzlich erwachsen geworden, ganz auf sich gestellt.

Ihr Vater zerrissen zwischen der natürlichen moralischen Empörung, dem Urteil, das ihm alle Welt in den Mund legen würde, hätte er es nicht längst selbst dort vorgefunden – und seinen Gefühlen für die einzige Tochter, die schöne Elisabeth, die er sicher abgöttisch liebte und verwöhnt hatte und die nun mit einem viel zu sichtbar runden Bauch irgendwo stand und für immer verloren war.

Was hatte eigentlich meine Urgroßmutter zu alledem gesagt? Wahrscheinlich geschwiegen und sich untergeordnet. Ich stellte mir vor, dass es so oder so ähnlich gewesen sein musste. Und er stieg auf seine Kanzel und wusste, dass seine Gemeinde ihn stillschweigend verurteilte, weil er nicht besser auf seine Tochter aufgepasst hatte. Die jedoch wartete auf ihren Freund. Ob er noch einmal freikommen würde?

„Schutzhaft“. Davon hatte ich nur sehr unklare Vorstellungen. Eine stillgelegte Fabrik. Lager im Moor. Kemna? Barmen, das sagte mir mehr.

Sommer sei es gewesen; sie schwanger und er in dieser Fabrik. Ihr Vater sah sie auffordernd an und sie starrte an ihm vorbei, ihm nur halb zugewandt. So wie jetzt.

Mein innerer Drehbuchautor zögerte. Vorwürfe? Eine Moralpredigt? Schrie er sie an? Oder schwieg er bestürzt – aus Liebe und weil sein Verständnis nicht in das völlig unbekannte, abstoßende Land folgte, wohin seine Elisabeth sich auf den Weg gemacht hatte? Und seine Frau, die Mutter dieses störrischen Mädchens, saß still daneben, versuchte zu verstehen und es sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Schwarz-Weiß-Gefühle.

Aber Elisabeth war ja gar nicht da: Sie war irgendwo in Barmen, stand auf der glutheißen Straße und wartete auf ein Lebenszeichen von ihrem Leo. Irgendjemand musste kommen und sie da wegholen, zurück zu ihren Eltern bringen, bevor sie auf dieser feindlichen Straße zusammenbrach. Jetzt saß sie dort, wo sie nicht länger zu Hause war, und kämpfte mit den Tränen.

Dann machte mein innerer Film einen Sprung: Elisabeth hatte erfahren, dass Leo tot war. Zusammengeschlagen, misshandelt, gefoltert. Liegengeblieben. In der gleichen Hitze, nur die Fliegen hatten sie rangelassen. Elisabeths Kind musste jeden Tag kommen. Sie hatte keine Kraft übrig, um sich zu wehren. Bot ihrem Vater nur den gebeugten Nacken, aber keinen Angriffspunkt, und ihre Mutter wagte nicht einzuschreiten.

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass es Gott nie gegeben hatte. So emotionslos und konsequent, wie man es vielleicht nur mit achtzehn kann, räumte ich die letzten Trümmer beiseite. Dass mein Vater einem Unfall zum Opfer fiel, bevor ich mich richtig an ihn erinnerte, ging auf das Konto derselben unbeseelten Sinnlosigkeit, die von keinem Gottes- und Götzenbild restlos verborgen werden konnte.

„Lässt du die Finger von der Sache?“

Von mir unbemerkt, hatte meine Großmutter sich mir ganz zugewandt. Verständnislos fragend schaute ich ihr in die Augen. Ihr Blick war bitter und traurig – zugleich sah ich ihr an, dass sie Angst hatte.

„Bitte, Felix. Ich will dich nicht auch noch verlieren.“

Warum sollte sie mich verlieren? Ich zuckte die Schultern.

„Ich muss halt dieses Referat machen. Zusammen mit Stephan. Er hat seinen Großvater auch schon nach der Zeit damals gefragt.“

Sie stülpte die Lippen ein wenig nach innen und presste sie leicht zusammen, wie um sie am Zittern zu hindern, zwang sich jedoch zu einer Art Lächeln und nickte.

„Dann soll Stephans Großvater euch erzählen, was er weiß. Der weiß alles!“

Der letzte Satz kam so hasserfüllt, dass ich zusammenzuckte.

„Ihr kennt euch, nicht wahr?“

„O ja! Wir kennen uns. Und so schnell wird er mich nicht los, wenn es nach mir geht! Aber ich weiß, wann ich aufpassen muss. Vor allem, so lange ich noch jemanden zu verlieren habe.“

Ich starrte sie wortlos an. In diesem Raum gab es nichts mehr, was mir noch Wärme hätte verleihen können.

Orgelnachspiel

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