Читать книгу Orgelnachspiel - Christian Hartung - Страница 11
6
ОглавлениеIch hatte ihr schwören müssen, Stephans Großvater nicht darauf anzusprechen. Das war sicher besser so. Was hätte ich sagen sollen? „Hallo Nazi?“ Oder gleich: „Hallo Mörder?“ Ich war noch nicht in dem Alter, in dem man so etwas für sich behält. Meine Großmutter war nicht bereit, mehr zu verraten. Doch die Andeutungen reichten mir. Ich sah in dem gepflegten, eleganten älteren Herrn, der mit übereinander geschlagenen Beinen (Bügelfalte, teure Schuhe) in Stephans Wohnzimmer saß, nicht mehr den freundlichen, interessanten Großvater meines Schulkameraden, sondern den Mörder meines Großvaters. Aber ich wusste immer noch so gut wie nichts und hatte meiner Großmutter hoch und heilig versprochen, den Mund zu halten.
„Du bist also Felix. Stephan hat mir von dir erzählt! – Nein, entschuldige, eigentlich sollte ich ja ‚Sie‘ sagen!“
„Ist schon okay …“, murmelte ich, denn das erwartete er doch anscheinend und ich wollte ihm keinen Angriffspunkt bieten.
„Wie du willst! – Ja, vielmehr, von dem Referat, das ihr beide aufbekommen habt, hat er mir erzählt. Und mich gebeten, ihm ein wenig über die Zeit damals zu berichten. Nun, ehrlich gesagt: Ich glaube, die Heldengeschichten so eines alten Knochens sind wahrscheinlich das Letzte, was euch interessieren dürfte!“ Er lachte kurz und ich lächelte höflich. Seine Augen lachten nicht. „Ich war damals nicht viel älter als ihr jetzt. Da nimmt man Dinge anders wahr, lässt sich auch viel bereitwilliger in manches hineinziehen. Nun, es war keine leichte Zeit und die Dinge entwickelten sich dann rasch in eine Richtung, die … – nun, sagen wir: Das hat man nicht gleich so vorhergesehen und am Ende war man froh, dass man heil wieder draußen war. Eine sehr heftige Zeit und – ich will es mal so sagen: Wir hatten einfach noch keine funktionierende Demokratie; und die Probleme unseres Landes hätten auch viel stabilere Nationen auf eine harte Probe gestellt. Das breitete sich ja wie ein Flächenbrand in Europa aus.“
Und so ging es noch eine ganze Weile weiter. Er sprach, ohne etwas zu sagen. Schwieg mit vielen Worten – die meisten davon nichtssagende Phrasen. Heldengeschichten bekamen wir tatsächlich keine zu hören. Doch in dem Nebel, den er verbreitete, verschwammen alle Konturen. Als er sich endlich freundlich lächelnd erkundigte, ob wir noch etwas Bestimmtes von ihm wissen wollten, hätte ich hunderte Fragen an ihn gehabt und wahrscheinlich nicht mehr an das strikte Verbot meiner Großmutter gedacht. Aber auch ohne weitere Wortnebel wusste ich jetzt schon, wie es lief, und hätte mir seine Antworten genauso gut selber geben können. Ich fühlte mich unterlegen und ausgeliefert. Zugleich wusste ich, dass ich nicht eher ruhen würde, bis ich die ganze Wahrheit aus wem auch immer herausgepresst hatte.
„Danke, Opa, ich glaube, das hilft uns schon viel weiter“, meinte Stephan und ich nickte vage. „Ich denke, wir fangen jetzt einfach mal an und gucken, wie weit wir kommen.“
„Sehr vernünftig! Und wenn ihr mich braucht, dann meldet euch!“
* * *
„Hat uns das jetzt wirklich weitergeholfen?“
Stephan war wenigstens ehrlich. Doch ich blieb höflich.
„Direkt für die einzelnen Ereignisse wahrscheinlich nicht. Aber war schon ganz interessant, jemanden, der dabei war, mal so die Stimmung beschreiben zu hören.“
Er lächelte resigniert.
„Danke, dass du‘s so aufnimmst! Mein Opa ist sonst echt ’n prima Kerl, aber ich glaub, es war ’n Fehler, ihn auf die Geschichte hier anzusprechen. Dann wollte er aber unbedingt jetzt da sein und uns was erzählen. Was er ja dann eigentlich gar nicht getan hat …“
„Wahrscheinlich wollte er mich mal kennenlernen …“, murmelte ich mit gesenktem Blick. Erst als Stephan eine Weile nicht antwortete, schaute ich rasch zu ihm hinüber und dann beschämt wieder fort, nachdem ich sein fragendes Gesicht gesehen hatte. Ich sollte auch ihm nichts von dem erzählen, was ich von meiner Großmutter erfahren hatte. Außerdem wusste ich nichts Bestimmtes. Eigentlich nur, dass Stephans Großvater eine örtliche SA-Größe gewesen war und möglicherweise irgendwie seine Hand dabei im Spiel gehabt hatte, dass mein Großvater in diesem KZ ums Leben kam. Ich wusste jetzt, wie Schenkendorf lachte – so hatte er sicher auch gelacht, als er seinen Kameraden in der SA zum Beispiel Folgendes gesagt hatte: „Dieser Bronski hier, der braucht nicht mehr lebendig rauszukommen. Aber lasst euch ruhig ein bisschen Zeit. Der Kerl ist zäh – und ihr wollt doch länger was davon haben! Macht ihn so ’n paar Wochen lang mürbe und erschießt ihn dann bei einem Fluchtversuch oder lasst ihn Selbstmord begehen – na, euch wird schon was Nettes einfallen, Jungs!“
„Felix?“
Ich zuckte zusammen.
„Du bist in letzter Zeit total abwesend und wirkst richtig bedrückt …“
„Ach, ist schon okay …“
Damit gab er sich nicht lange zufrieden.
„Du weißt was von deiner Großmutter.“
Was nun? Ich setzte schon an zu sagen: Weißt du, Stephan, es ist besser für uns beide, wenn ich dir das nicht weitersage. Doch dann kam mir eine bessere Idee.
„Ja. Sie hat mir von ihren Eltern erzählt. Die waren offenbar ziemlich stramme Nazis. Und dabei war mein Urgroßvater Pfarrer! Das passt eigentlich gar nicht zusammen. Aber damals offenbar schon. Und meine Urgroßmutter war sogar schon vor dreiunddreißig bei der NS-Frauenschaft und hat ihre Tochter mitgenommen. Irgendwie ’n komisches Gefühl, plötzlich zu wissen, dass deine Leute Nazis waren …“
Stephan machte große Augen. Dann zuckte er die Schultern.
„Ich weiß gar nicht, wie das bei meinem Großvater war. Ob der in der Partei war oder so. Ich glaub, der hat sich da nicht so für interessiert.“
Nun – um eines von Arno Schenkendorfs Lieblingsworten zu benutzen – nun, das wusste ich besser! Doch es war nicht meine Angelegenheit, Stephan aufzuklären.
„Komm, lass uns anfangen, dass wir ‚s hinter uns bringen! Ich würd mich gern mal wieder mit was Angenehmerem beschäftigen!“
Er stimmte mir zu. Die Ablenkung war gelungen. Doch ich wusste, dass ich mich sehr lange nicht „mit Angenehmerem beschäftigen“ würde.
„Mann, und dann macht die mit ‚nem Kommunisten rum! Ganz schön mutig! Aber in deren Haut möchte ich dann nicht gesteckt haben …“
Ich nickte abwesend. Zurzeit mochte ich nicht einmal gerne in meiner eigenen Haut stecken.
* * *
Wir fuhren nebeneinander auf unseren Rädern: Elisabeth Breuning und ich. Elisabeth – oder „Lilli“, wie sie allgemein genannt wurde, war mit Sicherheit das schönste Mädchen, neben dem man auf einem Fahrrad durch Haan fahren konnte. Und ich war – sagen wir einmal: ihr Vertrauter. Ein Freund. Oder so etwas in der Art. Jedenfalls vertraute sie sich mir an. Von mir war ja nichts zu befürchten. Ich war eigentlich gar nicht da, nicht vorhanden in diesem kalten Januartag, den ich mir nicht einmal kolorieren musste – andere Farben als Schwarz und Weiß gab es ohnehin nicht. Ich war nur Ohren: zur Stelle, wenn jemand etwas mitzuteilen hatte. Geschichten, die ohne mich stattgefunden hatten, doch ohne mich auch längst wieder vergessen worden wären.
„Ich bin in Leo Bronski verliebt.“
Nur einem geisterhaften Beichtempfänger wie mir konnte sie so etwas erzählen. Den redegewandten kommunistischen Stadtrat Werner Bronski kannte jedes Kind – und seine Söhne Robert und Leopold waren in Haan ebenfalls keine Unbekannten. Robert war seit kurzem Leiter der Ortsgruppe des Kommunistischen Jugendverbands und sein jüngerer Bruder immer mit dabei.
Ich schaute Elisabeth von der Seite an. Eine dunkelblonde Strähne hatte sich unter der Wollmütze selbstständig gemacht. Das schmale Gesicht, ihr ganzer viel zu zierlicher Körper schienen für eine Ankündigung wie diese nicht im Entferntesten das geeignete Fundament zu sein, doch ihre hellen grünen Augen, von denen ich mir immer vorstellte, dass sie noch im Dunkeln leuchten müssten wie die einer Katze, strahlten: Der Himmel war zu Besuch auf die Erde gekommen. Wieder einmal zur falschen Zeit am falschen Ort. Das nationale Erwachen lauerte schon hinter den Hecken und Zäunen der Gartenstadt, leckte sich die geifernden Lefzen und bereitete sich darauf vor, alle roten Fahnen und diejenigen, die sie trugen, mit einem einzigen Happs zu verschlingen. Mit weichen Knien fuhr ich an dem SA-Trupp um Arno Schenkendorf vorbei, Lilli bemerkte die Kerle nicht einmal. Doch ich bemerkte den Blick, den Schenkendorf ihr zuwarf: voller Gier – und was viel schlimmer war: voller Berechnung. Er wusste genau, wie er diese hinreißende Beute in seine Fänge bekommen würde, und konnte, ein geübter Jäger, den rechten Zeitpunkt abwarten. Blieb nur zu hoffen, dass Leo Bronski nicht ausgerechnet jetzt seiner Lilli begegnen würde – auf dem Präsentierteller der üblen Horde, die da an der Straßenecke lungerte. Doch natürlich geschah genau das. Ich versuchte, Leos Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, dass er schleunigst von hier verschwände, hoffte, dass wenigstens Elisabeth ihn nicht bemerken, sondern in süße Träume gehüllt einfach weiterfahren würde, aber das hier war nicht so eine Geschichte aus den Zeiten, wo das Wünschen noch half – das hier waren die Zeiten, in denen die Wünsche wie alte nasse Blätter vom frostig gewordenen Wind durch die Straßen getrieben wurden, bis sie am Ende jemand zusammenkehrte.
Lilli und Leo merkten es nicht. Sanft brachte sie ihr Rad direkt vor ihm zum Stehen, höchstens ein klein wenig außer Atem, aber dann vielleicht nicht vom Fahren. Mich beachtete ohnehin keiner. So hatte ich Zeit, mir Bronski einmal in Ruhe anzuschauen.
Aus der Nähe betrachtet, wirkte er deutlich jünger, als ich gedacht hatte. Nun konnten die kräftige Gestalt des zurzeit arbeitslosen Schleifers und das ganze Gehabe mit Schiebermütze und Zigarette im Mundwinkel nicht mehr ablenken von den noch weichen Zügen eines bis über beide Ohren verliebten Jungen.
„Du wirst sterben!“, versuchte ich ihn zu warnen. „Und wahrscheinlich werden sie dich mit ihr erpressen. Oder sie dir wegnehmen.“
Er beachtete mich nicht.
„Du wirst sterben!“, wiederholte ich. „Sie bringen dich um! Und wer weiß, was sie mit ihr vorhaben!“
Er schob mich achtlos beiseite. Ich gab auf. Hilflos sah ich zu, wie die Braunhemden die beiden umkreisten, die nun endlich aus ihrem Traum erwachten.
„Nun, Fräulein Breuning“ – Schenkendorf, wer sonst! – „Nun, Fräulein Breuning, das würde Ihren Herrn Vater sicher sehr erfreuen, Sie so zu sehen, meinen Sie nicht? Ich sollte Sie lieber nach Hause begleiten, bevor Ihnen hier noch etwas zustößt!“
Sie antwortete nicht, rückte nur näher an Leo Bronski heran, der ihr unwillkürlich den Arm um die Schulter legte. Verächtlich maß Schenkendorf ihn von oben bis unten.
„Das ist nicht deine Preisklasse, Bronski! Mit deinem bisschen Erwerbslosenunterstützung kannst du sie nicht einmal in die Lichtspiele einladen! Das, was sie von zu Hause gewohnt ist, wirst du ihr nie bieten können!“
Und wieder an Elisabeth gewandt: „Überlegen Sie sich rechtzeitig, wohin Sie gehören! Mit Leuten wie diesem famosen jungen Herrn werden wir bald gründlich aufgeräumt haben! Die Elu kassiert er ja schon, der Nichtsnutz. Bald bekommt er auch Kost und Logis vom Staat frei dazu! Seinen Umständen entsprechend, versteht sich. Wenn wir Deutschlands Straßen säubern, sollte ein hübsches junges Fräulein wissen, wo es steht!“
„Das weiß ich.“
Ganz leise hatte sie gesprochen, mit einer Stimme, die Sicherheit nicht einmal vortäuschen konnte. Doch mit einer Entschiedenheit, die nichts mehr umstoßen würde.
Schenkendorf musterte sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Mitleid.
„Der Bursche ist bald tot. Es könnten Zeiten kommen, wo Ihnen auch Ihr Herr Vater nicht mehr würde helfen können. Gehen Sie nach Hause, Fräulein Breuning!“
Sie rückte noch dichter an Bronski und schüttelte langsam, doch entschieden den Kopf.
„Nun, wie Sie wollen! Noch ist Zeit – aber nicht mehr lang! Ihr armer Vater tut mir jetzt schon leid!“
Sie zogen tatsächlich noch einmal ab. Ihr Ziel hatten sie ja längst erreicht: Angst zu verbreiten. Die Straße war auffällig leer. Auch als nichts mehr von ihnen zu sehen und zu hören war.