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Sie wurde am 1. August 1914 geboren, am Tag, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach. Als Europa und die Welt zum zweiten Mal im Krieg versanken, waren ihr Unschuld und Glück längst abhanden gekommen. Dafür hatte sie einen kleinen Sohn, besaß aber nichts, um ihn großzuziehen. Jeder empfand es als glückliche Fügung, dass gerade die Stelle des Organisten vakant wurde. Warum sollte sie es anders empfinden? Ihr Vater war einer der beiden Gemeindepfarrer. Dank seiner Vermittlung konnte sie den Posten zunächst vertretungshalber übernehmen. Damit war doch für sie und das Kind gesorgt. Gewiss waren es Dankbarkeit und eine dem Leben gegenüber neu gewonnene Bescheidenheit, die sie auch später nichts anderes suchen ließen. Das Presbyterium gab seinen anfänglichen Widerstand schließlich auf – und nach dem Krieg war man froh, dass man sie hatte.

Inzwischen stellte sie keine Ansprüche mehr. Nur manchmal blitzte in ihrem Spiel etwas völlig Unerwartetes auf. Dann schien zugleich die Ahnung von einem Leben durch, das sie unter anderen Umständen vielleicht hätte führen können. Als Rentnerin half sie häufig aus, hörte damit jedoch nach der Beisetzung Arno Schenkendorfs plötzlich auf. Als die alte Orgel wenige Jahre später abgebaut und durch eine neue ersetzt wurde, wollte sie nicht einmal eine Pfeife zur Erinnerung haben.

Die ihr verbleibenden dreißig Lebensjahre widmete sie anderen Tätigkeiten und Interessen. Der Tod fand sie bereit und, wie mir schien, gleichermaßen voll wehmütigen Bedauerns wie neugieriger Sehnsucht. Ich wusste, wen sie wiederzusehen hoffte. In ihren letzten Augenblicken wurde ihr Gesicht wieder ganz jung.

Ich kannte sie als zierliche und kleine Frau von stiller Freundlichkeit, die gerne für sich blieb. Jedes besondere Interesse an ihrer Person wehrte sie ab, wie man geduldig Fliegen verscheucht, denen man ihr Tun zwar nicht verübelt, die man aber doch umso bestimmter fernhält von allem, woran Fliegen nun einmal Interesse zeigen. Nur noch Ausgewählten gegenüber erlaubte sie ihren Augen, zu leuchten wie in der kurzen Zeit ihres unbeschwerten Glücks, und wusste im Übrigen gut zu verbergen, was sie damals wirklich empfunden hatte. Bis ich als unbedarfter Gymnasiast zum ersten Mal daran rührte und unbeabsichtigterweise ihre geheime Asservatenkammer öffnete.

Stephan Delbrück und ich sollten im Geschichte-Leistungskurs ein Referat über die Ereignisse in Haan während der Machtergreifung Hitlers halten. Berlin wäre weit genug fort gewesen, das hätte hier niemanden gestört. Doch ich möchte Herrn Krauss zugutehalten, dass er vermutlich nicht ahnte, was er mit dieser Aufgabe bei uns auslösen würde.

Ich hatte seinen Kurs eher aus Verlegenheit gewählt und bereute dies bereits. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn wir uns mehr mit den alten Römern oder dem finsteren Mittelalter beschäftigt hätten als mit Zeiten, die noch nahe genug waren, um Unheil anzurichten. Ich verfügte über eine lebendige Fantasie, welche mir die Unterrichtsgegenstände näher rückte, als mir lieb war. Sie verfilmte sie mir ungefragt mit ausführlichen Tagträumen, die mich zeitweise vergessen ließen, dass wir bereits 1983 schrieben und nicht 1933. Ich geriet in die Kämpfe von Nazis und Kommunisten, wurde schreckensstarr zum Zeugen äußerst brutaler Szenen, rannte durch Haans Straßen und Gassen, floh im Ittertal die Hänge hoch und in die Büsche, wurde wechselweise von den einen oder den anderen gestellt, für einen ihrer Gegner gehalten und entsprechend behandelt. Welche Heldentaten ich auch versuchte – am Ende fand ich mich zwischen allen Stühlen, verfolgt und gehetzt und ohne Zuflucht.

Da mir zur gleichen Zeit die mühsam bewahrten Reste eines halb verschütteten Kinderglaubens abhanden kamen, fühlte ich mich zunehmend ungeborgen. Wenn ich mich noch einmal in unsere Kirche verirrte, sah ich im mittleren Chorfenster den segnenden Christus von einer anderen Welt hereinschauen und unbeteiligt dort schweben – unerreichbar und ohne sich im Mindesten darum zu bemühen, näherzukommen und sich irgendwo, vielleicht gar neben mir, niederzulassen. Mein Blick glitt immer wieder von ihm fort zur Stirnwand neben dem Chorbogen, zu den dort links oben gemalten Tafeln der Zehn Gebote und dem Satz: „Weise mir, Herr, deinen Weg, dass ich wandle in deiner Wahrheit.“ Damals verstand ich noch nicht, dass es besser sein kann, die Wahrheit nicht zu kennen.

Orgelnachspiel

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