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1580 Michel de Montaigne Essais Die Geburt des Essays aus dem Geist des Zweifels

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In einem Turmzimmer schreibt Michel Eyquem, Seigneur de Montaigne, mit unkonventioneller Offenheit seine Gedanken auf. Neuartig und ungewöhnlich ist, dass er dabei sich selbst ebenso wie das Wissen seiner Zeit infrage stellt, statt neue Weisheiten zu verkünden. In seiner skeptischen Haltung gegenüber vermeintlich sicherer Erkenntnis erscheint Montaigne heute erstaunlich modern. Und auch formal hat er mit seinen Essais, die frei dem Gang seiner Gedanken folgen, eine neue offene literarische Form geschaffen, die in unserer Zeit allgegenwärtig ist.

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden lautet der Titel eines Essays Heinrich von Kleists. Darin rät dieser einem Freund, Probleme, die durch Nachsinnen nicht zu lösen sind, einer anderen Person zu erzählen. »Weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fernher in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus.« Dasselbe Verfahren hatte, über zwei Jahrhunderte zuvor, Michel de Montaigne (1533–1592) angewandt. Essais, »Versuche«, nannte er die Texte, in denen er über sich selbst, über Gott und die Welt nachsinnt. Nicht zielgerichtete Analyse und Argumentation, sondern mäandernde, oft assoziative Reflexionen sind es, die Montaigne zu Papier brachte.

Sein Schreiben war auch ein Reden: zu dem früh verstorbenen Étienne La Boétie. Mit nur achtunddreißig Jahren hatte sich der Karrierejurist Montaigne auf sein Landschloss zurückgezogen, um in der Abgeschiedenheit seiner Turmbibliothek mit dem schmerzlich vermissten Freund schreibend Zwiesprache zu halten. Ein Einsiedler wurde Montaigne dennoch nicht. Eines Nierenleidens wegen ging er auf eine Reise durch die Schweiz und Deutschland nach Italien, über die er ein – erfrischend diesseitiges – Reisetagebuch verfasste. Von 1581 bis 1585 diente er seiner Heimatstadt Bordeaux als Bürgermeister. Mit dem weitgehenden Rückzug ins Private wollte er vor allem Distanz gewinnen zum gewaltsamen Kampf der Konfessionen und Fraktionen, der Frankreich spaltete.

Die Verbissenheit und Selbstgewissheit, mit der andere fochten, war Montaigne fremd. Er hatte aus Kirchenspaltung und kopernikanischer Wende einen Schluss gezogen: dass unser Wissen fehlbar ist, weil unsere Sinne und unser Verstand uns irreführen können. Aus dieser fundamentalen Skepsis heraus entwickelt er eine Haltung, für die Mäßigung und Selbstbescheidung im Mittelpunkt stehen. »Que sais je?« (»Was weiß ich?«), lautet sein Wahlspruch. Nicht selten nimmt er daher ein klassisches Zitat zum Ausgangspunkt, um es an seinen Beobachtungen zu prüfen und von dort aus allgemeinere Betrachtungen anzustellen. Das Themenspektrum ist bunt: Moralische und theologische Fragen finden sich Seit’ an Seit’ mit Gedanken zu Postwesen und Reisekutschen. Selbst von seinen heftigen Blähungen erfahren wir. Montaignes schonungslos offener Selbstbeobachtung haftet, dank Selbstironie und farbiger Sprache, nichts Schwermütiges an.

1580 erstmals veröffentlicht, erschien 1588 eine erweiterte Auflage. Bis zu seinem Tode überarbeitete Montaigne seine Essais, die 1595 posthum als Ausgabe letzter Hand herauskamen. Das Publikumsinteresse war groß, vor allem in Frankreich und in England, wo schon 1597 der Philosoph Francis Bacon eigene Essays publizierte. In Deutschland tat man sich hingegen schwer mit dem bewussten Verzicht Montaignes auf System und Geschlossenheit. Frühe Übersetzungen trugen kaum zur Verbreitung bei. Die freie essayistische Form fand daher erst bei den Frühromantikern Anklang. Friedrich Schlegel griff die Form programmatisch auf; ihm folgten sein Bruder August Wilhelm, Novalis und andere. Freilich sprachen sie lieber von »Fragmenten« und beriefen sich als Vorbild auf Lessings nichtfiktionale Prosa – die allerdings ihrerseits Montaigne vieles verdankt.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde – über England kommend – der Begriff »Essay« schließlich auch in Deutschland heimisch, um sich im Fin de siècle zu einer der beliebtesten Textformen auf der Grenze zwischen Literatur, Literaturkritik und Feuilleton zu entwickeln. Hugo von Hofmannsthal, Thomas und Heinrich Mann bedienten sich seiner, Georg Lukács versuchte sich 1911 an der theoretischen Erschließung des Genres. Seither ist der Essay allgegenwärtig: Versessays, essayistische Romane und Filmessays zeugen von der Fruchtbarkeit eines Formats, das gerade daraus seinen Reiz gewinnt, dass es keine klaren Konturen kennt und daher immer neu gedeutet werden kann.

Es würde zu kurz greifen, Montaigne auf den Begründer eines literarischen Genres zu reduzieren. Denn bei ihm lässt sich die Form nicht von einem Standpunkt trennen, der Dogmen und Fundamentalismus mit Skepsis begegnet. Nietzsche hat »diese freieste und kräftigste Seele« hierfür verehrt: »Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen«, schreibt er über Montaigne. Auch andere deutschsprachige Dichter und Denker hat er beeindruckt – von Lessing und Lichtenberg über Schopenhauer bis hin zum großartigen österreichischen Kulturhistoriker Egon Friedell.

Erst nach 1945 aber ist Montaigne als ein Vor-Denker der modernen und postmodernen Philosophie wiederentdeckt worden, der Essay als Ausdruck des Fragmentarischen aller Erkenntnis. Montaigne wird heute gelesen als Vertreter eines Toleranzdenkens, der mit seinem Plädoyer eines mitgeschöpflichen Umgangs mit Tieren sogar als Vorläufer der modernen Tierethik gilt. Zu dieser späten Rezeption passt, dass die Essais erst seit 1998 in einer vollständigen zeitgemäßen Übersetzung von Hans Stilett vorliegen. Damit ist Montaigne endlich auch in Deutschland wirklich »heimisch« geworden.

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