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3.

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Rote Lippen und ein schneeweißes Gesicht, das sich gegen das Halbdunkel absetzte wie das blank geputzte Nummernschild auf einem Maserati aus Carbonfaser. Zwei weiße Zahnreihen bleckten mich an, als sie sagte: „Wohl doch keine Verwechslung. Genau dich habe ich gesucht.“

Und da war es wieder: das siegessichere Grinsen, das mich im Schritt packte und mir die Hoden quetschte. Aber es massierte auch mein Ego. Mit zarten, flinken Händen, wie die Asiatinnen in diesen Studios. Mir war so heiß, als wäre mein Anzug mit Lava gefüttert. Das Glas in meinen Händen glühte. Ein Wunder, dass der Gin noch nicht verdampft war und das Tonic nicht zu kochen begonnen hatte. Ich nahm einen großen Schluck und es war, als hätte mich Thors Hammer getroffen. Mit einem Mal war ich cool. Jetzt streichelte der Alkohol meine Gehirnzellen. Er verbündete sich mit dem Adrenalin in meinem Körper. Ich trat auf den anderen Fuß und meine Stimme war die von Samuel L. Jackson, als ich zu ihr sagte: „Und jetzt hast du mich gefunden. Drink?“

Wir fanden einen Tisch in einer ruhigeren Ecke des Gartens. Büsche umgaben uns und unsere Vertrautheit wuchs im Dunkel des angrenzenden Parks. Die Musik war dort leiser, die Kellner dafür umso aufmerksamer. Ich hatte den dritten Drink vor mir stehen und auch Schneewittchen lag mit dem zweiten Cosmopolitan nicht weit zurück, was den Alkoholspiegel betraf. Meine Suche nach möglichen Opfern hatte sich hin zu einem visuellen Rundgang zu den Rundungen unter ihrer Bluse von Dior verlagert. Wir redeten belangloses Zeug, jeder fragte den anderen, was er machte, und jeder log den anderen an. Sie erzählte etwas von einer Kunstgalerie und ich flunkerte davon, wie ich Rudolf Leopold beim Aufbau seiner Sammlung geholfen hatte.

„Wer ist Rudolf Leopold?“, fragte sie und es schien im Gegensatz zu ihren Schilderungen über Nizza, Paris und Basel diesmal ehrlich. Sie hatte keine Ahnung. Ich rechnete nach und kam zu dem Schluss, dass Leopold gut zehn Jahre tot war. Da war sie noch ein Teenager gewesen und ziemlich sicher an anderem interessiert. Ich betrachtete sie näher, was in dem schwachen Licht nicht einfach war. Sie hatte große Augen, eine kleine Nase und sonst die Gesichtszüge einer Puppe, war daher altersmäßig schwer einzuschätzen, aber wahrscheinlich noch keine dreißig. Kein Wunder, dass wir nicht über Gemeinsamkeiten reden konnten. Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Niemand, ich meinte das Museum im …“

„Das kenn’ ich“, sie strahlte mich an, ihre Augen bildeten nun schwarze Knöpfe in diesem plüschweichen Gesicht. „Leopold, natürlich. Da gibt es jeden Freitag Chill-Out und die Deejays legen echt geil auf. Nicht so eine alte Kacke wie hier.“ Mit dem Kopf machte sie eine Geste in Richtung des Mischpults.

Mir gab es einen Stich, denn es lief „Higher Ground“ von Stevie Wonder und im selben Moment zwang ich meinen zuckenden Oberkörper wieder starr zu sein. Ich hatte meine Hand auf ihrem Arm liegen und sie drückte ihren Schenkel gegen mein Bein.

„Vielleicht willst du woanders hin, wenn dir die Musik hier nicht gefällt?“

„Warum gehen wir nicht endlich bumsen?“

So kam ich in dieses Hotel. Mein Kopf brummte und einzelne Teile des Abends liegen noch immer bedeckt unter einer dicken Eisschicht ohne Hoffnung auf eine baldige Klimaerwärmung. Wir waren mit dem Taxi losgefahren und ich weiß noch, dass sie meine Versuche, sie am Busen oder zwischen den Beinen zu berühren, effizient abgewehrt hatte. Ich hatte mehr getrunken als mir guttat und war so geil, dass ich mich am liebsten noch im Fond des Wagens auf sie geworfen hätte, was der indische Taxifahrer wohl mitbekommen haben musste, denn seine weißen Augen, die unter seinem Turban hervorstachen wie zwei Xenonlichter, waren mehr auf den Rückspiegel als auf die Straße geheftet. Wahrscheinlich hatte er auf Action gehofft, wie sie Bollywood-Filme selten bieten. Aber vielleicht hätte er auch nur angehalten und uns gesteinigt. In Indien geht man gegen Moralverstöße eher archaisch vor.

Bei jeder Ampel läutete Schneewittchens Handy und sie würgte die Gespräche genauso schnell ab wie meine Annäherungsversuche. Sie ließ sich in die Garage bringen und ich fragte mich, ob sie vermeiden wollte, dass man uns am Eingang gemeinsam sah. Wir stiegen aus und sie sagte, sie hätte noch kurz etwas zu erledigen. Sie drückte mir ihr Mobiltelefon in die Hand und ließ mich den Fahrer bezahlen. Als Ihr Handy abermals läutete, warf ich es genervt in einen Mistkübel.

Endlich waren wir im Zimmer. Aus der Minibar hatten wir uns einen Drink genommen. Ich saß am Bettrand. Wir hatten uns bislang nicht vorgestellt. Und genau genommen waren unsere Namen vollkommen egal. Dennoch sagte ich: „Du kennst nicht einmal meinen Namen.“

„Namen sind jetzt wurscht. Außerdem weiß ich genau, mit wem ich mich einlasse. Ich nenne dich einfach Mister Big.“ Sie machte eine Kunstpause und ihre Lippen schmollten mich äußerst sexy an, dann setzte sie nach: „Und ich hoffe, du enttäuscht mich nicht.“

Sie hätte mir nicht auf den Schritt schauen müssen, damit ich kapierte, was sie sich erhoffte, und ich überlegte, ob ich jetzt noch aus dieser Nummer herauskommen würde, bevor es zu peinlich für mich wurde. Aber wenigstens durfte ich meinen Namen für mich behalten. Ich heiße Cosinus Gauß. Das kommt davon, wenn man einen Vater mit diesem Nachnamen hat, der noch dazu Mathematikprofessor ist.

„Ich heiße Maria.“

„Für mich bist du Schneewittchen.“ In diesem Moment hätte ich wegen meiner Blödheit aus der Haut fahren wollen. Nicht schon wieder alles vermasseln!

Doch sie verzog nur die Mundwinkel zu einem schelmischen Grinsen und kleine Grübchen bildeten sich dabei auf ihren Wangen. Sie sagte: „Wusstest du nicht, dass Schneewittchen in Wirklichkeit Maria hieß?“

Ich wusste es nicht. Ich machte Augen wie ein Kindergartenkind, dem man ein Märchen vorliest.

Sie erklärte weiter: „Die Brüder Grimm hatten für die Figur des Schneewittchens Maria Magdalena als Vorbild.“

Mann war die gut! Sie konnte lügen, dass sich die Balken bogen und dass ich sie am liebsten gefragt hätte, ob sie bei mir in der Kanzlei einsteigen wolle. Doch ich wollte sie lieber ins Bett bekommen.

„Gib zu, auch das wusstest du nicht.“ Sie machte kleine Schritte auf mich zu. Bei jedem Buchstaben eine Zehenspitze näher zu mir. Dabei knöpfte sie ihre Bluse auf, schlüpfte aus den Schuhen und hatte ihre Augen zu Schlitzen verengt; wie eine Raubkatze bei der Jagd. In mir wuchs die Vorfreude und an mir noch etwas anderes.

Und genau in dem Moment, als sie die Bluse abstreifte und ich vom Bett hochschnellte, um sie mir zu nehmen, wurde mir schwindelig und ich sackte ohnmächtig zu Boden.

Ich erwachte in der beschriebenen Position, halb auf das Bett gestreckt. Die Matratze hatte mich aufgefangen und meinen Sturz gebremst. Dabei wäre eine Beule am Kopf im Moment das geringste Übel gewesen. Doch im Zimmer gemeinsam mit einer Leiche, das machte alles andere als einen schlanken Fuß. Ein Bild durchbohrte meine Vorstellung wie das Schwert des Magiers den Kasten mit der Jungfrau. Ich, wie ich auf Schneewittchen knie und ihr den Hals mit einem Skalpell durchtrenne.

Mir fehlt zum Glück das Panik-Gen, das manche Leute in prekären Situationen den Kopf verlieren und die Flucht antreten lässt. Selbst wenn man mir das Messer an die Gurgel setzt, bleibe ich rational. Das war jetzt natürlich ein blödes Bild, denn Schneewittchen hatte mir bewiesen, dass man mit dem Messer am Hals auch sterben kann.

Ich spielte meine Möglichkeiten durch. Aufstehen und abhauen war eine davon. Aber gut möglich, dass ich dann dem Portier in die Arme gelaufen wäre – oder der Polizei. Wer immer die Kleine auf dem Gewissen hatte, war sicher dankbar, in mir den passenden Sündenbock gefunden zu haben. Gut möglich, dass der Mörder bereits die Polizei verständigt hatte. Abhauen war also durchaus eine Option. Abhauen ja, aber überlegt.

Ich fragte mich, ob ich irgendwelche Personalien am Hotelempfang hatte angeben müssen. Doch dunkel hatte ich in Erinnerung, dass Schneewittchen die Magnetkarte für das Schloss an der Zimmertür bereits bei sich getragen hatte. Wir waren auch mit dem Lift von der Parkgarage direkt in die Etage gekommen, ohne irgendwelche Formalitäten zu erledigen. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Verschwinden war also die weit bessere Option, als hier zu bleiben und den nutzlosen Versuch zu unternehmen, der Polizei meine Unschuld zu erklären. Ich war das Bauernopfer, dem man die „smokin’ gun“ in die Hand gedrückt hatte und dem niemand glauben würde.

Ich blickte mich nochmals um. Ich hatte nichts mitgebracht und würde nichts mitnehmen. Das Dumme war nur, dass überall meine DNA verteilt war. Mit Fingerabdrücken hält sich die moderne Kriminalistik gar nicht mehr auf, wenn sie aus einem Speicheltröpfchen meine gesamte Genealogie herauslesen kann. Aus einer Wimper können die Techniker die Haarfarbe irgendeiner Urahnin aus dem Kaukasus bestimmen und aus den Sekretrückständen meiner Fingerkuppen beim Betätigen der Klospülung, nachdem ich meinen Schwanz ausgeschüttelt hatte, wahrscheinlich sogar den Zeitpunkt meines ersten Orgasmus bestimmen: Ich war 17 und es geschah neben dem Turnsaal im Gerätekammerl, dort hinter dem Barren mit Emily Werner. Emily war nicht sonderlich hübsch. Das Beste an ihr war der Geruch nach den Erdbeerschnüren, die sie den ganzen Vormittag über den Unterricht verteilt in sich stopfte. Sie hatte leichte Speckwulste um Bauch und Hüften, außerdem ein rundes Gesicht mit viel zu großen Brillen, aber sie hatte ordentliche Brüste und ließ die meisten von uns Jungs drüber, auch wenn wir uns nicht in ihr ergießen durften. Wenn sie merkte, dass ein Typ am Kommen war, drückte sie ihn aus ihrer Mitte hinaus und ließ ihn in ihre Hand spritzen. In guten Turnstunden schaffte sie zwei von uns. Einen zu Beginn, wenn das Zeugs für die Turnübungen herzurichten war, und den zweiten am Ende der Stunde, wenn es hieß „einpacken und umziehen“. Einer von uns durfte dann auspacken und sie ausziehen. Die Turnmatte, auf der wir es mit ihr trieben, wurde mit der Zeit ein Ejakulat-Biotop und mir taten die Kleinen aus den Unterstufen leid, die auf der verkrusteten, blau genoppten Oberfläche Übungen machen mussten.

Wie gerne wäre ich jetzt auf der pummeligen Emily Werner gelegen statt hier neben dem viel schöneren, aber toten Schneewittchen. Im nächsten Moment lag ich dann aber doch auf Schneewittchen. Ich drückte mich gegen ihren weichen, aber kalten Körper und versuchte, so gut es ging, sie mit meinem eigenen abzudecken.

„Sehen Sie nicht, dass Sie stören?“, presste ich heraus, meinen Mund auf das Gesicht der Leiche gedrückt.

„Oh, Entschuldigung …“

Das Zimmermädchen zog die Tür hinter sich zu und ich fragte mich, ob sie irgendetwas anderes gesehen haben mochte als zwei, die zur Sache kamen. Ich musste jetzt schnell sein. Den Plan, draußen den Brandmelder zu betätigen und dann einige Minuten zu warten, bis die Gäste das Hotel wegen des Alarms verlassen hatten, um das Zimmer in Brand zu setzen, verwarf ich wieder. So ein Feuer lässt sich schwer kontrollieren und ich würde nicht viel gewinnen, wenn ich meine Spuren vernichtete, um einen Mord, den ich nicht begangen hatte, zu vertuschen, dafür aber womöglich andere Menschen auf dem Gewissen hätte. Oder ich flüchtete vor den Flammen und zehn Sekunden später war das Feuer von der Sprinkleranlage gelöscht.

Das brachte mich auf eine andere Idee. Sicher war die Polizei schon auf dem Weg. Ich ging zur Tür und lauschte, ob vom Gang Geräusche zu vernehmen waren. Als ich nichts hörte, verließ ich das Zimmer und nahm den Feuerlöscher, wie er in jeder Etage angebracht war, aus seiner Halterung. Ich kehrte ins Zimmer zurück und begann den Löschschaum zu verteilen. Mit Schneewittchen fing ich an. Immerhin hatte ich gerade auf ihr gelegen. Sie verschwand unter dem weißen Schaum wie eine verirrte Tourengeherin im Winter, verschluckt von Eis und Schnee. Als nur mehr die Umrisse zu erkennen waren, tat sie mir plötzlich leid. Solange ich unter Anspannung stehe, ist das Empathiezentrum in mir blockiert. Mir geht es da wie den amerikanischen GIs, die, solange sie am Kämpfen und am Töten sind, kein Mitleid empfinden und die dann nach Jahren, als Veteranen, daheim durchknallen. Jetzt musste ich weinen. Das passierte mir manchmal und ich konnte es nicht kontrollieren. Ich musste aufpassen, dass ich nicht im Gerichtssaal in Tränen ausbrach.

Ich würde zu gern vergessen, wie es mich damals mitten in einer Scheidungsverhandlung überkommen war. Der Richter fragte sofort, ob etwas nicht In Ordnung sei, und ich musste eine Ausrede finden. Ich schützte vor, dass mir die armen Kinder unendlich leidtäten. Denn nach so einer Trennung waren sie entweder innerlich zerrissen oder sie würden als unnötiger Ballast hin und her geschoben werden. Das scheidungswütige Paar, das eben noch um die letzten stinkenden Socken gestritten hatte, fiel sich in die Arme und begann ebenfalls zu schluchzen. Die Scheidung wurde abgeblasen und ich verdiente viel weniger Geld. Das war der eigentliche Grund zum Weinen.

Jetzt war es Schneewittchen, die meine Emotion außer Kontrolle gebracht hatte. Mir tat aber auch leid, dass ich keinen Sex mit ihr gehabt hatte. Selbst als Leiche hatte sie noch ihren Reiz. Dieser Gedanke ließ mich den Kopf schütteln. Eine nekrophile Ader in mir wäre ebenso neu gewesen wie die des Gewalttäters, aber vielleicht zweifelte der Mörder an meiner Person und hatte deshalb ihre Schamlippen vernietet, um mich vom Sex mit einer Leiche abzuhalten?

Während ich diese Gedanken wälzte, war das Bett völlig unter der Decke aus Löschschaum verschwunden. Ich hoffte, dass ich nicht noch einen Feuerlöscher holen musste, weil der erste bald leer sein würde. Aber letztlich schaffte ich es, alles in dem Raum damit zu überziehen. Ich warf Schneewittchen einen letzten Blick zu, nahm ihre Tasche an mich, drückte dann am Gang das Glas für den Alarm ein, und während die Feuermelder ihr schrilles Pfeifen von der Decke warfen, nahm ich den Lift in die Garage. Unten fragte ich mich, wieso wir über die Garage kommen konnten, wenn wir doch mit dem Taxi zum Hotel gefahren waren.

Tote Vögel singen nicht

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