Читать книгу Tote Vögel singen nicht - Christian Klinger - Страница 9
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ОглавлениеAls ich heimkam, standen mir die Tränen in den Augen. Nicht wegen des verlorenen Geldes, das war ja nicht meines gewesen, es war noch immer wegen Schneewittchen. Als ich in den Lift stieg und die Taste für das Dachgeschoss drückte, hatte ich ihr Bild vom Vortag vor Augen. Niemand sollte mich mit nassen Augen sehen, also verschwand ich schnell in meiner Wohnung.
Man darf jetzt keine übertriebenen Vorstellungen haben, wenn man sich die Bleibe eines Rechtsanwalts unter dem Dach eines Hauses in Wien Margareten vor Augen führt. Als ich die Wohnung vor über zwanzig Jahren bezog, war die Gegend um einiges günstiger als heute und ich habe sie von einem Künstler übernommen. Allein mit dem Pfand der Bierflaschen, die ich in allen möglichen Ecken und Winkeln fand, konnte ich einen Monat lang die Betriebskosten zahlen. Schade, dass man für Schnapsflaschen nichts erhält, denn mit denen hätte ich auch noch die Miete gehabt.
Ich weiß nicht, welche Art Kunst der Mann gemacht hat, auf den paar großformatigen Bögen, die ich zwischen den Flaschen gefunden habe, klebten nur weibliche Genitalansichten, die er zu Hunderten aus Magazinen ausgeschnitten haben musste. Viele hatte er dann nachgemalt. Das Seltsame war, dass diese Collagen, aus der Ferne betrachtet, aussahen wie eine Galerie an Köpfen. Das Geschlecht war das Gesicht und die Schamhaare umkränzten es wie Frisur und Bart. Das Auge glaubte tatsächlich, eine Galerie männlicher Köpfe mit Bärten zu sehen, das war vielleicht die Botschaft, die der Künstler vermitteln wollte.
Ich fand auch noch ein paar Fotos, die bei seinen Ausstellungen entstanden sein mussten. Er posierte nackt auf den ganzen Frauenmösen. Die Plakate lagen um ihn herum am Boden. Der alte Mann hatte buschige Augenbrauen, lange, dünne Haare und einen dafür umso volleren Bart, der fast bis zum Nabel reichte. Sein Penis war klein und schrumpelig, wahrscheinlich vom vielen Alkohol verdorrt. Er übergoss sich dann mit einer klebrigen Flüssigkeit und wälzte sich auf den Plakaten, wo er mit seinem Bart wie mit einem Pinsel wilde Striche und Kleckse hinterließ.
Ich habe über den Mann weder einen Wikipedia-Eintrag gefunden noch den geringsten Hinweis, dass er je einen Preis erhalten hat. Offenbar ein echter Künstler, dessen Interesse nur seinem Werk, aber nicht dem Erfolg galt. An seinem siebzigsten Geburtstag hat er sich aus dem Fenster auf die Straße gestürzt und ich konnte die Wohnung günstig übernehmen. Zwei seiner Bilder habe ich sogar an der Wand hängen. Eines davon erinnert an eine Blume.
Ich kam traurig und pleite in die Wohnung, die sich seit meinem Einzug nur wenig verändert hatte. Weder hatte ich am Dach die Terrasse bauen noch im hohen Wohnraum die vom Makler empfohlene Galerie einziehen lassen. Neues Bad, Klo und Küche und ausmalen, das war’s gewesen. Für alles andere fehlte mir das Geld und tut es bis heute noch. Der Nachmittag hatte ein weiteres Loch in mein Budget gerissen, aber ich kann einfach nicht an so einem Spielautomaten vorbeigehen. Dabei dachte ich, dieses Laster endlich im Griff zu haben.
Ich zog die Jalousie zu und stellte den Fernseher an, während ich aus den Kleidern schlüpfte. Aus der Küche holte ich mir einen Gin Tonic, ließ aber den Gin weg, da ich jede Minute mit meiner Verhaftung rechnete. Ich hatte genug Strafverfahren geführt, dabei oft wahre Verbrecher herausgeboxt, zugleich aber auch wiederholt erfahren, wie Unschuldige von den Mühlen der Justiz zermalmt wurden. Geld und Glück entschieden oft genug über das Schicksal von Menschen. Ich hatte weder das eine noch das andere. Die Fakten sprachen gegen mich und selbst das kleine Ablenkungsmanöver im Hotel würde mich nicht lange retten können. Die Leiche war gefunden und spätestens heute Abend oder morgen würde die Kriminalpolizei die letzten Stunden Schneewittchens rekonstruiert haben.
Als ich mich vor dem Fernseher niederließ, lief der erwartete Bericht über eine heute Morgen in einem Wiener Hotel gefundene Frauenleiche. Man kenne die Identität des Opfers, sagte der junge Fernsehsprecher mit eindringlichem Blick in die Kamera, der bei mir den Eindruck erweckte, als wollte er direkt zu mir sprechen. Maria Schneider habe als Treuetesterin für eine Agentur gearbeitet, sprach der Ansager weiter und die Polizei sei auf der Spur des letzten Opfers der als Lockvogel tätigen Frau. Ich drückte mein Glas fester in der Hand und zwang mich ganz ruhig weiter zu atmen. Kontrolle war wichtig. Ich vermeinte die Glocke läuten zu hören und dazu die Worte: Cosinus Gauß, ich nehme Sie wegen des dringenden Verdachts des Mordes an Maria Schneider fest. Doch das war nur meine Fantasie, die mir den Blick in diese meine nächste Zukunft offenbarte. Dann wurde ein verschwommenes Standbild aus einer Überwachungskamera eingeblendet, das mich am Gang mit dem Löscher zeigte. Das Bild wurde gegen eine scharfe Aufnahme ausgetauscht. Ein Profilbild aus Facebook. Doch das war nicht ich. Daneben das Insert: Erste Spur führt zu Verdächtigem aus Wirtschaft.
Ich stellte mein Glas am Couchtisch ab, bevor es Gefahr lief, endgültig in meiner Hand zerdrückt zu werden. Die Polizei habe sich auf die Spur der letzten Zielperson des Opfers gemacht: ein gut vernetzter Immobilientycoon, der aber für eine Befragung noch nicht greifbar gewesen sei. Ich kannte den Mann: Sigurd Renko. Das war jener Finanzjongleur, der taumelnde Kaufhausketten in sprudelnde Geldquellen verwandeln konnte und ein Großprojekt nach dem anderen durchzog. Einkaufszentren, Fußballstadien oder Luxushotels. Zuletzt jedoch war er finanziell selbst in Schieflage geraten, wie man in Insiderkreisen munkelte. Es war mein Glück, dass Dragana ein Society-Freak war und immer den neuesten Klatsch aus der Welt des Adels und der Hochfinanz kannte. Sie behauptete immer, ich müsste einen dieser Fische an Land ziehen, dann hätten wir ausgesorgt.
Mir fiel ein, dass sie erzählt hatte, dass Renko auf Freiersfüßen wandelte und dass bald die Hochzeit mit Sylvie Vangurten, der Erbin einer Kaufhauskette, anstehen würde. Wenn die Gerüchte stimmten, dann war das auch die nötige Kapitalspritze für sein Imperium. Schwer zu sagen, was an den Gerüchten stimmte, doch so ergab das alles für mich ein schlüssiges Bild. Der Mann brauchte Geld, die Braut brachte das Geld und die argwöhnische Verwandtschaft wandte sich an eine Lockvogelagentur, um die Zuverlässigkeit des anstehenden Familienmitglieds zu testen oder, wenn man ihm die Freiheit eines Seitensprungs vielleicht sogar noch zugestehen wollte, um ihn im Zuge des Liebesgeflüsters über seine wirtschaftlichen Pläne auszuhorchen. Man wollte sicher nicht den Judas zum Messias machen. Ich stellte mir vor, was ich nach einer Hochzeit mit so einer schwerreichen Braut mit den dann zur Verfügung stehenden unbeschränkten Mitteln alles anstellen würde. Warum ist der Lockvogel ausgerechnet an mich geraten?
Mein Telefon läutete und die Nummer am Display bereitete mir umgehend Unbehagen. Es gibt nicht nur zwei Arten von Anrufen, die der Anwalt fürchtet, es gibt noch eine dritte Kategorie, die man als Mann fürchtet: Anrufe der eigenen Mutter.
Offenbar fühlen sich Mütter gerade bei alleinstehenden Männern bemüßigt (oder sie nehmen sich das Recht heraus), immer über jeden Schritt ihrer Sprösslinge informiert zu sein, wenn diese in ihren Augen familientechnisch gescheitert sind oder zumindest nicht ihren Ansprüchen genügen. Weil ich ihr weder Eheweib noch Nachwuchs bieten konnte, dachte sie wohl, ich wäre schwul oder aber nicht für eine längerfristige Partnerschaft geeignet. Dieses womöglich eigene Scheitern wurde also ständig hinterfragt und sie rief mich bei allen möglichen unpassenden Gelegenheiten an. Im Verhandlungssaal, wenn der Richter seine Kappe aufsetzte, um meinen Mandanten für zwanzig Jahre hinter Gitter zu bringen, oder eben jetzt, wo ich jede Minute mit meiner Verhaftung rechnete.
„Hast du gerade die Nachrichten gesehen?“
Jetzt wurde sie mir unheimlich und sofort reimte sich mein Hirn zusammen, dass sie hinter der Sache mit Maria Schneider stecken könnte. Ein Test, um meine sexuelle Orientierung zu erkunden.
„Ja“, sagte ich, „warum?“
„Hast du das mit diesem schrecklichen Mord an dem armen Mädchen gesehen?“
Also doch!
„Ja, warum?“
„Ist dir dabei nichts aufgefallen?“
Ich schüttelte den Kopf. Auf einmal war ich wieder der kleine Bub, der vergessen hatte, sein Jausenbrot zu essen, und dafür Schimpfe bekam. Nach einer Schrecksekunde sagte ich gefasst: „Was soll mir dabei aufgefallen sein?“
Natürlich war mir was aufgefallen. Ich war in den letzten zwei Tagen wiederholt vom Mordopfer angesprochen worden, ich hatte die Nacht neben ihr verbracht und ich war neben ihrer Leiche aufgewacht. Man müsste ein Meister der Verdrängung sein, um das alles nicht bemerkt zu haben, aber das sagte ich nicht.
„Dieser Sigurd Renko sieht fast so aus wie du!“
„Aber der ist doch fett“, antwortete ich jetzt empört, ohne nachzudenken.
„Aber mein Bärchen, ihr seht eben beide stattlich aus.“
Sinnlos, über den verklärten Blick einer Mutter zu diskutieren. Ich konnte nicht anders, als mich zu erheben und zum Spiegel im Vorraum zu gehen. Der gehörte wieder einmal geputzt, war mein erster Gedanke, als ich mein Ebenbild in den Schlieren betrachtete.
„Vielleicht hast du recht“, sagte ich, bevor ich mich verabschiedete und auflegte. Ich stand noch einige Minuten vor dem Spiegel und knetete an meinen Rundungen. Ich fragte mich, ob die Gefängniskost entsprechend kalorienarm sein würde, wusste aber um das Bild einiger ehemaliger Klienten, die an diesem Ort noch dicker geworden waren.
Leider hatte meine Mutter nicht ganz unrecht, wenn sie mir eine optische Ähnlichkeit zu Renko zumaß. Wir hatten beide diese Backen, die das Gesicht kreisrund erscheinen lassen, wie man das von Kinderzeichnungen kennt. Mein Kinn war vielleicht etwas ausgeprägter und länger, doch auch die eher kleine und knubbelige Nase hatten wir gemein. Renko hatte zwar eine andere Frisur und Haarfarbe, aber auch das eher dünne Haar, das sich um den Kopf legte, teilten wir. Bei schlechtem Licht hätten wir als Brüder durchgehen können.
Mein Telefon läutete abermals. Wieder meine Mutter. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte ich das Wort ergriffen: „Du musst dich vorhin völlig getäuscht haben. Ich und Renko, wir haben optisch nicht viel gemein.“ Und auch sonst nichts, sagte ich zu mir, als ich an seine Millionen dachte.
„Deswegen hab ich jetzt gar nicht angerufen“, sagte meine Mutter. „Ich habe vorhin vergessen, dir zu sagen, dass ich morgen bis zum Wochenende wegfahre. Es wäre toll, wenn sich in der Zeit jemand um Papa kümmern könnte. Red’ dich mit deinem Bruder zusammen.“
Das hatte gerade noch gefehlt. Weder hatte ich Lust, den alten Trottel, der nur mehr vor sich hin sabberte, zu besuchen, noch wollte ich mit meinem Arschloch von Bruder deswegen reden müssen. Ich hatte jetzt etwas anderes zu tun. Ich musste mich auf die Spur von Maria Schneider machen. Und diese Spur führte mich zuerst zu Sigurd Renko.
Ich rief Dragana an. Die war es gewohnt, dass ich sie öfter des Abends anrief. Meist war ich dann betrunken und versuchte sie zu überreden, mit mir zu schlafen. Es klappte nie. Vermutlich sehnte ich mich auch gar nicht nach Sex, sondern wollte nur mit jemandem reden und dabei eine vertraute Stimme hören.
„Bist du um diese Zeit schon dicht?“, fragte sie anstelle einer Begrüßung.
„Warum?“ entgegnete ich. „Wie kommst du darauf?“
„Wenn du am Abend bei mir anrufst, dann nur, weil du mit mir bumsen willst.“
Ich lachte ins Telefon und sagte: „Nein. Ich brauch etwas anderes von dir. Du kennst dich doch in der High Society so gut aus. Was weißt du über Sigurd Renko?“
Ich hörte sie ins Telefon atmen und konnte bildlich die Zahnrädchen in ihrem Hirn rattern sehen, als sie sich jetzt vermutlich fragte, ob das ein Ablenkungsmanöver sein könnte, um sie letztlich doch wieder ins Bett zu bekommen. Bevor die Pause zu lang wurde, sagte sie: „Ziemlich viel. Ich hoffe, du hast Zeit.“
Zum Glück musste ich nicht weit fahren. Es war ein typisches Häuschen in einer Wiener Vorstadtgegend. Die Hecken hoch, die Gärten klein und die Garagen auch. Und da jeder hier einen Zweitwagen hatte, waren die engen Gassen auf beiden Seiten zugeparkt. In den meisten Wohnzimmern war der Fernseher an.
Kalksburg war vor allem wegen seiner Trinker bekannt, jener Alkoholaffinen, die es übertrieben hatten und jetzt auf Entzug dorthin kamen. „Genesungsheim Kalksburg“ hatte diese Sonderanstalt bei der Eröffnung im Jahr 1961 geheißen, was doch eine sehr drollige Umschreibung für den Zweck dieser Klinik war. Die Säufer hatten sich das Hirn vom Hochprozentigen zersetzen lassen und wurden hier wieder mit Wasser aufgefüllt und waren dann – oh Wunder – genesen. Wie bei einer Dialyse wurde hier der Alkohol aus den Adern herausgespült und durch reines Hochquellwasser ersetzt.
Eine frische Brise kam auf und trug den Duft der blühenden Hecken zu mir. Ich näherte mich im schwankenden Licht der Straßenlaternen der Eingangstür jenes Hauses, das mir Dragana als die richtige Adresse genannt hatte. Sie bezog sich dabei auf ein sehr frühes Interview des Latifundienmoguls, worin er auf seine Jugend zu sprechen kam. Damals sei er mit seinem besten und einzigen Freund durch dick und dünn gegangen. Auch die eine oder andere Jugendsünde habe man dabei begangen. Doch mit den Jahren sei der Kontakt letztlich abgebrochen.
„Wenn er irgendwo abgetaucht ist, dann nur bei Josef Frantisek“, hatte Dragana behauptet.
Angeblich waren die beiden als Jugendliche beim Dealen am Schulhof erwischt worden und Frantiseks Vater, ein leitender Beamter beim Magistrat, hatte das dann irgendwie ins Reine bringen müssen. Ich dachte mir, dass einem ein Talent für das Handeln und Geschäftemachen in die Wiege gelegt sein musste. Renko hatte diese Gabe offenbar von klein auf gespürt und sich schon damals nicht von Gesetzen oder Konventionen leiten lassen. Nur so kommt man weiter, dachte ich mir, bevor Dragana erzählte, dass sich die Sache aber schnell glattbügeln ließ, weil die beiden Kumpane nur getrocknete Kräuter angeboten hatten. Sie habe die Geschichte einmal von einem Polizisten erfahren. Der meinte aber, dass die beiden durchaus noch andere Sachen am Kerbholz hätten, jedoch nichts, das sich beweisen lasse.
„Wenn du irgendwo untertauchen musst, dann tust du das nicht bei jemandem, dem du vertraust, nein, das tust du bei jemandem, den du in der Hand hast. Macht zumindest mein Mann immer so“, hatte Dragana dann die Unterhaltung beendet.
Ich fragte mich, ob sie etwas mit diesem Polizisten hatte, und gestand mir ein, in diesem Moment so etwas wie Eifersucht zu verspüren.
Vor einem Gartentor aus grau lackierten Metallstreben und mit einem hässlichen Türknauf, wie man sie selbst vor dreißig Jahren nur mehr an ganz wenige Menschen verkaufen konnte, kam ich zu stehen. Frantisek stand neben der Glocke und ich betätigte diese trotz der vorgerückten Stunde. Durch einen der Gitterstäbe konnte ich sehen, wie sich etwas im Haus bewegte. Ein besonders schlauer Zeitgenosse schob einen Vorhang etwas zur Seite und blickte zum Gartentor. Ich drückte nochmals den Knopf. Diesmal so lange, dass ich das Summen bis zu mir auf die Straße hören konnte. Kein Wunder, hier war es so ruhig, dass ein Mäusefurz als nächtliche Ruhestörung zur Anzeige gebracht worden wäre. Der Vorhang fiel in seine Ausgangsposition zurück.
„Gehen Sie weg, sonst hole ich die Polizei!“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher.
„Machen Sie das, die freut sich sicher, Herrn Renko endlich verhören zu können.“
Ein Summen ertönte und ich konnte die Tür aufdrücken. Ich ging über einen mit Steinplatten ausgelegten Weg auf drei Stufen zu, die in das Haus führten. Die Eingangstür, in deren Blatt einige bunte Milchglasscheiben eingelassen waren, wurde von einem Mann um die vierzig geöffnet. Er trug ein altes, ausgewaschenes T-Shirt und Boxershorts. An den Füßen Sandalen. Er fuchtelte mit der Rechten durch die Luft und zischte in meine Richtung: „Schnell, machen Sie schon, nicht dass Sie jemand sieht.“
Ich liebe diese Wiener Außenbezirke. Jeder behält den anderen im Auge. Untertags lächeln sich die Nachbarn freundlich zu und am Abend zerreißen sie sich das Maul über den andern. Rundumüberwachung. Nicht einmal der Innenminister in einem Polizeistaat würde so etwas derart lückenlos und flächendeckend hinbekommen. Frantisek zog mich ins Haus und drückte eilig die Tür zu. Er musterte mich. Ich war unrasiert, mein hellblaues Jackett sicher zerdrückt und mein Hemd hatte am Hals seit dem Mittagessen einen Fleck. Aber es ging hier nicht um mich.
„Was wollen Sie?“, fragte Frantisek.
„Er will zu mir.“
Renko tauchte in der Tür hinter dem Hausherrn auf. Wir sahen uns einen Moment schweigend an und ich nehme an, Renko ist es ähnlich gegangen wie mir. Als ob man ein verzerrtes Spiegelbild in einem dieser Kabinette im Prater betrachten würde. Man ist es und dann doch wieder nicht. Der Anflug eines Lächelns zeichnete sich auf Renkos Lippen ab. Und auch ich verzog meine Mundwinkel. Was hätte ich für Vorteile aus diesem Look-Alike ziehen können? Mein Bankberater, der mit mir Geduld aufbrachte wie mit einem unehelichen Sohn, hätte als Zeuge dieses Aufeinandertreffens sicher gern meinen Kontorahmen aufgestockt. Einem wie Sigurd Renko warf man das Geld nach und zur Not auch einem, der wenigstens so aussah wie Renko.
„Kommen Sie doch rein“, sagte der Finanzprofi und Frantisek machte einen Schritt zur Seite und damit den Weg ins Wohnzimmer frei.
Wir saßen auf einer Lederlandschaft und jeder von uns hatte ein Glas Whisky vor sich am Glastisch stehen. Im Wohnzimmer, das von der Einrichtung moderner wirkte als die Siebzigerjahre-Villa von außen, waren halb leere Flaschen und Pizzakartons verteilt.
„Meine Frau ist für ein paar Tage verreist und die Haushälterin hat sich den Fuß verstaucht“, erklärte Frantisek, doch ich spürte, dass dies nur die halbe Wahrheit war.
„Wie haben Sie mich gefunden?“, fragte Renko, der trotz dieser Tatsache einigermaßen ruhig wirkte. Offenbar vertraute er jemandem, der ihn an sich erinnerte.
Diesen Fehler würde ich nie machen, denn ich war wohl am wenigsten die Person, der man vertrauen durfte. Ich sagte: „Waren Sie gestern bei der Charity in der Diskothek im Volksgarten?“
„Ich hatte zwar eine Einladung, war aber nicht dort.“
„Wo waren Sie?“
„Warum sollte ich Ihnen das sagen?“
„Weil ich womöglich Ihr Alibi bin. Denn ich habe die Nacht mit Maria Schneider verbracht. Aber ich habe sie nicht umgebracht.“
In dem Moment ärgerte ich mich über mich selbst. Woher konnte ich denn wissen, dass in der Zeit, als ich weggetreten war, nicht genau Renko im Hotel aufgetaucht war und sein makabres Spiel mit Schneewittchen getrieben hatte? Doch auch Renko hatte ein Alibi. Aber es war eines, das ihm, wäre es publik geworden, ebenso seine Pläne zunichtegemacht hätte, wie es nun der vermeintliche Mord an Maria Schneider war.
„Verstehen Sie“, sagte er, „diese Hochzeit ist für mich wichtig, denn mit meinen Immobilen und dem Geld der Vangurtens, den Hotels, den Beziehungen und vor allem mit dem Namen werden Sylvie und ich nicht zu halten sein.“ Er sprach von dieser Hochzeit wie von einer Firmenfusion, und das war es ja auch. Liebe war hier zweitranging, wichtiger war die Zuneigung der Bankkonten. „Was jedoch keiner von uns braucht, ist ein Skandal. Und jetzt hat genau meine Schwiegermutter in spe für diesen Skandal gesorgt.“
„Und Sie meinen, wenn Sie sagen, warum Sie gestern abgetaucht sind, würde das auch so etwas bewirken?“
„Ganz sicher. Das darf niemand wissen. Nicht bis zur Hochzeit und danach werden alle weiter schweigen.“
Ich trank aus und verabschiedete mich mit dem Versprechen, dichtzuhalten. Renko hatte mir einen ansehnlichen Betrag in Aussicht gestellt, würde ich den wahren Täter überführen und ihn damit aus der Schusslinie bringen. Als ich ihn nach einem Vorschuss fragte, erklärte er mir, dass er derzeit leider nicht an sein Geld könne, ohne die Polizei auf seine Fährte zu locken. Wir verabschiedeten uns und ich fragte mich, was es wohl war, das Frantisek derart an ihn ausgeliefert hatte. Während des gesamten Gesprächs hatte er gewirkt, als säße er neben einem Entführer vom IS.
Ich war müde und die Option, mich der Polizei zu stellen, gewann an Reiz. Ich hatte zwar einiges erfahren, aber leider nichts, was mich in der Sache Schneider weiterbrachte. Ich würde also morgen mein Glück bei der Agentur versuchen müssen.