Читать книгу Auf getrennten Wegen - Christian Linberg - Страница 23

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1 - 21 Ein Besuch in der Stadt -

Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung waren sie endlich abmarschbereit. Zwei Tage Ruhe und Anayas Pflege hatten wieder einmal Wunder gewirkt. Kmarr konnte sich langsam bewegen, ohne dass die Wunden aufbrachen. Den ganzen Tag über hatten sie sich äußerst ruhig verhalten. Anaya hatte bereits am Morgen begonnen, ihre Gerüche zu verwischen. Kmarrs Nase diente ihnen als Anhaltspunkt. Als er bestätigte, dass er Anaya nicht mehr wahrnehmen konnte, hatten sie ihr Gepäck verstaut, um abmarschbereit zu sein.

Im Laufe des Tages hatte Anaya vorsichtig die Würgedornranken umgebogen um dort, wo die wenigsten Blutbäume lauerten, einen Durchgang zu schaffen.

Jetzt trennte sie nur noch eine dünne Wand aus Blättern und jungen Trieben von den alptraumhaften Kreaturen.

Anaya würde zunächst alleine gehen, nur mit ihrem Bogen, Dolchen und einem gut gefüllten Köcher voller Pfeile.

Sie würde die Blutbäume fort locken.

Kmarr würde ihr folgen, aber eine andere Richtung einschlagen. Da kein Wesen zu Fuß einer Druidin aus Galladorn gewachsen war, würde Anaya wieder zu ihm stoßen, sobald sie die Blutbäume abgehängt hatte.

Auch wenn sie sich eine Zeitlang trennen mussten, waren beide zuversichtlich, ohne Probleme entkommen zu können.

Als es Zeit war, umarmten sie sich einmal leise, dann huschte Anaya durch die Öffnung davon, die sich auf ihr Geheiß hin gebildet hatte. Um schneller laufen zu können, hatte sie ihre Beine verlängert. Außerdem hatte sie ihre Nasenflügel erweitert, damit sie besser Luft bekam.

Wie ein Pfeil von der Sehne eines Bogens sprang sie davon. Sie gab sich keine Mühe ungesehen zu bleiben, trotzdem wäre sie beinahe unbemerkt geblieben. Nur weil sie einen Pfeil tief in den Stamm eines Blutbaums versenkte, gelange es ihr, ihre Aufmerksamkeit zu wecken.

Eine Welle durchlief die Kreaturen, als sie sich wankend umwandten. Dabei verhedderten sie sich mit ihren Ästen und Wurzeln. Kreischend schwankten sie auf Anaya zu, die dreißig Schritte entfernt wartete. Sie schoss einen zweiten Pfeil auf ein weiteres Ziel ab, bevor sie eine Seillänge weiter sprintete, um nochmals einen Schuss auf einen dritten Baum abzugeben.

Jetzt folgte ihr praktisch die ganze Horde unter wütendem Gekreische.

Anaya hielt immer wieder an, um einen Pfeil nach dem anderen in den unbeweglichen Zielen zu versenken.

Rasch hatte sie ihre Verfolger über die Hügelkuppe geführt. Kmarr beobachtete, wie die letzte Baumkrone außer Sicht verschwand.

Mühsam zwängte er sich kriechend durch die dornige Öffnung ins Freie. Die Wunde in seiner Seite pochte heftig. Er musste eine Welle von Übelkeit niederringen, bevor er sich keuchend erhob.

Die Landschaft hatte sich völlig verändert. Schnee bedeckte nun die schlammigen Hügel, kalte Nordwinde ließen ihn frösteln.

Er blickte sich gründlich um, um eine weitere Überraschung zu vermeiden. Erst als er sich sicher war, keinen Leichensammler übersehen zu haben, setzte er sich in Bewegung.

Beladen mit dem gesamten Gepäck von ihnen beiden, humpelte er auf die Krücke gestützt nach Norden.

Anaya hatte seine Gehhilfe aus dem Baumstamm gefertigt, der ihn durchbohrt hatte.

Während er vorsichtig seinen Weg suchte, nahm er sich vor, aus dem Holz hinterher einen Griff für eine Axt zu schnitzen.

Doch zunächst musste sie so lange halten.

Das Kreischen der Blutbäume hatte sich unterdessen weiter entfernt.

Dem Anschein nach, hatte Anaya beschlossen, sie in einem sehr weiten Bogen weg zu führen.

Unbehelligt erreichte Kmarr daher den Fluss, der an der Stadt vorbei floss, in dem sie das Siegel aufgespürt hatten.

Die schlammige Brühe hatte Teile des Ufers verschluckt. Büsche, Bäume und Ruinen ragten aus den Fluten empor.

Ohne Brücke, Boot oder Floß war es unmöglich, an das andere Ufer zu gelangen.

Er blickte sich suchend um. Nirgends fand sich ein Hinweis auf eine solche Gelegenheit. Mit Ausnahme der Stadt selbst, und dorthin wollte Kmarr nicht unbedingt zurückkehren.

Allerdings machten auch die wenigen Bäume keinen vertrauenserweckenden Eindruck.

Um aus ihnen ein Floß zu bauen, bedurfte es schon eines mittleren Wunders – selbst mit Anayas Fähigkeiten.

Seufzend wandte er sich in Richtung Stadt.

Bevor er mehr als zwei Meilen zurückgelegt hatte, holte Anaya ihn ein.

Leichtfüßig trabte sie heran. Sie wirkte nicht besonders erschöpft. Ihr Atem ging beinahe normal. Nur ihr Köcher war zur Hälfte leer.

„Durch die Stadt?“, fragte sie ernst.

„Siehst Du eine andere Möglichkeit?“

„Nicht mit Deiner Verletzung. Wir müssten in weitem Umkreis Bäume fällen und zum Fluss schaffen. Dazu bist Du im Augenblick zu schwach.“

Kmarr nickte: „Schnell bin ich aber auch nicht gerade. Wie willst Du denn die Wächter bezwingen?“

Die Geister der einstigen Bewohner hüteten ihre Heime eifersüchtig.

Sogar die Straßen und Häuser selbst waren lebendig geworden, um sie zu verschlingen. Nur knapp war es ihnen einmal gelungen, das felsige Plateau zu erreichen, das aus der Mitte der Insel emporragte, auf der der größte Teil der Stadt lag.

Anayas stimme hatte einen tiefen Klang angenommen: „Ich bin jetzt lange genug hier im Land. Seine Geister haben mich erkannt. Sie werden uns passieren lassen.“

„Das wollte ich hören. Dann los, bevor noch irgendwas dazwischen kommt.“

Der Weg war weder weit noch beschwerlich, trotzdem dauerte es den halben Tag, bis sie den Außenbezirk der Stadt erreicht hatten, vorbei an einzelnen Gehöften und verwahrlosten Feldern.

Einstmals mochten diese fruchtbare Ernten eingebracht haben, doch nun gab es hier nichts außer verdorrtem, wildem Hafer.

Nur einmal duckten sie sich hinter die Reste einer Scheune, als in der Ferne eine Schar alptraumhafter Reiter vorüber zog.

Im frühen Morgenlicht beleuchteten die Strahlen der Sonne verdrehte Wesen, bei denen sie nicht sicher waren, wo die Rösser aufhörten und die Reiter begannen. Teile der Tiere und auch der Gestalten darauf bestanden aus Stein.

Dem einen Pferd fehlte der Kopf, dafür bestand der Rumpf und ein Bein aus Teilen einer Backsteinmauer.

Der Reiter daneben besaß gar keine Beine, sein Oberkörper ragte direkt aus dem Rumpf des Pferdes, und statt eines Armes ragte ein spitzer Holzbalken wie eine Lanze über den Hals seines Pferdes nach vorne.

Bei einem anderen Reittier konnten sie durch den Brustkorb hindurch sehen, weil es an dieser Stelle ein kleines, steinernes Fenster mit einem einzelnen Holzladen hatte, der bei jedem Schritt klappernd auf und zu schlug.

Wieder einer der Reiter verfügte über ein Rückgrat aus einem Holzbalken, der hoch über dem Kopf endete. Es dauerte einen Moment, ehe sie die daran hängenden Gebilde als Dachziegeln erkannten.

Der Reiter dahinter schwankte so stark hin und her, dass es so wirkte, als ob er jeden Augenblick durch von seinem Pferd zu fallen drohte. Sonst wirkte er beinahe normal, bis sie erkannten, dass es sich offensichtlich um eine Statue handelte.

Anaya und Kmarr beobachteten die verzerrten Gestalten, durch die Lücken zwischen den vermoderten Brettern der einstigen Scheune, bis sie in der Ferne verschwunden waren.

Schaudernd wandten sie sich ab, um sich wieder auf den Weg zu machen. Es dauerte eine Weile, ehe Kmarr seine Sprache wieder fand: „Wie kann man seinem Volk nur solch eine Grausamkeit antun?“

„Ihre Lebenskraft war sehr stark. Sie sind fest mit dem Land verbunden.“

„Das kann ich auch sehen. Aber das bedeutet nicht, dass sie glücklich sind oder sich wohl fühlen.“

„Wie es ihnen geistig geht, kann ich Dir nicht sagen. Wenn ich raten müsste, reicht mir der Blick in die Gesichter der Geister völlig, um darüber zu entscheiden.“

„Ich bin Deiner Meinung. Hoffen wir für sie, dass sie bei ihren Göttern irgendwann Gehör finden und erlöst werden.“

Noch vorsichtiger setzten sie ihren Weg fort. Aus der Entfernung beobachteten sie, dass ihr kurzer Besuch vor ein paar Tagen die Bewohner der Stadt anscheinend aus einem langen Schlaf gerissen hatte.

Immer wieder mussten sie sich vor plötzlich auftauchenden Geistern verbergen, als sie sich durch die Unterstadt auf die Stadtmauer zu schlichen.

Auch auf den Resten der Mauer bewegten sich groteske Gestalten, halb Mensch halb Mauerwerk.

Wellen, wie sie ein Wal im Meer knapp unter der Wasseroberfläche verursachte, bildeten sich unter den Pflastersteinen der Straßen. Manchmal nur kurz, manchmal rasten sie regelrecht kreuz und quer, doch zum Glück kam keine von ihnen in ihre Nähe.

„Wird wohl doch schwieriger, als ich gehofft habe.“

Anaya hatte sie bis auf eine Seillänge an eine Lücke in der Stadtmauer herangeführt. Jetzt hockten sie im Schatten eines eingestürzten Stalles, der sich einstmals an die Mauer gelehnt hatte.

„Du konntest nicht mit solcher Aktivität rechnen. Außerdem: bis jetzt hat uns noch niemand entdeckt.“

Die schlanke Aliana nickte: „Danke. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob wir es schaffen. Vielleicht sollten wir umkehren.“

„Das ist nur eine kurzfristige Lösung. Unser Aufenthalt in Narfahel würde sich unnötig verlängern. Hier kennen wir wenigstens die Herausforderungen.“

„Wie Du meinst. Ich gehe zuerst durch die Lücke. Sobald ich auf der anderen Seite bin, folgst Du mir. Wir halten uns in den Randbezirken.“

Ohne auf seine Antwort zu warten, huschte sie voran.

Kmarr bemerkte, dass sie ihre Hufe zu weit ausladenden Krallen geformt hatte, die ihr auf dem Schutt besseren Halt boten.

Zugleich hielt sie ihren Bogen schussbereit. Elegant wie eine Bergziege, erkletterte sie den Geröllhaufen, der zu der Bresche in der Mauer führte, die in fünf Schritt Höhe begann und bis zur Mauerkrone in sechs Mannslängen Höhe reichte.

Sie war gerade breit genug, dass er ohne Mühe hindurch gelangen konnte.

Naurim war die leichtfüßige Aliana verschwunden, begann er mit dem Aufstieg. Jeden Augenblick rechnete er mit Alarmrufen. Sein Rücken juckte von den Blicken, die er dort zu spüren glaubte.

Quälend langsam stolperte er nach oben, immer wieder rutschten kleinere Felsbrocken nach unten oder knirschten unter seinem Gewicht, so als würden sie jeden Augenblick nachgeben.

Gerade als er mitten in der Bresche steckte, hörte er über sich ein Geräusch. Bewegungslos verharrte er an Ort und Stelle.

Schweiß brannte in den Wunden, seine Muskeln zitterten vor der Anstrengung, ruhig zu bleiben.

Dennoch bemerkte er fasziniert, wie ein Wächter der Stadt die Luft über der Bresche betrat, ganz so, als wäre dort oben noch immer ein Wehrgang. Wie der Soldat dabei etwas sehen oder festhalten konnte, war Kmarr ein Rätsel, denn der Mann hatte weder Arme noch einen Kopf. Trotzdem bewegte er sich ganz natürlich und auch Speer und Schild, die vor ihm herschwebten, machten den Eindruck, als würden sie von unsichtbaren Händen getragen.

Anaya konnte er nirgends entdecken, obwohl sie sicher eingreifen würde, sollte der Wächter ihn bemerken.

Kmarr bewegte sich erst wieder, als die Schritte gänzlich verklungen waren. Langsam atmete er aus.

Mit zitternden Knien schwer auf seine Krücke gestützt, stolperte er unsicher den Schutthaufen auf der Innenseite der Stadtmauer wieder hinunter.

Der Abstieg wurde zusätzlich durch eine glitschige, stinkende Schlammschicht erschwert, die alles zu bedecken schien. Wände, Dächer, Straßen. Ein weiterer Beweis der Gewalt, mit der die Flutwelle über die Stadt hereingebrochen war. Beinahe fünf Schritte hoch reichte die Linie entlang der Innenseite Stadtmauer, die der Höchststand der Flut hinterlassen hatte. Weiter im Inneren der Stadt konnte er Gebäude erkennen, an denen die Flutmarken deutlich höher hinauf reichten.

Die Beobachtung machte Kmarr beinahe beiläufig, denn hauptsächlich versuchte er auf dem Schuttberg nicht den Halt zu verlieren.

Die meiste Zeit war sein Blick daher auf seine Füße gerichtet.

Als er schließlich keuchend unten stand, tauchte Anaya zwischen zwei Häusern aus einer kleinen Gasse zu seiner Linken auf. Sie winkte ihn herein, bevor sie den Bogen hob, um über ihn hinweg ein Ziel auf der Mauer im Visier zu behalten.

Der Durchgang war so schmal, dass Kmarr sich drehen musste, um überhaupt hindurch zu passen.

Am anderen Ende lenkte Anaya ihn mit der Hand an der Hüfte nach rechts, in eine kleine Seitenstraße, in der einstmals Tuchhändler ihre Häuser gehabt haben mussten, jedenfalls besagten die verdreckten Schilder das, die an rostigen Ketten oder Haken baumelten.

Anaya marschierte schnurstracks über die Straße und betrat auf der anderen Seite eines der Häuser, dem praktisch die gesamte Front fehlte.

Kmarr folgte ihr langsam. Als er sich unter den Resten des Türsturzes hindurch duckte, entdeckte er, dass Anaya das Gebäude nicht zufällig ausgewählt hatte, denn dahinter schloss sich – getrennt von einem kleinen Innenhof eine Färberei an. Große, nunmehr mit schlammigem Flusswasser, Schutt und Treibgut gefüllte, steinerne Gruben von zwei Schritt Durchmesser erstreckten sich, in vier Reihen angeordnet, fast fünfzig Schritte weit unter einem hohen, löchrigen Dach bis zu einem breiten Tor. Das Dach ruhte auf steinernen Säulen, von denen die meisten noch intakt waren.

Dort, wo früher Ware angeliefert wurde, standen zwei vermoderte Wagen. Einem fehlten die Räder, der andere lag auf der Seite, halb eingefallen.

Anaya war bereits bis zum Tor geschlichen. Sie spähte durch einen der Risse im Holz nach draußen.

‚Breite Straße‘, signalisierte sie ihm in der Zeichensprache der Diebe von Rellinn.

‚Bewegung?‘, fragte er in gleicher Weise zurück.

Sie nickte. Mit einer Geste lud sie ihn ein, sich selbst einen Überblich zu verschaffen.

Als er durch eine andere Lücke im Holz spähte, wurde er Zeuge, wie direkt auf der anderen Seite des brüchigen Tores eine Welle die Steine der Straße anhob.

Der Wurm, der dort an ihnen vorbeizog, musste hundert Schritte lang sein. Die Steine knirschten unter der Beanspruchung. Staub rieselte von dem Dach über ihnen herab, während die ganze Umgebung erbebte.

‚Hat er uns entdeckt?‘

Anaya schüttelte den Kopf. Sie bedeutete ihm, seinen Blick nach rechts zu wenden. Dort, fast am Ende des Bereiches, den er einsehen konnte, lag der Fluss. Er konnte ihn zwar nicht direkt sehen, aber die Uferpromenade und einige verfallene Ladekräne. Außerdem befand sich dort eine breite Brücke, über die die Straße führte, an der das Haus stand, in dem sie sich gerade verbargen.

Mitten auf der Brücke, am höchsten Punkt versperrte ein gewaltiger, steinerner Koloss den Weg auf die andere Seite. Die Statue war in einen archaischen Panzer gehüllt und stützte sich auf eine Axt, die gute zwei Stockwerke hoch war.

Sie war nicht aus einem Block gefertigt, sondern war offensichtlich gemauert worden. Anaya hatte einen scharfen Blick bewiesen, denn ihr war aufgefallen, dass zwar die Brücke, wie auch der Rest der Stadt von der Überschwemmung heimgesucht worden war, doch das galt offensichtlich nicht für die Statue. Sie wirkte beinahe neu.

„Was nun?“

„Versuchen wir eine andere Brücke.“

Der Vorsatz war gut, doch wie sie bald feststellen mussten, stand auf jedem Übergang ein ebensolcher Wächter. Nirgends bot sich ihnen eine Möglichkeit.

Sie ließen sich wieder in der alten Färberei nieder, um zu beraten.

„Über die Brücken kommen wir niemals. Die Wächter mögen uns nicht riechen können, aber sie sind mit Sicherheit nicht blind.“

„Außerdem ist zu wenig Platz, um sich vorbei zu schleichen“, fügte Kmarr hinzu.

„Lass uns näher an den Fluss gehen, vielleicht finden wir irgendwo ein Boot.“

Auf getrennten Wegen

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